Brennpunkt 2 Bieler Tagblatt Donnerstag, 03.09.2015 Brennpunkt Bieler Tagblatt Donnerstag, 03.09.2015 Die bewegte Geschichte des «Chessu» «Chessu» gehen. Aus irgendeinem Grund will man dort keinen provisorischen Weg erstellen. Bei den Besucherzahlen haben wir einen Rückgang von fünf bis sechs Prozent. Was wird beim Umbau neu? Wir versuchen, den «Chessu» für die Zukunft fit zu machen. Die Villa Fantaisie, die wir immer als Sitzungsraum und zum Kochen benutzen konnten, wird abgerissen. Daher brauchen wir einen Ersatzraum. Es wird auch einen kleinen Kulturraum geben, in dem parallel eine Veranstaltung laufen kann. Besteht nicht die Gefahr, dass der «Chessu» durch den Umbau seinen Charme verliert? Diese Angst hat es immer gegeben. Wir können jetzt sagen, früher war alles besser. Aber der Inhalt wird gefüllt von den Menschen. Uns wurde gesagt: Geht ins Bözingenfeld oder bleibt. Die Vollversammlung hat beschlossen, hierzubleiben. Diese Mauern, dieses Dach – das kannst du nicht einfach in einer Fabrikhalle aufbauen. Dann wäre der «Chessu»-Geist weg. Welche Herausforderungen kommen sonst noch auf den «Chessu» zu? Die Anforderung an alle, die hier etwas machen, wird höher. Alle finden, ein Freiraum ist frei, da darf niemand etwas sagen, aber jeder erwartet, dass alles funktioniert. Ein Freiraum ohne Grundregelung funktioniert jedoch nicht. Es braucht einen Konsens, den man zusammen abmacht. Wir versuchen hier nach wie vor, Demokratie zu leben. Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die Zukunft des «Chessu»? Die Akzeptanz wurde grösser. Ich hoffe, dass es so weitergeht und der «Chessu»-Geist nicht verloren geht. Es gab immer Leute, die uns nicht gemocht haben. Aber grundsätzlich denke ich, dass sich die Verankerung vertieft hat. Autonomes Jugendzentrum Der «Chessu» feiert diese Woche sein 40-JahrJubiläum. Die Geschichte des kulturellen Zentrums in Biel zeugt von hartnäckigen Kämpfen und starkem Zusammenhalt. hatte das Umfeld des AJZ viel Engagement gezeigt. Eine Kulturwoche lockte Leute in den «Chessu», die nie zuvor unter der Kuppel waren. Geboten wurde eine bunte Mischung durch alle Musikstile: von der Ländlergruppe über Rock bis zum Klassikkonzert. Von 1994 bis 1996 erfolgt die langersehnte und umfassende Sanierung – bekannt als «Chessu»-Reno. Neben der Erneuerung des Bodens und der Stromleitungen gehört auch der bis heute vorhandene ringförmige Anbau mit Backstagebereich, Küche und Garderobe dazu. Carmen Stalder Diese Woche wird im «Chessu» Geburtstag gefeiert. Seit 40 Jahren belebt das Autonome Jugendzentrum (AJZ) die stählerne Kuppel auf dem Gaswerkareal. Mittlerweile ist der «Chessu» das älteste AJZ der Schweiz – vergleichbare Projekte sind längst verschwunden. Rückblick ins Jahr 1968. In Zürich gehen tausende Jugendliche auf die Strasse, sie fordern Frieden in Vietnam, einen radikalen Umbau der Gesellschaft – und ein AJZ. Diese Forderung schwappt bald auf die Bieler Jugend über. Auch hier verlangt man nun nach einem autonomen Raum für die Jugend. Auf dem stillgelegten Gaswerkareal soll einer der beiden Gaskessel als AJZ dienen. Mehrere Bieler SP-Stadträte initiieren eine Motion dafür, der Gemeinderat signalisiert der Idee gegenüber Offenheit. Das «Bieler Tagblatt» und das «Journal du Jura» lancieren eine Geldsammlung zur Unterstützung des Projekts und können dem Gemeinderat 12 000 Franken zur Verfügung stellen. Gelebte Vielfalt Was nach 40 Jahren «Chessu»-Geschichte gleich geblieben ist, ist die grosse Bandbreite an Kulturveranstaltungen. Das