Dorflieder: Liedergeschichten von A

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Dorflieder: Liedergeschichten von A-Z
Adesso tu
Kennen gelernt haben wir uns auf der Hochzeit von meiner besten Freundin in Belgien. Er war der
Trauzeuge von dem Mann und ich war die Trauzeugin von der Frau. Ein Jahr später, am selben
Datum, war unsere eigene Hochzeit. Eine sizilianische Hochzeit mit 300 Gästen.
Wir sind Sizilianer. Aber er ist hier geboren und aufgewachsen, ich in Belgien. Wenn ich sage, ich bin
Italienerin, dann sagen die Leute: Aber das ist so komisch, du hast einen französischen Akzent!
Vor der Hochzeit haben wir uns nicht oft gesehen, weil mein Mann hier gelebt hat und ich in Belgien.
Das waren 350 Kilometer. Ich habe damals oft dieses Lied von Eros Ramazzotti gehört, der Text
heißt: „Du bist so weit von mir, das ist schade“. Das war genau meine Situation. Das war kein Leben
für uns, man ist dann auch eifersüchtig, ich habe sehr oft angerufen und immer gefragt: Wo bist du
denn? Was machst du? Wie lange bist du unterwegs? Wann bist du zu Hause?
Mein Kind hört komischerweise momentan auch diese Musik von Eros Ramazzotti. Im Internet. Ich
denke: Komisch, warum hörst du jetzt dieses Lied? Ich habe nie irgendwas erzählt. Die sind doch total
altmodisch, es gibt andere Lieder, die sind viel schöner.
Salvina Giambrone, 38 Jahre, Kinderkrankenschwester
All Morgen ist ganz frisch und neu
Ich bin hier zur Schule gegangen, bei Herrn Nauck. Ein richtiger Dorfschullehrer war das, er hat ja in
der alten Schule gewohnt und am Anfang alle acht Klassen in einem Raum unterrichtet. Als ich dann
zur Schule ging, waren wir zwei Klassen in einem Raum: Erstes und zweites Schuljahr waren
zusammen und dann drittes und viertes.
Es gab immer ein Gebet am Anfang vom Schultag und ein Morgenlied. „All Morgen ist ganz frisch und
neu“ zum Beispiel, das kannten wir Katholischen nicht, weil das aus dem evangelischen
Kirchengesangbuch kommt.
Heute unterrichte ich selber hier an der Schule, im neuen Dorfteil. Der Ort hat sich immer wieder
gewandelt und erneuert in diesen 50 Jahren. Dortelweil war immer ein lebendiger Ort, alle fünf bis
sechs Jahre wurde etwas dazugebaut, zogen neue Familien zu, dafür andere auch weg. Und auch
das alte Dorf erneuert sich und verjüngt sich.
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn das nicht gewesen wäre, wäre hier alles sehr trostlos
geworden. Klar, dass sich vieles geändert hat. Aber wo gelebt wird, da passieren nun mal
Veränderungen.
Monika Burkard, 51 Jahre, Gemeindereferentin
Anal mele panithuli
Ich tanze und singe gerne. Das Lied „anal mele panithuli“ habe ich bei einer Freundin kennengelernt.
Alle tamilischen Mädchen haben eine große Feier, wenn sie die Tage bekommen. Dort wird viel
gegessen, es kommen ganz viele Leute und das Mädchen darf zum ersten Mal einen Sari anziehen.
Meine Freundin hat dieses Lied bei ihrem Pubertätsfest vorgesungen und es hat mir sofort gefallen.
Es ist eher ruhig und hört sich ein bisschen traurig an.
Ich tanze auch gern tamilisch. Eigentlich ist das komisch, weil man ja noch nie dort war und auch nicht
wirklich weiß, wie die leben. Aber meine Eltern haben es mir erzählt und ich habe auch ein Buch, das
ein tamilischer Junge geschrieben hat.
Piraarthana Ravishangar, 11 Jahre, Schülerin
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Azzurro
Dieses Lied erinnert mich an Italien. An die schönen, warmen Tage am Meer und in der Stadt.
