Die Mutter-Tochter-Beziehung. Eine Zusammenfassung meines

Workshop über Mütter–Töchter–Beziehungen auf der 2. Internationalen Tagung zur mehrgenerationalen Psychotraumatologie 2014:
Mein Beitrag auf der Tagung gliedert sich in 2 Teile:
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Einer Einführung, bestehend aus meinen theoretischen Überlegungen zur MutterTochter-Beziehung. Diese beziehen sich auf den Vortrag über „Gesunde Beziehungen“, mit dem Franz Ruppert die Tagung eröffnete.
Einer praktischen Arbeit mit dem „Aufstellen mit dem Anliegen“. Ich habe den
Aufstellungsprozess zusammenfassend und nicht wörtlich wiedergegeben.
Einführung
1. Was erwartet Sie in den nächsten zwei Stunden?
Zunächst einmal möchte ich Ihnen einen kurzen Einblick in meine Überlegungen zu
diesem Thema ‚Mütter und Töchter‘ geben:
Warum habe ich mich gerade für diese Beziehung entschieden? Was ist das Besondere von Mütter-Töchter-Beziehungen? Wie können gesunde Beziehungen zwischen
beiden gelingen?
In diesem Workshop kann ich Ihnen „nur“ Impulse und Anregungen geben, denn hinter diesem Thema stehen grundlegende komplexe Theoriekonzepte wie die ‚Mehrgenerationale Psychotraumatologie‘ oder das ‚Trauma der Liebe‘, in die uns Franz
Ruppert heute Nachmittag einführte.
Danach gibt es die Möglichkeit meine theoretischen Überlegungen an der Praxis zu
erleben: Was zeigt sich in einer „Aufstellung mit dem Anliegen“ über eine MutterTochter-Beziehung?
Es gibt die Möglichkeit für eine Mutter oder Tochter ihr Anliegen aufzustellen. Sie
können ja schon mal überlegen, ob Sie ein Anliegen haben…
Abschließen möchte ich den Workshop gerne mit Ihren Fragen, Anmerkungen… also
mit einem gemeinsamen Austausch.
Da es sich hierbei um einen Workshop und keinen Vortrag handelt, möchte ich Sie
recht herzlich einladen, bei Fragen der Anmerkungen bitte gleich Ihre Hand zu heben. Dadurch weiß ich wo Sie sich gerade befinden und laufe nicht Gefahr an Ihnen
vorbei zu sprechen.
Das gilt allerdings nicht für die Aufstellung. Da bitte ich Sie, sich ihre Fragen aufzuheben.
1. Wer ist Mutter und wer ist Tochter?
Wer von Ihnen ist Mutter?
Wer von Ihnen ist denn Tochter?
Wer von Ihnen ist Mutter und Tochter?
Meine letzte Frage ist durchaus bemerkenswert: Denn nur Mutter allein gibt es nicht!
Jede Mutter ist zunächst einmal Tochter.
Und: Wann sind sie Tochter und wann Mutter? Ist beides voneinander zu trennen?
Ich habe es in dieser Hinsicht etwas einfacher – ich bin nur eines, nämlich Tochter.
2. Warum genau dieses Thema für unseren Kongress?
Das Thema dieser 2.Tagung sind Beziehungen, und zwar „Gesunde Beziehungen –
wie das Aufstellen des Anliegens dabei hilft“.
Wenn Sie das Programmheft durchgeblättert haben, ist Ihnen sicherlich aufgefallen,
wie viele unterschiedlichen Beziehungen es gibt.
Und so stellte sich mir die Frage: Mit welcher Beziehung möchte ich mich in meinem
Workshop auseinandersetzen?
Und daran anschließend: Zu welcher Beziehung kann ich überhaupt etwas sagen?
Nun, da ist mir die Mutter-Tochter-Beziehung eingefallen. Warum?
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Ich bin eine Tochter mit weitreichenden Erfahrungen in der Auseinandersetzung
mit meiner Mutter und meinem Tochtersein. Die Beziehung zu meiner Mutter in
meiner Kindheit, in meiner Jugendzeit bis heute beschäftigte mich in vielen Therapiestunden und Aufstellungen – und sie tut es weiterhin.
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Zudem arbeite ich immer wieder zeitgleich mit Müttern und ihren Töchter in Aufstellungsseminaren und Einzelsitzungen. Das bedeutet: Ich begleite zeitgleich
Mütter und Töchter in ihren Prozessen.