AJZ ist offen für Punks und Rocker, Anhänger des Reggae und Hip-Hop, es finden Goaund Elektropartys statt. Auch einige bekannte Grössen standen auf der Bühne des «Chessu»: So bereits in den frühen Jahren Rumpelstilz (1976), Krokus (1977), Polo Hofer (1979), Dieter Meier (1979), Burning Spear (1981), Stefan Eicher (1983) oder sogar die Toten Hosen (1984). Jedes Jahr finden im «Chessu» bis zu 150 Veranstaltungen statt. Die Stadt unterstützt das AJZ mit jährlich 90 000 Franken. Bis vor den Subventionskürzungen 2014 waren es noch 125 000 Franken gewesen. Für den Unterhalt und die Nebenkosten ist das AJZ zuständig, die Stadt verlangt indes keine Miete. Lange Bauarbeiten In den folgenden Jahren ist Durchhaltevermögen gefragt. Es bilden sich verschiedene Aktionskomitees, bei der Presse melden sich entrüstete Leserbriefschreiber und es wird um den Mietvertrag gerungen. 1970 passiert dann endlich etwas: Der Gemeinderat bewilligt das Baugesuch und einen Beitrag von 60 000 Franken. Nun kann es mit dem Umbau des Gaskessels losgehen. Zu dieser Zeit ist der Kessel leer, der Untergrund aufgeraut und die Kuppel rostig. Es fehlen sowohl Wasser- als auch Stromanschlüsse. Es zeigt sich dann auch bald, dass die Arbeiten nicht in einigen Wochen abgeschlossen werden können. Alle Helfer arbeiten ehrenamtlich an Feierabenden und Wochenenden. Nach fünf Jahren Bauzeit wird der «Chessu» am 10. Mai 1975 mit einem Gitarrenfest eröffnet. Das AJZ wird zu einem Treffpunkt mit Konzerten, Theater, einem Kindertreff, einer Fotogruppe und vielem mehr. Minimale Ausstattung Der finanzielle Rahmen für Veranstaltungen ist damals klein, Eintritte kosten maximal fünf Franken. Die Musiker bringen ihre eigenen Anlagen und Beleuchtungen mit. Am Schluss des Abends erhalten sie sechzig Prozent des Eintrittsgeldes als Gage – auch bekannte Bands. Die Frage nach der rechtlichen Form und damit auch nach Verantwortlichen durchzieht die Geschichte des AJZ wie ein roter Faden. Für viele ist es unvorstellbar, eine Firma oder einen Verein zu gründen – man will sich nicht kontrollieren lassen. Trotzdem wird das AJZ 1978 nach langen und zähen Diskussionen zu einem Verein. Die Stadt wies zuvor daraufhin, dass ohne rechtliche Form an eine Zukunft nicht zu denken sei. Anfang der 80er-Jahre wird die Forderung nach zusätzlichen Räumen für das AJZ laut. Der «Chessu» eignet sich für Nächste «Chessu»-Reno steht an Seit den 80er-Jahren gibt es die traditionelle «Chessu»-Weihnachten (oben, Bild aus dem Jahr 1993). Das AJZ diente immer auch als Treffpunkt für die Bieler Jugendlichen. Hier eine undatierte Aufnahme aus den 70er-Jahren (unten). zvg/Olivier Menge (AJZ-Archiv) grosse Veranstaltungen, jedoch weniger für kleinere Treffen wie die «Chessu»Sitzungen. Das AJZ besetzt daraufhin im März 1981 die Fabrikliegenschaft Elfenau (heute Restaurant Ecluse). Stadtvertreter schlagen als Alternative die Villa Fantaisie direkt neben dem «Chessu» vor, was vom AJZ akzeptiert wird. Von da an gibt es in der Villa Ateliers, Übungsräume, kleinere Parties und kulturelle Veranstaltungen. Die Villa dient sogar als Übernachtungsort für die Bands, die im «Chessu» auftreten. Praktisch zur selben Zeit startet das Sleep-In als Tätigkeitsgruppe des AJZ seinen Betrieb. Weitere Projekte werden angerissen und ein wachsendes soziokulturelles Netzwerk um das autonome Jugendzentrum entsteht. Der Gaskessel entwickelt sich immer mehr zu einem be- lebten und kulturell breit ausgerichteten Veranstaltungsort. Totalsanierung nötig Nach den