Ich lebe seit zehn Jahren hier in Dortelweil, mir geht es gut, ich habe viele Kontakte zu deutschen
Familien. Aber trotzdem habe ich oft Heimweh nach Neapel. Wegen der Sonne. Wegen der Familie.
Und den vielen Freunden, die dort leben.
Maria Daniele Settembre, 36 Jahre, Hausfrau
Bringing the world together
Wir haben eine Rockband gehabt, die Pfadfindermusik in neue Gewänder gekleidet hat. Es gibt eine
ganze Masse Lieder, die von den Pfadfindern am Lagerfeuer gesungen werden, die haben wir mit
modernen Musikelementen verquickt: Reggae, Rock, Jazz...
Nachdem wir schon sehr lange gespielt haben, sind wir nach Australien geflogen und haben dort auf
dem World Jamboree, dem Welt-Pfadfindertreffen, mit unserer Band bei der Eröffnungszeremonie
gespielt. Und wie wir da auf die Bühne rausgegangen sind und es waren 28.000 Leute davor, da hat
man sich schon ein bisschen gefühlt wie ein Star. Pfadfinder aus 96 Nationen waren da versammelt.
Es gab ein Mottolied für dieses Jamboree, „Bringing the world together“, das haben wir als
Rockballade arrangiert. Das klang so, dass die Feuerzeuge angehen im Publikum.
Danach waren wir noch vier Wochen unterwegs, haben in Sidney gespielt, in Melbourne gespielt. Das
kleinste Publikum waren 10.000 Leute. Aber es war ein Höllenstress. Und da hab ich mir gesagt: Nee!
Bleib mal lieber Hobbymusiker, das ist eine schöne Sache, aber beruflich - das wäre mir viel zu heftig.
Heute bin ich froh, dass ich meine Garagenband habe; wenn wir Lust haben, gehen wir auf eine Fete
und spielen da, und ansonsten ist das ein reines Hobby.
Hans-Peter „Kümo“ Kümmel, 56 Jahre, Elektrotechniker
Cellosuite Nr. 4
Musik und Chemie – ich habe immer zwischen diesen beiden Welten geschwankt.
Nun lebte ich damals in der DDR und es war nicht so ganz einfach, zu einem Studienplatz zu
kommen. Ich hatte mich, nachdem ich mich mit meinen Eltern und Freunden beraten hatte, für das
Chemiestudium entschieden. Aber ich bekam keine Zulassung. Da hab ich mir dann kurzerhand
gesagt: „Wenn du nicht Chemie studieren kannst, dann wirst du vielleicht doch lieber Musiker".
Damals hatte ich ein Stück von Johann Sebastian Bach sehr gut drauf, die vierte Suite in Es-Dur, und
damit habe ich dann die Aufnahmeprüfung bestanden. Und dann bekam ich an ein- und demselben
Tag die Zulassung zum Chemiestudium und zum Musikstudium und jetzt musste ich mich wieder
entscheiden.
Später hab ich es immer einigermaßen hinbekommen, dass die Musik neben dem Beruf als
Hochschullehrer nicht zu kurz kam. Noch heute spiele ich immer wieder diese Bachsche Musik, diese
Solosuiten. Sie sind so unglaublich komplex. Wie die Natur.
Erich Grabner, 75 Jahre, Cellist und Chemiker
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Der Herr ist auferstanden
Wir haben hier eine Osternachtfeier. In der Dunkelheit morgens um fünf Uhr, wenn es noch ganz
dunkel ist, stehen wir hier vor der Kirche und gehen dann in die Kirche hinein. Die Kirche ist dunkel
und dort hören wir dann die Botschaft: Jesus ist nicht mehr im Grab. Gott hat ihn auferweckt. Und
dann singen wir den Osterjubel.
Dieser Glaube ist für mich ein ganz großes Vertrauen. Ohne diese Botschaft, ohne diese Freude kann
ich einfach nicht leben. Will ich auch nicht leben.
Matthias Gärtner, 59 Jahre, Pfarrer
Die Fahnen hoch
ER:
Wenn eine Versammlung war, wurde zum Schluss aufgestanden und das Deutschlandlied und „Die
Fahnen hoch“ gesungen.