Ich bin mir bewusst, dass dies für viele Therapeuten und Therapeutinnen ein ‚no
go‘ ist. Und doch entschied und entscheide ich mich bewusst dafür, weil ich so die
Perspektiven von Mutter und Tochter erlebe. Das ist für mich herausfordernd und
anstrengend, mitunter konfliktreich, manchmal sogar unmöglich, dafür aber realitätsnah!
Hinzu kommen noch theoretische Gründe für dieses Thema:
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Die Mutter-Kind-Beziehung ist unsere erste Beziehung überhaupt. Damit ist unser
Vorbild für Beziehungen:
Wie sind Beziehungen für mich?
Wie funktionieren sie?
Kann ich sie gestalten? Und wenn ja, wie?
Je nachdem wie unsere Erfahrungen mit der Mutter waren, werden unsere Antworten ganz unterschiedlich sein.
Was ist aber darüber hinaus an der Mutter-Tochter-Beziehung besonders?
Wäre nicht ein Mutter-Kind-Workshop ausreichend? Dann hätten sich auch die Männer angesprochen gefühlt…
Warum bin ich der Meinung, dass es einen eigenen Workshop für diese Beziehung
braucht?
Das ist die Frage, auf die mein Workshop Antworten geben möchte.
3. Was ist besonders an der Mutter-Tochter-Beziehung?
Das Besondere daran ist, dass Mutter und Tochter das gleiche Geschlecht haben.
Sie haben beide einen Körper mit den gleichen Geschlechtsmerkmalen.
Betrachten wir die körperliche Ebene, so entwickelt sich der Körper einer Tochter
genauso wie der Körper der Mutter:
So wie die/der Mutter,
wird auch die Tochter ihre erste Menstruation bekommen.
werden auch der Tochter Brüste wachsen.
wird auch die Tochter gleiche Sexualität haben können.
wird auch die Tochter schwanger werden können.
wird auch die Tochter ein Kind gebären können.
wird auch die Tochter ein Kind stillen können.
wird auch der Tochter in einem späteren Alter die Menstruation ausbleiben.
Vom Blickwinkel des Körpers gleichen sich die Vorgänge bei Mutter und Kind.
Warum aber ist das wichtig? Es ist für den Prozess der Autonomieentwicklung bedeutsam.
Ein geglückter Autonomieprozess sieht schematisch betrachtet folgendermaßen aus:
Tochter
Ich
Zeugung
Tochter im Körper der
Mutter
Wir
Ich + Du
Du + Ich
Schwangerschaft
Geburt
Mutter und Tochter
Ich + Du
Du + Ich
Kindheit
Jugendzeit
Ich
Mutter
Ich
Erwachsen
Tochter
Am Ende dieses Prozesses stehen sich zwei Ich gegenüber, die miteinander in Beziehung sind. Sie haben jeweils eigene Erfahrungen und Erlebnisse, eigene Wahrnehmungen, eigene Ansichten und eigene Bedürfnisse. Manchmal gleichen sie sich
und manchmal sind sie auch verschieden. Nach einem geglückten Autonomieprozess handeln, fühlen und denken Mutter und Tochter eigenständig und sind doch in
Beziehung miteinander.
Es gibt bereits im Bauch der Mutter ein Ich des Kindes. Allerdings muss es sich noch
entwickeln – sich formen und stärken. Daher überwiegt am Anfang das Ich der Mutter, ihre Lebenswelt: So wie die Mutter die Welt wahrnimmt, so nimmt sie auch das
Kind wahr. Erst allmählich kann es seine eigenen Wahrnehmungen machen und seine Vorstellungen bilden und damit die Weltsicht der Mutter überprüfen.
Besonders prägend ist die Mutter wie schon angedeutet bei unseren Vorstellungen
über Liebe und Beziehung, überhaupt über Kontakte zu Menschen.
Was bedeutet das?
Wir sind zunächst immer auf unsere Erfahrungen mit der Welt, mit unserer Mutter
bezogen. Sie sind wie eine ‚Lebensgebrauchsanweisung‘ für uns:
„So wie ich es mit Mama erlebe, so mache ich es auch!“ Das ist bekannt und gewohnt, und dadurch sicher.
Und selbst wenn wir das Gegenteil dessen machen, was Mama gemacht hat – der
Ausgangspunkt sind immer unsere Erfahrungen mit ihr. Denn alles anders machen
zu wollen, braucht ein genaues Wissen darüber, was die Mutter wie gemacht hat.