ersten zehn Jahren «Chessu»Betrieb werden erste bauliche Mängel sichtbar. Da gibt es beispielsweise keine Lüftung. Dies führt zu Kondenswasser, welches auf die Konzertbesucher hinunter tropft. Es folgen mehrere Notrenovationen, bis Ende der 80er-Jahre klar wird: Eine Totalsanierung ist nötig. In einer Volksabstimmung können die Bieler über den Kredit für die «Chessu»Renovation abstimmen. Im Vorfeld der Abstimmung melden sich viele Gegner emotional zu Wort, doch schlussendlich geht es für das AJZ glimpflich aus: 60,5 Prozent der Wähler stimmen für den Kredit. Um dieses Resultat zu erreichen, Anhänger des AJZ demonstrieren in den 90ern für die «Chessu»Renovation. zvg/AJZ-Archiv Zwanzig Jahre sind seit der umfassenden Renovation vergangen. Mit dem Bauprojekt Esplanade steht nun die nächste grosse Veränderung für den «Chessu» an. Die räumliche Erweiterung des «Chessu» sieht zum einen den Abriss des ringförmigen Anbaus vor. Es wäre zu teuer, die schlecht erhaltene Erweiterung zu sanieren. An deren Stelle soll ein eingeschossiger Neubau errichtet werden. Der neue Anbau bietet Platz für ein Foyer, ein geräumigeres Getränke- und Mobiliarlager sowie einen grösseren Backstagebereich. Ein zweigeschossiger Kubusanbau soll als Raumersatz für die Villa Fantaisie dienen. Darin befinden sich Sitzungsräume, eine neue Lüftungsanlage, ein Kultursaal sowie eine grössere WC-Anlage und eine Garderobe. Damit die Renovierungs- und Umbauarbeiten rund um den Gaskessel beginnen können, muss das AJZ jedoch noch rund 1,5 Millionen Franken auftreiben. Die Gaskessel-Vertreter haben deshalb einen umfassenden Fundraising-Plan erstellt (das BT berichtete). Letztes Wochenende fand ein Galadinner, zubereitet vom Bieler Koch Philippe Berthoud, statt. «Das Dinner war ein voller Erfolg», heisst es bei der Fundraising-Gruppe. Trotzdem fehlt noch viel Geld. Die Arbeiten werden wahrscheinlich erst 2017 beginnen. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Renato Maurer, Co-Autor des Buchs «Die Geschichte des AJZ Biel, Band 1». Die Bände 2 und 3 sind in Vorbereitung. 3 Manfred Höller aus Mett wacht seit 1999 als gute Seele über den «Chessu». Er ist verantwortlich für die Getränkelieferungen, das Reinigungsteam und alle Abwartsaufgaben. Der «Chessu»-Abwart Manfred Höller besuchte das AJZ bereits als Jugendlicher. Sein Lehrbetrieb sorgte sich damals, er werde dort «von den Roten infiltriert». Peter Samuel Jaggi «Früher war es wilder» Manfred Höller Der Leiter des technischen Dienstes kennt das AJZ in- und auswendig. Er spricht über verstopfte WCs, den halblegalen Touch und den «Chessu»-Geist. Interview: Carmen Stalder Manfred Höller, der «Chessu» feiert seinen 40. Geburtstag. Wird in ihm noch die Ideologie der Anfangsjahre gelebt? Manfred Höller: Dies steht und fällt mit den Beteiligten. Gesehen über diese wirklich lange Zeit würde ich sagen ja, definitiv. Welche Aspekte sind denn seit den Anfängen gleich geblieben? Dass grundsätzlich jeder mitreden kann. Die Sitzungen sind immer noch öffentlich. Für mich ist es wie ein Spielplatz. Damit er von allen genutzt werden kann, braucht es halt auch gewisse Regeln. Was hat sich verändert? Wir haben eine Heizung, eine Lüftung, eine funktionierende Toilette – das alles gab es dazumal nicht. Es gab keine Toilette? Früher gab es nur ein WC und das war meistens verstopft. Da musste man eben draussen irgendwo pinkeln gehen. Und weiter? Früher war es wilder. Für die Generation, die jetzt kommt, ist der «Chessu» immer noch anders. Das soll auch so