SIE:
Erst „Die Fahnen hoch“ und dann das Deutschlandlied.
ER:
Für mich war's lästig. Für mich war der ganze Komiss lästig, von Anfang an bis zu Ende. Die
Einschränkung der Freiheit.
SIE:
Wenn man marschiert ist, wurde auch gesungen. Wir sind ja ewig marschiert.
ER:
Das waren so Kampflieder, die waren eigentlich ein Vorbote für alles, was dann später passiert ist.
Willi Knecht, 89 Jahre, Rentner
Alice Knecht, 88 Jahre, Rentner
Es dunkelt schon auf der Heide
Acht Jahre lang war ich auf der Flucht. Bis ich hier in Dortelweil ankam. Wir hatten immer Hunger.
Immer Angst. Diese Angst kann man sich nicht vorstellen.
Die ersten zwölf Jahre Kindheit, vor der Flucht, waren eigentlich gar nicht so schlecht. Mein Großvater
war Tagelöhner auf einem Gut und hatte selbst ein paar Kühe. Abends, wenn das Vieh versorgt war,
sind die Leute aus der Nachbarschaft zusammengekommen und dann haben wir auf der Bank
gesessen, mein Opa hat Ziehharmonika gespielt und es wurde bis spät am Abend gesungen. „Es
dunkelt schon auf der Heide, nach Hause wollen wir gehen.“ Wir Kinder haben dabeigesessen und die
Ohren gespitzt, bis wir ins Bett mussten.
Im August 44 kam der erste Angriff. Unser Haus ist stehen geblieben, aber meine Mutter und wir zwei
Buben sind gleich evakuiert worden. In Sachsen, wo wir bei einem Bauern untergekommen waren,
bekamen wir ein Telegramm: Mein Großvater liegt im Sterben. Wir sind wieder zurück nach Hause
gefahren.
Nachdem wir meinen Opa beerdigt hatten, wollten wir uns wieder in Sicherheit bringen. Die
Ziehharmonika meines Opas habe ich mitgenommen, in einem Sack, zusammen mit einem Paar
Schlittschuhen. Sonst hatten wir nur noch zwei Koffer mit ein bisschen Wäsche drin. Aber inzwischen
waren die Russen in Ostpreußen einmarschiert und wir waren drin im Kessel.
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Die Züge waren gestopft voll. Einmal wollten wir auf dem Puffer mitfahren. Sie haben uns Gottseidank
davon abgehalten, sonst wären wir wahrscheinlich runtergefallen. Ein andermal saßen wir bei 20 Grad
Kälte drei Tage lang in einem kalten Güterwagen und hofften, dass er losfährt - aber er fuhr nicht. Wir
kamen nicht weg. Schließlich hat meine Mutter jemanden angesprochen, der war Schiffskoch. Dem
haben wir uns angeschlossen und konnten mit dem Schiff aus Königsberg raus. Unser Schiff fuhr im
Geleit der „Gustloff“. Aber wir hatten einen Maschinenschaden und mussten umdrehen. Kurz danach
ist die Gustloff untergegangen, mit fast 10.000 Menschen darauf.
Auch später haben wir viel Glück gehabt. Wir haben Swinemünde rechtzeitig verlassen, bevor es
bombardiert wurde. Wir haben die Bombardierung von Dresden gesehen. Wir haben den Einmarsch
der Russen erlebt, die Vergewaltigungen, die Räuberei. Wir haben die Tiefflieger erlebt. Einmal war
ich allein mit dem Fahrrad auf der Straße und bin gezielt beschossen worden. Ich bin schnell ins
Kornfeld gerannt, er hat noch einmal gedreht und nochmal geschossen. Aber wir hatten immer Glück.
Wir sind nicht untergegangen. Uns ist nichts passiert.
Die Ziehharmonika von meinem Opa war immer dabei. Die habe ich nicht aus der Hand gegeben.