In einer Supervisionsstunde erzählt mir Eva von ihrer Mutter. Diese starb bei einem
Verkehrsunfall, da war Eva 17 Jahre alt. Bis dahin hatte sie ein normales Verhältnis
zu ihrer Mutter – kein besonders tolles, aber auch kein schreckliches – nein, ein ganz
normales Verhältnis. Es dauerte ungefähr zwei Jahre bis Eva den plötzlichen Tod
ihrer Mutter überwunden hatte. Seitdem weiß sie immer genau, was ihre Mutter in
kniffligen Situationen tun würde, wie sie diese einschätzen oder wie sie darüber urteilen würde. Manchmal folge sie dem und manchmal auch nicht. „Ich bin ja nicht meine
Mutter!“, meint Eva.
Das gleiche Geschlecht, den gleichen Körper wie die Mutter zu haben, erschwert den
Töchtern einen derartigen Autonomieprozess. Denn der rein körperliche sichtbare
Unterschied fehlt.
Darüber hinaus wird der Prozess noch um ein vielfaches schwieriger, wenn die Erfahrungen der Mütter extrem belastend waren; wenn die Mütter psychisch, körperlich
und geistig überfordert waren; wenn es sich also um Traumaerfahrungen handelt.
Denn dann erleiden die Kinder ein Trauma – ein ‚Frühes Trauma‘ und/oder eben ein
‚Trauma der Liebe‘.
4. Aber der Körper ist nicht derselbe Körper – oder vielleicht doch?!
Der Ausgangspunkt einer traumatisierenden Mutter-Tochter-Beziehung – also des
Traumas der Liebe – liegt in unbewältigten Traumaerfahrungen der Mutter.
Denn diese Erfahrungen sind nicht unserem Bewusstsein zugänglich. Sie sind abgespalten.
Sie sind aber nicht weg – und das ist wichtig: Selbst wenn wir wissentlich keinerlei
Erinnerungen haben, noch nicht einmal Ahnungen, sind diese Erfahrungen nicht gelöscht. Sie wirken außerhalb unseres Bewusstseins und beeinflussen unseren Körper, unsere Gefühle und auch unsere Gedanken – aber ohne, dass wir bewusst etwas davon bemerken.
Irene (19) kommt zu einem Aufstellungsseminar zusammen mit ihrer Mutter: Ihr Anliegen ist zu verstehen, warum sie grundsätzlich und immer schon Angst vor dem
Leben hat. Im Laufe der Aufstellung zeigt sich deutlich, dass die Mutter während der
Schwangerschaft fürchterliche Panikattacken hat. Mehrfach glaubt sie, wegen der
Panik sogar ihr Kind zu verlieren. Sie hält diese Angst nicht mehr aus. Die Stellvertreterin für die Mutter meint, dass es nach der Geburt noch schlimmer werden würde mit
der Angst. Sie könne sich sogar vorstellen, dass sie lieber tot sei, als diese Angst,
das Kind zu verlieren, dauernd spüren zu müssen.
Irene – es ist ihre erste Aufstellung – kann das fast nicht mehr aushalten und beginnt
zu weinen. Nach einigen Minuten wird sie schließlich sehr wütend und schreit, dass
das alles nicht stimme, dass das ein kompletter Blödsinn sei. Daraufhin steht die anwesende Mutter auf und sagte: „Doch es stimmt. Es war genauso. Ich konnte mit der
Angst um Dich nicht mehr leben und so bin ich mit Dir nach der Krankenhausentlassung zur S-Bahn gegangen. Ich wollte mich umbringen, damit ich diese Angst um
Dich nicht mehr fühlen muss. Und die Angst wird ja immer mehr, spätestens wenn
Du einmal schwanger bist… Oh, mein Gott, daran wage ich noch gar nicht zu denken.“
Auf meine Frage hin, was sie als Kind erlebt hat, berichtet die Mutter: „Meine Mutter
ist bei meiner Mutter gestorben. Ich wäre beinahe auch gestorben, aber mich haben
die Ärzte retten können, meine Mutter leider nicht.“
Für Irene sind alle diese Informationen gänzlich neu. Sie wusste weder, dass ihre
Mutter bei der Geburt in Lebensgefahr war, noch, dass deren Mutter dabei gestorben
war, noch, dass sich ihre eigene Mutter mit ihr als Baby vor eine S-Bahn werfen wollte. Irenes Mutter reinszenierte ihre eigene Todesgefahr bei der Geburt unmittelbar
nach der Geburt ihrer Tochter – Mutter und ihre Tochter sind in akuter Todesgefahr.
