Hetzkampagnen im Internet Der digitale Mob Die mittelalterlichen Rituale des An-den-Pranger-Stellens kehren in der Internet-Ära zurück. Ist der Mangel an Empathie in den sozialen Netzwerken auf die Unsichtbarkeit der Akteure zurückzuführen? Andrea Köhler / 03.8.2015, 05:30 Uhr In einem Youtube-Video erzählt Amanda Todd, wie sie via Internet schikaniert wurde. Vier Wochen später nimmt sich die Fünfzehnjährige das Leben. Warum sind die Menschen im Internet so gemein? Woher rührt diese Sucht, andere zu entblössen, zu demütigen und abzustrafen? Und wieso gucken so viele zu, wenn jemand coram publico seelisch – und in der Konsequenz nicht selten auch physisch – vernichtet wird? Sind die «Shamer», wie die Cyber-Bullies in dem Land heissen, in dem diese Unsitte wohl ihren puritanischen Ursprung hat, Opfer des Herdentriebs, sind sie von Komplexen gebeutelte Mitläufer mit dem Wunsch, sich überlegen zu fühlen? Und macht die Rechthaberei oder Bösartigkeit wirklich Spass? Puritanische Wurzeln Cybermobbing ist kein amerikanisches Phänomen, doch ist das «public shaming» in den USA ein signifikanter Bestandteil der medialen Öffentlichkeit. Angefangen bei der Tradition des Perp-Walk – der öffentlichen Zurschaustellung Verdächtiger –, über die keine Peinlichkeit scheuenden Reality-Shows bis zu den Zerknirschungs-Orgien drogengebeutelter Celebritys ist das Paradieren der Sünder ein beliebtes amerikanisches Ritual, das in den Social Media nicht nur einen Verstärker, sondern auch eine eigene Plattform gefunden hat. Doch während skandalgeplagte amerikanische Politiker das rührende Ritual von Reue und Vergebung telegen zelebrieren, gibt es beim Internet-Shaming kein Pardon. Und das nicht nur, weil der Anlass – peinliche Bilder, dumme Äusserungen – unendlich reproduzierbar ist. Wer einmal das Opfer eines Shitstorms gewesen ist, dessen Name ist auf «Google Search» auf immer damit liiert. Google ist der Multiplikator der Scham. Was ist es, das in uns lügt, mordet, stiehlt? Büchners berühmter Satz fällt einem ein, wenn man sich all die Verleumdungen, gestohlenen Bilder, den Missbrauch privater Informationen und dessen oft tödliche Konsequenzen vor Augen führt. Cybermobbing ist eine der führenden Selbstmord-Ursachen unter Jugendlichen. Einige von ihnen sind im öffentlichen Bewusstsein haften geblieben: Tyler Clementi , der 18-jährige Musikstudent, dessen intimes Treffen mit einem Kommilitonen per Webcam ausspioniert und live im Internet übertragen wurde; Audrie Pott, deren Vergewaltigungs-Fotos auf Facebook gepostet wurden; Phoebe Prince, die sich nach gnadenloser Schikane durch eine Gruppe Mitschüler im Schrank erhängte: blutjunge Menschen, die die digitale Demütigung nicht mehr ertrugen. Die 15-jährige Amanda Todd wurde durch das Youtube-Video, das sie vor ihrem Tod online stellte, zum traurigen Internet-Hit. Amanda hatte einem Fremden, mit dem sie in einem Chatroom geflirtet hatte, in einem Moment der Unbedachtheit ein Bild ihrer nackten Brüste geschickt, das er – nachdem sich das Mädchen der Erpressung zu weitergehenden «Performances» nicht hatte fügen wollen – auf eine Internet-Porno-Seite stellte und an ihre Facebook-Freunde weiterschickte. Frauen im Fadenkreuz Die Zerrbilder des «public shaming» sind die hässliche Kehrseite der besonders unter weiblichen Teenagern grassierenden Obsession, via Selfie ein möglichst perfektes Bild von sich selbst zu kreieren. Der naive Narzissmus der jungen Mädchen, die sich da im Internet, oft auch per Webcam, prostituieren – wenn man die hilflosen Versuche, nach dem Drehbuch sexueller Stereotype das Hemdchen zu lüpfen und mit dem Po zu wackeln, denn so nennen will –, speist sich nicht selten aus der Illusion, anhand solcher Selbstinszenierungen «entdeckt zu werden». Dass diese Form, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, meist mit Träumen von Sänger- und Model-Karrieren einhergeht, liegt nicht nur am Alter der Akteurinnen, sondern auch in der Natur des Mediums – wobei der Wunsch, sich aus der Masse hervorzuheben, kurioserweise die immergleichen Posen reproduziert. Frauen und Mädchen sind das beliebteste Ziel von Hetzkampagnen. Laut der Organisation Working to Halt Online Abuse kommen 72,5 Prozent der Klagen über Online-Belästigung von Frauen. In einem Experiment der University of Maryland, bei dem fiktive Adressen in Chatrooms installiert wurden, erhielten die weiblichen Namen rund 100 sexuell explizite Beschimpfungen oder Droh-Mails pro Tag, die männlichen dagegen nur 3,7. Die Sexualisierung der Angriffe, sei es in Form von Slut-Shaming oder Vergewaltigungs-Drohungen, unterstreicht die misogyne Schlagseite des Internet-Shamings – was nicht heisst, dass