Meine Mutter wollte, dass ich sie wegwerfe. Aber ich habe gesagt: „Lieber schmeiße ich den Koffer mit
der Wäsche weg!“". Und es gab Gefangene aus Polen und der Ukraine, die wollten sie mir abkaufen.
Was die mir alles geben wollten! Aber ich habe gesagt: „Nein, die Ziehharmonika behalte ich!“.
In Sachsen, als die Russen das zweite Mal kamen, hat mein Kumpel einen Granatsplitter in den
Bauch gekriegt und ist daran gestorben. Wir mussten wieder fliehen. Als wir zurückkamen, war die
Ziehharmonika kaputt. Auseinandergerissen.
Ich lebe jetzt seit fast 60 Jahren hier. Habe Familie, habe ein Haus gebaut. Eine Ziehharmonika habe
ich nie mehr gehabt. Das ist vorbei.
Alfred Bohn, 77 Jahre, Maurer
Hallo, kleines Fräulein
Das ist eine schöne Swingnummer. „Hallo kleines Fräulein, haben Sie heut Zeit? Mit mir auszugehen,
nur zum Zeitvertreib...“ Da gab es Bands, die haben das richtig flott gespielt, da konnte man schön
nach tanzen.
Mit 17 Jahren haben wir uns kennen gelernt, vor dem Abitur. Da sind die beiden Familien in eine
Siedlung gezogen und da waren wir dann Nachbarskinder. Rein formal war man erst mit 21 Jahren
volljährig. Da wurde dann manchmal gesagt: „Wir haben euch in der Stadt gesehen, ihr habt
Händchen gehalten! Also, das geht ja nun nicht!“ Und wenn die Eltern zwei junge Leute bei sich
aufgenommen haben, dann konnten sie noch wegen Kuppelei bestraft werden. Das war alles sehr
restriktiv, wo man heutzutage sagen würde, das ist ja Irrsinn!
Später, als unsere Tochter auf die Welt kam, war man plötzlich gefordert. Da war dann nicht mehr so
viel mit Tanzen und Musik und so. Da war es dann auch ein bisschen eng, finanziell und
wohnungsmäßig. Aller Anfang ist schwer!
Inge Maria Schneider, 78 Jahre, Grund- und Hauptschullehrerin
Klaus Schneider, 79 Jahre, Professor und Diplomingenieur a. D.
Higher and higher
„Lifting, lifting me up, lifting me, higher and higher!” Das mag ich gern, weil das mein Papa im Chor
singt. Ich sing das auch, mit meiner Gitarre. Die sieht so rot aus.
Simon Taphorn, 3 Jahre
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Hier ist ein Mensch
Die Katze hat meinen Nachbarn gehört, die haben hier vis–à–vis gewohnt und sind nach Jugoslawien
gefahren, in Urlaub. Das Kätzchen blieb hier, für sich alleine.
Ich wohne ja auch alleine. Mein Mann ist gestorben, der hatte leider eine ganz böse Krankheit. Ich
mache meinen Haushalt, meinen Garten, helfe manchmal meiner Tochter. Und ich habe meinen
Friedhof, wo ich meine Verstorbenen pflege und die Gräber zurecht mache.
Eines Tages mach ich die Türe auf und da sitzt die Katze auf meiner Treppe und macht so „miau“. Hat
geweint.
Der Peter Alexander hat ja so ein schönes Lied gesungen, „Hier ist ein Mensch, der will zu dir. Lass
ihn hierein, er wird dir dankbar sein.“ Und da habe ich stattdessen gedacht: „Hier ist ein Tier, das will
zu dir. Lass sie herein, sie wird dir dankbar sein.“ Und seit dieser Zeit habe ich die Katze.
Christine Reichard, 77 Jahre, Rentnerin
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten
Viele Deutsche wissen das nicht: Dass alle japanischen Kinder „Loreley“ von Silcher auf japanisch
kennen. „Na-ji ka wa shi-ra-ne-do ko ko-ro wa-bi te…“ Hier in Deutschland lernen die Kinder leider
nicht mehr diese alten, eigentlich schönen Volkslieder, aber alle japanischen Kinder können das
auswendig. Ähnlich wie hier in Deutschland ist in Japan nach dem Krieg alles gestrichen worden, das
mit dem Kaiser oder dem Nationalismus verbunden war. Und was kommt dann stattdessen in die
Schulmusik? Zuerst einmal die europäische Notenschrift und dann viele Lieder aus Deutschland.