Wie kann das sein?
Durch Schwangerschaft und Geburt wird der Schutzmechanismus der Spaltung außer Kraft gesetzt. Schwangerschaft und Geburt sind hoch emotionale Erlebnisse, die
einhergehen mit hormonellen Umstellungen, so dass es offenbar nicht mehr möglich
ist, sich vor Gefühle zu schützen: Sie zu vermeiden, zu verdrängen oder abzuspalten.
Das bedeutet: Die Frauen werden von ihren Gefühlen überschwemmt. Und das nicht
nur von den gegenwärtigen ‚normalen‘ Gefühlen – schwanger zu sein, ein Kind zu
gebären – sondern besonders von all ihren unbewältigten Traumagefühlen.
In dieser Gefühlsflut verwechselt sich eine Mutter mit ihrer ungeborenen oder geborenen Tochter. Sie erwartet, dass das, was ihr widerfahren ist, auch ihrem Kind passiert. Der Körper von Mutter und Tochter ist nicht nur der gleiche, sondern im Empfinden der Mutter derselbe Körper – ihr Körper!
Wenn eine Frau schwanger wird – also Mutter wird – dann begegnet sie unweigerlich
ihrem Tochtersein. Sie wird mit ihren Erfahrungen als Tochter konfrontiert und damit
auch mit ihren Erfahrungen, die sie mit ihrer Mutter gemacht hat – das, was Mutter
für sie bedeutet.
Ist das Kind ein Junge, so gibt es immer wieder Momente, in denen sich das Bewusstsein einschalten kann und erkennen kann: Das bin nicht ich!
Schon allein durch die deutlich sichtbaren körperlichen Unterschiede. Meiner Erfahrung nach werden Söhne eher mit etwaigen männlichen Tätern im Leben der Mutter
verwechselt.
Für Töchter ist es so sehr schwierig, eine eigenständige Identität als Frau zu finden –
autonom zu werden: Sie befinden sich qua Geschlecht im ‚Lebensfilm‘ ihrer Mütter.
Hinzukommt noch, dass die Mütter immer wieder das, was sie erlitten haben, ihren
Kindern zufügen. Sie schlüpfen in das Gewand ihrer eigenen Mütter: Die Mutter von
Irene bringt sich und die neugeborene Irene in akute Lebensgefahr.
5. Wie kann die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern gesunden?
Die naheliegende Antwort ist: Dann, wenn beide eine Therapie machen, vielleicht
mit dem ‚Aufstellen des Anliegens‘.
Aber dann wird es manchmal erst richtig schwierig:
Eines der häufigsten Anliegen in meiner Praxis ist die Beziehung zur Tochter oder
zur Mutter zu klären, damit diese besser wird; damit ein gesunder Kontakt möglich
wird. Nicht selten arbeiten dann beide an diesem Anliegen.
Miriam kommt immer wieder zu Aufstellungsseminaren und in Einzelstunden mit dem
Anliegen, ihre traumatische Kindheit zu bearbeiten. Sie will nicht mehr alles an ihre
einzige Tochter Julia (18) weitergeben. Sie möchte so vielleicht doch noch eine gute
Mutter werden. Ihre Beziehung zu Julia soll nicht so werden, wie die zu ihrer eigenen
Mutter; nicht so sprachlos, nicht so kalt und nicht so verletzend.
Im Laufe ihres therapeutischen Prozesses gelingt es Miriam zusehends zu realisieren, wie viel Gewalt sie als Kind erlitt. Je mehr sie sich an die schlimmen Schläge
ihrer Mutter erinnert, desto mehr schildert Miriam was sie ihrer Tochter Julia alles
angetan hat und bis heute antut. Sie berichtet immer wieder, wie viele von Julias
Symptomen eigentlich ihre eigenen sind. Diese könne sie bis heute nicht annehmen
und deswegen müsse Julia so viel leiden. Außerdem erzählt sie öfter unter verzweifeltem Weinen, dass sie einmal völlig die Kontrolle verloren habe – da war Julia noch
keine 4 Jahre alt. Wie im Rausch habe sie das kleine Kind „windelweich“ geschlagen.
Warum, wisse sie gar nicht mehr.
Miriam wird deswegen von schlimmen Schuldgefühlen geplagt. Diese nehmen in
Miriams Schilderungen sehr viel mehr Platz ein, als die eigenen Gewalterfahrungen.