diese Form des Cyber-Bullyings nicht auch von Frauen angewandt wird. Versuche, den Online-Missbrauch zu regulieren oder strafrechtlich zu verfolgen, sind bis jetzt nicht von grossem Erfolg gekrönt; Twitter hat erst im Jahr 2013 einen «Report Abuse»-Button eingeführt. Erschwerend hinzu kommt, dass das Online-Shaming den Betroffenen praktisch in jeden Winkel folgt. Das Smartphone liegt bei den meisten gleich neben dem Kopfkissen. Dass ein unbedachter Moment auch die Karriere gestandener Wissenschafter vernichten kann, hat unlängst das Beispiel des Nobelpreisträgers Tim Hunt gezeigt, dessen auf einer Tagung des Weltkongresses der Wissenschaftsjournalisten geäusserter Scherz über Frauen im Labor ihn um seine sämtlichen Ämter brachte. Hunts dummer Scherz, dass Frauen im Labor ein Problem darstellen – «weil man sich in sie verliebt, weil sie sich in einen verlieben, und wenn man sie kritisiert, dann weinen sie» –, hatte einen Shitstorm von wuchtigen Ausmassen ausgelöst. Ein entscheidender Faktor in solchen Empörungswellen ist wohl der Umstand, dass wütende Reaktionen auf politisch nicht korrekte Äusserungen als moralisch gerechtfertigt empfunden werden. «Mit dem Mittel der Beschämung bedienten wir uns einer mächtigen Waffe», schreibt der bekehrte Internet-Bully und Journalist Jon Ronson in seinem kürzlich erschienenen Buch «So You've Been Publicly Shamed», in dem er Opfer von Hetzkampagnen vorstellt. «Die zum Schweigen Verurteilten bekamen eine Stimme.» Ursprünglich Teil der Meute, die im Namen einer imaginären «sozialen Gerechtigkeit» Online-Bashing betreibt, wechselte Ronson die Seite, nachdem er selber Gegenstand eines Mobbings geworden war. Offenbar halten viele ihre Gemeinheiten so lange für harm- oder wirkungslos, bis sie selber Opfer der Internet-Meute sind. Nun mag es richtig sein, dass die Social Media einen demokratischen Raum gewähren, in dem Minoritäten und Unterprivilegierte ein Forum finden. Immer mehr aber erweisen sie sich als eine Spielwiese, auf der die zu kurz Gekommenen im Schutze der Anonymität ihren Neid- und Inferioritätsgefühlen freien Lauf lassen. Oft genug verbindet sich der Impuls, jemanden für eine dumme Bemerkung abzustrafen, dann mit dem Schwung, den die schiere Menge an Gleichgesinnten erzeugt – auch wenn die geifernde Häme in direktem Widerspruch zur moralischen Selbstgerechtigkeit der Absender steht. De facto gleicht ein Shitstorm dem mittelalterlichen Pranger. Gleichwohl werden die Berufung auf Demokratie und die Angst vor «Zensur» immer dann bemüht, wenn der Ruf nach demokratischen Umgangsformen, sprich: zivilen Regelungen laut wird. Der Gyges-Effekt Was ist es, das in uns lügt, mordet, stiehlt? Ist es der sogenannte Gyges-Effekt, benannt nach einem Hirten aus Platons «Staat», der mithilfe eines Ringes unsichtbar werden konnte und dies dazu nutzte, das Bett der Königin zu erobern, den König zu morden und den Thron für sich selber zu reklamieren? Im Schutz der Unsichtbarkeit, so die Quintessenz dieser Passage, kann auch der moralisch Integre zur Bestie werden, denn Unsichtbarkeit entfessele das Schlimmste in unserer Spezies. Wie Stephen Marche in seinem Essay «The Epidemic of Facelessness» in der «New York Times» ausführt, ist die Unsichtbarkeit im Netz auch der Grund für den eklatanten Mangel an Empathie. Denn das Gesicht ist der Schlüssel der Intersubjektivität – sprich: der Fähigkeit, den Schmerz des Gegenübers als den eigenen zu erinnern. Laut dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas zeigt das Antlitz des Anderen die Substanz der Fremdheit, aus der uns die ganze Menschheit anblickt. «La face, le visage, est le fait, qu'une réalité m'est opposée.» Die Begegnung mit dem Gesicht des anderen ist somit die Wurzel des Diskurses und – darin treffen sich französische Moralphilosophie und zeitgenössische Neurobiologie – der Ursprung ethischer Verhaltensweisen. Gesichtslosigkeit Durch Imitation und Mimikry – genuine Gesichts-Reflexe, die durch neuronale Prozesse Empathie erzeugen – sind wir in der Lage, nachzuvollziehen, was andere Menschen fühlen. Die Gesichtslosigkeit im Internet ist also nicht nur ein Versteck, aus dem heraus Brutalität scheinbar gefahrlos ausagiert werden kann, sie beraubt uns auch in hirnphysiologischer Hinsicht der Grundlage der Empathie. Die kommunikative Gesichtslosigkeit im Internet – ein Phänomen, welches durch den Einsatz von Emoticons kaum wettgemacht wird – verberge die Menschlichkeit, schreibt Stephen Marche, «und zwar diejenige der Opfer ebenso wie die der Monster». Zum Thema ETH-Studie zur Gewalterfahrung Jugendlicher: Jeder Zweite leidet unter Cybermobbing
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