Ich habe das schon in der sechsten Klasse im Chor gesungen, wir haben mit diesem Lied auch einen
Wettbewerb gewonnen, weil einfach die Komposition so schön ist. Das Lied war meine erste
Begegnung mit Europa. Eigentlich ist das ja eine grausame Geschichte, mit den vielen Seefahrern, die
versunken sind. Aber als Kind habe ich das überhaupt nicht traurig empfunden, sondern ich dachte:
Was ist denn „goldenes Haar“? Als Asiatin kennt man das ja überhaupt nicht.
Mit fünfzehn habe ich das dann als Solosängerin vertieft. Ich hatte Gesangsunterricht und es gab
wieder einen Wettbewerb. Neben Mozart-Arien habe ich unter anderem auch die „Loreley“ gesungen.
Die erste Strophe deutsch und die zweite japanisch. Ich habe viel Lob bekommen und mir wurde dann
in dem Moment bewusst: "Okay, klassischer Gesang, das ist vielleicht meineRichtung".
Das ist für mich schon ein Lebenslied geworden.
Warum die Japaner die deutschen Lieder mögen? In der Musik steckt eine ganz innere Ruhe und ein
schimmernder Inhalt. Es geht nicht nur darum, die Stimme vorzuführen, sondern es sind auch viele
Gedanken darin versteckt. Und diese Verstecktheit, das lieben die Japaner. Wenn die Kunst nach
innen gewendet ist. Drei Wörter zu sagen, und zehn Wörter sind darin versteckt.
Eri Nabeya-Uhlig, 46 Jahre, Sängerin
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I’m bad
So mit 13 oder 14 habe ich das gehört. Ein ganz harter Rap war das, von L.L. Cool J.
Neeein, ich selbst war natürlich nicht „bad“, ich war kein böser Gangster, sondern ein ganz lieber,
netter Junge. Na gut, vielleicht war ich mal in die eine oder andere Prügelei verwickelt. Aber welcher
Junge in dem Alter ist das nicht?
Mein Problem war: ich hatte sehr auffällige rote Haare, und wenn wir zu mehreren irgendwas
angestellt haben - mich haben die Lehrer immer erkannt. Als Rothaariger ist man halt gleich
verdächtig.
Aber schreiben Sie das lieber alles nicht. Sonst sagen die Leute: Von dem lass ich mir kein Dach
mehr decken.
Sascha Wolf, 34 Jahre, Dachdeckermeister
Ins Wasser fällt ein Stein
Mein Sohn Lutz kam acht Wochen zu früh auf die Welt und war nach der Geburt sehr schwach. In
dieser Zeit habe ich immer vor mich hingesungen, wenn ich zu ihm ins Krankenhaus gefahren bin. „Ins
Wasser fällt ein Stein“, damit habe ich mir Mut zugesungen.
Kurz vor seiner Einschulung, mit sechs Jahren, ist Lutz gestorben. Ein kurzes Leben, aber es wirkt
immer noch nach in unserer Familie. Wie wir miteinander umgehen, uns gegenseitig unterstützen.
Und wir denken viel an ihn. Er hat unheimlich viel gelacht, war ein ganz fröhlicher Junge.
„Und ist er noch so klein, er zieht doch weite Kreise…“. Das ist für mich sehr tröstlich. Auch wenn du
noch so wenig machen kannst, irgendwo hat auch das Auswirkungen. Als Lutz schon im Koma lag,
und ich stand einfach nur da, sagte ich zu der Schwester: „Na, Sie haben es gut, Sie können
wenigstens was machen“. Da drückt sie mir den Waschlappen in die Hand und sagt: „Machen Sie
das!“. Und da habe ich ihn mit warmem Wasser abgewaschen. Das war eine winzige Sache, aber mir
hat es gut getan. Und ich nehme an, er hat das auch irgendwie bemerkt.