Ich erlebe immer wieder ähnliche therapeutische Prozesse von Müttern:
Schritt für Schritt beginnen sie das Leid ihrer Kindheit zu erfassen – ihr ‚Trauma der
Liebe‘ und die daraus resultierenden Traumatisierungen, wie beispielsweise sexuelle
Gewalt, körperlichen Misshandlungen, emotionale Vernachlässigung, Verwahrlosung. Doch dann verschiebt sich der Fokus der Aufmerksamkeit von den eigenen
schrecklichen Erlebnissen hin zu ihren Töchtern: Die Mütter beginnen dann zu erkennen, was sie ihren Kindern angetan haben.
Wie sehr sie durch ihre Traumatisierungen in ihrer Liebesfähigkeit beschränkt sind.
Dieser Erkenntnisprozess ist sehr schmerzhaft, insbesondere – wie mir scheint – die
Tatsache keine „liebevolle gute Mutter“ (gewesen) zu sein. Es sind die eigenen Erfahrungen mit der Mutter, derentwegen sie nicht nur „Mutter“ sein möchten, sondern
eine bessere, liebevollere – eben eine „gute Mutter“ sein möchten.
Die Mütter werden dann oft von Schuldgefühlen geplagt: Ich bin eine „schlechte Mutter“!
Miriam möchte, dass Julia auch zu mir in Einzelstunden kommt. Julia solle all das,
was sie, die Mutter, ihr angetan habe, frühzeitig bearbeiten.
Julia selber leidet tatsächlich unter einer Vielzahl von Symptomen. Aufgrund derer
meldet sie sich von sich aus für eine Einzelstunde an. Es zeigt sich deutlich, dass
ihre verschiedenen körperlichen Symptome mit ihrer Mutter zu tun haben – mit dem,
was sie als Kind erlebt hatte und wie als Mutter war.
Gegen Ende der Stunde meint Julia, dass sie sich das gar nicht vorstellen könne,
dass ihre Mutter nicht die „beste Mutter“ gewesen sei. Aber das muss wohl so gewe-
sen sein. Eigentlich könne sie das genau sehen und auch fühlen, aber es falle ihr
sehr schwer, es zu akzeptieren.
Ein paar Wochen später beschreibt Julia in einer Email ein Gespräch mit ihrer Mutter
wenige Tage nach der Einzelstunde:
In diesem Gespräch erzählt Miriam Julia „schonungslos“, wie sie Julia als kleines
Mädchen verprügelte. Daraufhin beginnt Miriam, verzweifelt zu weinen und zu
schluchzen: Sie könne es nicht mehr rückgängig machen, es täte ihr so leid, aber sie
stünde zu dem, was sie da gemacht hatte, es gäbe da auch nichts zu verzeihen, ...
Für Julia war das ganz schlimm, ihre Mutter mit diesen Schuldgefühlen zu sehen:
Sie konnte nicht anders, als ihrer Mutter zu versichern, dass das mit den Schlägen
gar nicht schlimm gewesen wäre, sie hätte es schon vergessen. Sie sei doch eine
gute Mutter, sei die beste Mutter. Das verneinte jedoch die Mutter vehement. So beteuerten sie sich gegenseitig, eine gute oder eine schlechte Mutter zu sein.
In einem nachfolgenden Gespräch mit dem Ehemann von Miriam bzw. Vater von Julia berichtet mir dieser, wie hilflos und ohnmächtig er sich in dieser Auseinandersetzung von Mutter und Tochter fühlte, wie wenig hilfreich dieses Gespräch gewesen
sei.
Wie Julia in meinem Fallbeispiel fühlen sich viele Töchter ihrerseits oft schuldig,
wenn sie ihre Mütter in deren Schuldgefühlen versinken sehen. Das ist oft nicht auszuhalten: Daher packen sie das eigene Leid weg und beschäftigen sich mit dem
momentanen Leiden ihrer Mütter. „Nein, nein, du bist keine schlechte Mutter! Du bist
die beste Mutter!“ Es ist das gleiche Verschieben der Aufmerksamkeit, wie bei den
Müttern: Der Blick ist nicht mehr auf sich selbst gerichtet, sondern auf die Mutter
(bzw. auf die Töchter) und deren Befindlichkeiten.
Warum ist das so?
Mit diesen beidseitigen Schuldgefühlen können sich Mütter und Töchter von ihrem
eigenen Leid ablenken und schützen:
Indem sich die Mütter mit dem Leiden der Töchter beschäftigen, sind sie zwar tatsächlich mit Leiden beschäftigt – aber nicht mit dem eigenen immer noch nicht auszuhaltenden Traumagefühlen. Und: Sie haben dieses Leiden der Töchter verursacht,
sind also daran „schuldig“. Ihren Töchtern würde es gut gehen, hätten sie sich nur
anders verhalten.