bleiben, ein bisschen «gruftig», mit einem halblegalen Touch. In den 80er-Jahren hatte es hier Gärten, drüben waren Gleise, rundherum Baufirmen. Du wusstest, hier ist es anders, nicht so 08/15. Heute sind wir mittendrin. Da kommen halt auch Leute, die noch nie von einem AJZ gehört haben. Ausserdem braucht es heutzutage viel mehr Technik, viel mehr Licht. Ich finde nach wie vor, weniger würde auch reichen. Es setzt die Schwelle höher, etwas zu organisieren. Wie läuft die Organisation im «Chessu» ab? Einmal im Monat führt die «Chessu»-Gruppe die Datenvergabe durch. Die Veranstalter diskutieren die Vorschläge per Ausschlussverfahren zu Boden. Eine Zeit lang wollten viele Leute nur noch Techno- und Elektropartys machen. Damit nicht jeden Monat dasselbe läuft, begann man Regeln aufzustellen. Sonst hätten die anderen gar keinen Platz mehr gehabt. An der Benützerversammlung trifft sich die «Chessu»-Gruppe. Dort kann sie Geld sprechen und es werden Hausverbote diskutiert. Das Grossprojekt Esplanade prägte in den letzten Jahren die Diskussion um den «Chessu». Wie ist der aktuelle Stand? Wir sind umgeben von einer Baustelle. So wie es aussieht, wird es in den nächsten drei bis vier Jahren nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Es ist alles verzögert, nichts geht vorwärts, alle fluchen. Wir versuchen, den Ball möglichst flach zu halten und nicht auch noch draufzuhauen. Wir müssen alle lösungsorientiert zusammenarbeiten. Ist denn der Betrieb des «Chessu» durch die Baustelle eingeschränkt? Ja. Vom Parkhaus kann man nicht direkt zum Jubiläumsprogramm im Chessu • Der «Chessu» öffnet diese Woche seine Pforten für die kommende Saison. Während fünf Tagen wird das 40-jährige Bestehen des Gaskessels mit einem vielfältigen Programm gefeiert. Den Anfang machte gestern die «Chessu»-Zirkusschule Zircologic mit einem Tag der offenen Tür. • Der heutige Abend steht unter dem Motto «Back to the Future». Gestartet wird mit der Präsentation des Buchprojekts zur AJZ-Geschichte. Danach folgt eine Podiumsdiskussion zu Vergangenheit und Zukunft des «Chessu»: Welche ursprünglichen Träume haben sich verwirklicht? Was blieb erhalten, was hat sich verändert? Und wie geht es weiter? An der Afterparty werden dann ausschliesslich Songs von Bands gespielt, die in den letzten 40 Jahren im «Chessu» aufgetreten sind. Eintritt ab 19 Uhr, Kollekte. • Am Freitagabend steht «Blitz the Ambassador» aus New York auf der Bühne. Der aus Ghana stammende Rapper verschiebt die Grenzen des Hip-Hop, setzt auf Live-Produktionen und schafft es dazu, seinen wuchtigen Sound mit tiefgründigen Lyrics zu kombinieren. Das Resultat ist eine Mischung aus Rap, Funk, Soul, Jazz und Afrobeat. Eintritt ab 22 Uhr, 18 Franken. • Ein Tag später steht bereits das nächste Konzert an: Das Berner Hip-Hop-Kollektiv Chlyklass tritt im «Chessu» auf. Mit über 30 Veröffentlichungen und Konzerten auf nahezu allen Bühnen der Deutschschweiz ist die Gruppe seit mehr als einem Jahrzehnt ein fester Bestandteil der Schweizer Musikszene. Eintritt ab 22 Uhr, 20 Franken. • Zum gebührenden Abschluss des 40-jährigen Jubiläums gibt es am frühen Sonntagabend ein Apéro riche. Dazu präsentiert die Dichterschlacht Biel die mobile Lesebühne «Thun ist Nirgends». Das junge Spoken-Word-Sextett steht für gewaltige Text-Performances. Zum Ausklingen des Abends werden anschliessend im Chessu-Cinéma zwei Filme vorgeführt. Apéro ab 17 Uhr. cst Weitere Informationen zum Programm unter www.ajz.ch
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