Karin Rohde, 60 Jahre, Hausfrau
Jesu meine Freude
Mein Mann ist sehr viel älter als ich und irgendwann hat er Alzheimer bekommen. Ich habe ihn lange
gepflegt, seit ungefähr 17, 18 Jahren hat er diese Krankheit. In der Anfangszeit hat er einfach oft nur
dabeigesessen und zugehört, stundenlang, ohne dass es ihm langweilig wurde. Aber immer wenn wir
gesungen haben, hat er mitgesungen. Bachchoräle, „Jesu meine Freude“ zum Beispiel, oder die
Choräle aus dem Weihnachtsoratorium. Sein Vater war Pfarrer gewesen, und das heißt, er war als
Kind jeden Sonntag in der Kirche und hat alle Lieder auswendig gekonnt. Wir haben vierstimmige
Choräle gesungen, als ob alle ganz gesund wären. Die Tenorstimmen konnte er alle noch auswendig.
Musik war für ihn einfach eine Sprache, in der er noch zu Hause war wie immer. Da hat sich für ihn
nichts verändert durch die Krankheit.
Carlita Mie, 54 Jahre, Geigenlehrerin
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Kolibelnaja pesnja
Ich habe sowohl deutsche als auch russische Kinderlieder kennen gelernt und besonders gut kann ich
mich an ein Einschlaflied in russischer Sprache erinnern, das hat mir meine Mama und meine Oma
immer kurz vor dem Schlafengehen gesungen. Das war sehr süß und das hab ich meinem Sohn auch
immer vorgesungen: „Die Kinderbücher gehen schlafen. Die müden Spielzeuge gehen schlafen. Der
einzige, der nicht schlafen möchte, ist der Niklas, und der möchte bitte jetzt die Augen zumachen und
einschlafen.“
Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Das gab es oft bei uns in Russland. Alles das, was man hier
immer zu erreichen versucht - ein gutes Zusammenleben von verschiedenen Kulturen, kein
Gegeneinander, kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander - alles das hat in Russland eine lange
Tradition. Es gab dort 15 Republiken, es gab Muslime und Orthodoxe, es gab Tataren, Mongolen und
Kasachen, und es gab auch zwei Millionen Deutsche. Die Leute konnten gut miteinander, Nationalität
hat keine Rolle gespielt. Alle konnten die Landessprache, zusätzlich die eigene, und man hat keine
Unterschiede gemacht. So habe ich das als Kind erlebt.
Lilly Wollbaum, 43 Jahre, Kaufmännische Bürokauffrau
Let it be
Wir waren Nachbarskinder, die alle in die gleiche neue Situation gekommen waren. Die von woanders
herkamen und hier keinen Bezug hatten. Wir sind alle zeitgleich, innerhalb von sechs Wochen, in
diese Siedlung eingezogen worden. Ich sage „eingezogen worden“, weil ich hier nicht hinwollte. Wir
hatten vorher in Köln mitten in der Stadt gewohnt. Und dann dieses Dorf hier: Manche Straßen waren
damals noch nicht einmal geteert gewesen. Das fand ich richtig doof!
Durch das Musikmachen habe ich andere Leute kennen gelernt. Da waren zwei aus der
Nachbarschaft, ein Mädel und ein Bub, mit denen habe ich häufig musiziert. Ich habe Klavier gespielt
und die beiden anderen Gitarre. „Let it be“ und andere Beatles-Songs. Wir trafen uns fast jeden
Nachmittag, wenn die Schulaufgaben fertig waren (oder auch nicht). Meistens bei mir zu Hause, weil
da das Klavier stand und die Tischtennisplatte.
„Let it be“, das hatte auch etwas mit Protest zu tun. Das begann mit längeren Haaren und mit
Klamotten, vor denen ich heute weglaufen könnte. Aber auf der anderen Seite konnte man auch ohne
Problem im Schulorchester Haydn-Sinfonien spielen. Wir haben uns dann sogar ein dunkles Jackett
angezogen. Aber keinen Schlips.