Das bedeutet: Schuldig zu sein, Schuld zu haben ist eine Möglichkeit mit den
schlimmen Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühlen der Traumasituationen leben zu
können. Schuld impliziert immer, dass es anders hätte sein können, wenn ich nur
anders gehandelt hätte…
Hinzu kommt meiner Erfahrung nach, dass die Mütter für ihr Leid keine Berechtigung
mehr sehen.
Im
•
von Ohnmacht und Hilflosigkeit
Die Töchter schonen, verleugnen, vertuschen, bagatellisieren ihr eigenes Leid,
um sich und der Mutter zu ‚beweisen‘ Du bist ja keine schlechte Mama, sondern
eine gute Mama! So schlimm war es ja nicht!
Hinzukommt noch, dass es mitunter sehr verwirrend ist, wenn die Mütter ihre
Traumaerfahrungen bearbeiten und dadurch tatsächlich liebesfähiger werden.
Denn die Mutter dieser Gegenwart ist eine andere Mutter als die Mutter der Vergangenheit:
Jetzt ist sie verständnisvoll, liebevoll, einsichtig, …!
Es ist sehr schwierig für die Töchter mit den eigenen kindlichen Anteilen nicht durcheinanderzukommen:
Braucht es dann überhaupt noch ein Wühlen in der Vergangenheit?! Jetzt ist doch eh
alles gut! Jetzt ist die Mama ja so, wie ich mir gewünscht habe!
Aber für die traumatisierten Anteile existiert nur die Mutter zum Zeitpunkt der Traumatisierung.
Wie kann also eine Beziehung zwischen Müttern und Töchtern gesunden?
Dann, wenn es sein kann und darf, wie es tatsächlich gewesen ist.
So klar und genau, wie möglich; und möglichst ohne Schuldgefühle.
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, keine Schuldgefühle zu haben, wenn eine Mutter
ihrem Kind etwas angetan hat. Ich bin keine Mutter.
Was ich aber weiß, ist wie hilfreich das wäre. Denn: Ich weiß, wie wenig hilfreich, wie
lähmend die Schuldgefühle meiner Mutter für mich als Tochter sein können.
Erst dann kann tatsächlich in der Gegenwart eventuell neue Beziehung entstehen.
Praktische Arbeit mit dem „Aufstellen des Anliegens“
Bärbel (Name geändert) formuliert für sich das Anliegen:
„Ich möchte herausfinden, was meine Mutter mir angetan hat, dass ich bis heute so
ganz angespannt bin hier an den Schultern; ich möchte auch die dazu gehörigen
Traumagefühle spüren.“
Ich frage Bärbel, ob sie für eine Ahnung habe, was ihr die Mutter angetan haben
könnte. Sie meint, dass die Mutter immer wieder aus dem Zimmer ging und sie
schreien ließ.
Ich schlage ihr vor, zunächst „eine Stellvertreterin für ‚die Mutter, die ihr etwas angetan hat“ und für „die Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ auszusuchen, und
danach noch jemand für ihr Anliegen.
die Mutter, die mir
etwas angetan hat
die Bärbel, deren
Schultern so
angespannt sind
Anliegen
Bärbel
Das Anliegen zeigt deutliche Symptome von großer Angst. Das Herz rast und der
ganze Körper zittert. Bärbel bestätigt dies. Zusätzlich dazu spürt sie noch sehr deutlich ihre angespannten Schultern: „Auf meinen Schultern lastet etwas Schweres.“
Das Anliegen hingegen kann gar nicht zur „Mutter, die mir etwas angetan hat“ und
zur „Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ schauen, denn auf denen würde
etwas lasten. Bärbel nickt zustimmend.
„Die Mutter, die Bärbel etwas angetan hat“ und die „Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ stehen sich still und bewegungslos sehr nah beieinander.
Nach einigen Minuten, in denen Bärbel und ihr Anliegen ihre Körperzustände immer
genauer zu fassen suchten, ruft das Anliegen voller Angst:
„Die Mutter da drüben ist eine schwarze Wolke, die mich bedroht.“ Bärbel nickt betroffen. „Ja, da stimme ich Dir zu. Mein Zittern und meine Angst wird immer stärker.“
Daraufhin sagt „die Mutter, die Bärbel etwas angetan hat“, dass sie weit von hier weg
möchte, aber nicht kann, weil das hier (auf die „Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ deutend) sie festhalte. Es sei schrecklich für sie hier. „Ich möchte von
hier fliehen! Aber ich kann nicht!“
Auf meine Frage nach möglichen Traumaerfahrungen der Mutter hin berichtet Bärbel,
dass sich in verschiedenen Aufstellungen bei der Mutter und deren Mutter immer
wieder Missbrauch gezeigt hätte, aber genaueres wisse sie nicht.
Ich schlage Bärbel vor, noch einen Stellvertreter für diese „schwarze Wolke“ aufzustellen. Bärbel schaut das Anliegen fragend an und nachdem dieses nickt, wählt sie
eine ganz in schwarz gekleidete Stellvertreterin aus.
die Mutter, die mir
etwas angetan hat
die Bärbel, deren
Schultern so
angespannt sind
die schwarze Wolke
Bärbel
Anliegen
Die „schwarze Wolke“ taumelt mit geschlossenen Augen durch die Aufstellung. Bärbel und ihr Anliegen versuchen ihr zu entkommen. Vergebens. Die „schwarze Wolke“
umkreist beide in immer enger werdenden Radien, bis sie sich zuletzt auf den Boden
setzt und sich an Bärbels Beine klammert.
Die Anspannung in Bärbels Schultern wird immer stärker. Verzweifelt versucht sie,
von der „schwarzen Wolke“ weg zu kommen. Das Anliegen hingegen verspürt keine
Angst mehr seit die „schwarzen Wolke“ da ist: „Es ist gut, die schwarze Wolke zu
sehen. Wir müssen gar nichts tun, nur hinschauen.“
die Mutter, die mir
etwas angetan hat
die Bärbel, deren
Schultern so
angespannt sind
die schwarze Wolke
Bärbel
Anliegen
„Die Mutter, die mir was angetan hat“ geht von „der Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ weg. Sie ist sich sicher, dass die „schwarze Wolke“ mit ihr zu tun habe.
Daraufhin setzt sich „die Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“ auf den Boden. „Jetzt ist meine Anspannung weg!“
Bärbels Anspannung hingegen verstärkt sich zusehends. Das kann sie nicht verstehen.
Daraufhin erkläre ich ihr, was ich bisher verstehe:
Die „schwarze Wolke“ scheint etwas zu sein, wovor „die Mutter, die mir etwas angetan hat“, flieht. Als kleines Kind sucht Bärbel natürlicherweise Kontakt zu ihrer Mutter.
Auf diese Weise kommt sie mit der „schwarzen Wolke“ in Berührung. Für mich ist
diese ein Bild für Traumagefühle; und zwar entweder Traumgefühle der Mutter oder
Traumagefühle von Bärbel. Diese lösen Angst und Anspannung in Bärbel aus.
Bärbel nickt und meint daraufhin: „Nein, die „schwarze Wolke“ gehört nicht zu mir.
Sie soll dorthin, wohin sie gehört, nämlich zu meiner Mutter.“
Ich frage Bärbel, ob sie noch einen Schritt weiter in Richtung ihrer eigenen
Traumagefühle gehen möchte, wie sie es im Anliegen formuliert habe. Als Bärbel
bejaht, schlage ich ihr vor, „die Mutter als kleines Kind“ dazuzutun.
die Mutter, die mir
etwas angetan hat
die schwarze Wolke
die Bärbel, deren
Schultern so
angespannt sind
die Mutter als kleines Kind
Anliegen
Bärbel
Unmittelbar nachdem die „die Mutter als kleines Kind“ in die Aufstellung kommt, steht
die „schwarze Wolke“ auf und geht zu ihr hin. „Dahin gehöre ich!“ Sie klammert sich
nun an „die Mutter als kleines Kind“. Diese setzt sich zu Boden und die „schwarze
Wolke“ stürzt sich über sie. Eng umschlungen liegen beide da. „Wir gehören zusammen!“. „Die „schwarze Wolke“ gehört zu der Mama, nicht zu uns.“, sagt das Anliegen
zu Bärbel. Daraufhin kommt „die Bärbel, deren Schultern so angespannt“ und setzt
sich zu ihnen auf den Boden.
Bärbel spürt die Anspannung nun nicht mehr in den Schultern, sondern in den Beinen. „Ich spüre die Angst, aber die Anspannung ist immer noch da! Ich will die nicht
mehr. Ich möchte meine Traumagefühle fühlen!“
Daraufhin schlage ich ihr vor, sich selbst, „die Bärbel als kleines Kind dieser Mutter“
aufzustellen. „Da habe ich Angst davor und schlecht wird mir auch.“
Bärbel entscheidet sich einen Schritt weiter zugehen:
die Mutter, die mir
etwas angetan hat
Bärbel als
kleines Kind
die schwarze Wolke
die Bärbel, deren
Schultern so
angespannt sind
die Mutter als
kleines Kind
Anliegen
Bärbel
Die „Bärbel als kleines Kind“ sucht nach der „Mutter als kleines Kind“. Sie setzt sich
zu ihr auf den Boden, krabbelt um sie herum und stuppst sie immer wieder an. Vergebens. Die Mutter als kleines Kind bleibt unter der „schwarzen Wolke“ liegen. Nach
einiger Zeit meint „die Mutter als kleines Kind“: „Ich bin tot.“
„Die Bärbel als kleines Kind“ hingegen intensiviert ihre Bemühungen, die Mutter aufzuwecken. Erfolglos: „Ich fühle mich wirklich wie tot.“
Die „schwarze Wolke“ steht auf und geht zu Bärbel, ihrem Anliegen und zu der Bärbel, deren Schultern so angespannt sind“.
Doch Bärbel wehrt sich dagegen: „Nein, geh weg! Ich will Dich nicht.“
„Ich bin nicht böse oder schlecht! Ich mache Dich nur auf etwas aufmerksam.“ erwidert diese leise und bestimmt.
Das Anliegen nickt bestätigend und deutet auf „die Bärbel als kleines Kind“ die sich
so sehr um einen Kontakt zu der sich tot fühlenden „Mutter als kleines Kind“ bemüht.
„Das ist wichtig. Da müssen wir hinschauen.“
Ich frage Bärbel, ob sie versteht, was hier vor sich geht. Nachdem sie den Kopf
schüttelt, erkläre ich ihr, was ich sehe:
Die Mutter erlebte in ihrer Kindheit etwas Schreckliches. Um dieses Trauma zu überleben, muss sie sich bis heute spalten:
Ein Anteil von ihr fühlt sich wie tot (die Mutter als kleines Kind). Ein anderer Anteil
(die Mutter, die mir etwas angetan hat) möchte am liebsten von allem weg – von sich
selbst und auch von ihrem Kind. Möglicherweise handelt es sich bei dem traumatischen Erlebnis um den Missbrauch von dem Bärbel berichtete.
„Ah, das verstehe ich. Das fühlt sich stimmig an. Aber das ist ja ihre Geschichte.
Damit möchte ich nichts mehr zu tun haben. Die schwarze Wolke gehört zu ihr.“
Damit hat Bärbel recht. Aber: Diese Erkenntnis ist die Erkenntnis einer erwachsenen
Frau. Ein kleines Kind kann dies unmöglich erkennen und sich von dem Trauma seiner Mutter distanzieren. Im Gegenteil: Ein Kind sucht nach einem Kontakt zur Mutter;
es sucht nach ihren Gefühlen.
„Die Bärbel als kleines Kind“ versucht immer und immer wieder, die Mutter lebendig
zu machen; und sie begegnet dabei der „schwarze Wolke“ – dem Trauma der Mutter
mit deren entsprechenden Traumagefühlen.
Ich frage Bärbel, wie es ihr mit meiner Erklärung ergeht: Was empfindet sie in ihrem
Körper empfindet, wenn ich von der Verzweiflung und Ohnmacht „der Bärbel als kleines Kind“ spreche? Welche Gefühle tauchen in ihr auf?
„Dann wird mir schlecht, richtig schlecht. Ich habe Angst und zittere.“
Diese Übelkeit und die Angst, das Zittern ein Teil der Traumagefühle, die Bärbel fühlen und spüren wollte. Diese sind eine Reaktion eines Kindes, das eine Mutter hat,
die sich in einem Anteil wie tot fühlt.
Damit endete die Aufstellung.
Nach der Abschlussdiskussion im großen Plenum kam Bärbel noch einmal auf mich
zu. Die Übelkeit und die Angst sind anhaltend zu spüren. Sie fragte mich, was sie da
machen könnte.
Nichts. So weit wie möglich, diese Gefühle und Körperempfindungen als zu der kleinen Bärbel, die mit einer sich tot fühlenden Mutter aufgewachsen ist anzunehmen;
und wenn möglich mit einem liebevollen Blick auf sich als dieses kleine Mädchen
blicken.