Jörg-Uwe Hahn, 54 Jahre, Landesminister für Justiz, Integration und Europa
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Mademoiselle Chante le Blues
Mein Traum war immer, mit einem Güterzug mitzufahren. Weit weg, in die Freiheit.
Als Jugendliche bin ich hier immer aufgefallen. Ich war kein Vereinsmensch, eher so ein
Einzelgängertyp. Mit 13,14 fing ich an, ganz in Schwarz herumzulaufen, und dann wurde ich immer
angesprochen: „Na, ist jemand gestorben?“. Aber ich habe das für mich gemacht, um mich
abzuheben. Mit 18, 19 habe ich nur noch meine eigenen Kleider getragen, und mit 20 hatte ich schon
meine erste Modenschau.
Später habe ich dann die Musik von Patricia Kaas für meine Modenschauen entdeckt. Sie passt zu
meinen Kleidern: Ein bisschen frech, ein bisschen großstädtisch, sehr feminin.
Frei sein, ganz weit weg fahren: Irgendwie habe ich das dann doch nicht gemacht. Inzwischen wohne
ich schon lange wieder hier im Dorf und habe auch meinen Laden hier. Obwohl das natürlich ein
Risiko ist. Weil es hier keine Laufkundschaft gibt für Haute Couture.
Warum ich am Ende dann doch hiergeblieben bin? Ich weiß es nicht. Vielleicht hab ich mir ja
stattdessen ein bisschen Freiheit hierher geholt, und ein bisschen Großstadt-Flair.
Christina Kreuz, 43 Jahre, Modellschneidermeisterin und Designerin
Maikäfer flieg
Eigentlich ist das ja ein furchtbares Lied: "…der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt". Aber wir haben das früher immer gesungen.
Ich weiß nicht, ob wir das bewusst gesungen haben - ich selbst hatte ja keinen Vater mehr. Nachdem
er gefallen war, sind wir auf den Hof meines Großvaters gezogen. Kein allzu großer Hof, aber wir
haben da in Großfamilie mitgelebt. Mein Opa war ein ganz stattlicher Mann, mit nach oben
gezwirbeltem Schnurrbart. Für mich war er praktisch Vaterersatz. Er war wunderbar, unser Verhältnis
war sehr gut. Er hat mir das Klavierspielen ermöglicht und zum Abitur hat er mir einen goldenen
Armreif geschenkt.
Nur einmal habe ich richtig Dresche gekriegt. Ich hatte eine ausgesprochen nette, liebe Freundin. Sie
war fast gleichaltrig, wir haben gemeinsam sehr viel unternommen. Und einmal haben wir im
Obstgarten Krankenhaus gespielt. Wir haben ein Messer genommen und haben die Bäume operiert.
Und die jüngsten Bäume, die hatten natürlich die beste Schale, die sich schälen ließ. Bei den alten,
wo die Borke schon verkrustet war, konnte man nicht viel schneiden. Aber von den jungen haben wir
mindestens zehn, zwanzig Bäume geschält. Und dann kam das böse Ende: Mein Opa hat uns
erwischt.
Aber: Kein einziger Baum ist eingegangen.
Gisela Nagler, 72 Jahre, Grundschullehrerin
Mirrors
Wenn ich gut drauf bin und mich freue, höre ich Musik. „Mirrors“ von Natalie Kiss zum Beispiel. Weil
das ein freudiges Lied ist.
Worüber ich mich freuen kann? Das sind eher Alltagsdinge. Wenn mich niemand ärgert zum Beispiel.
Etwas Verrücktes habe ich noch nie erlebt. Ich weiß auch nicht, wieso.
Nhi Phuc Hoang, 12 Jahre, Schülerin
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Musik als Ruhestörung
Das wurde damals im Internet ausgeschrieben. Da hatte die Polizei Leute gesucht, die ein Ehrenamt
ausüben – und da haben wir uns beide für den freiwilligen Polizeidienst beworben.
Manchmal haben wir auch mit Ruhestörung zu tun. Das war zum Beispiel mal bei einer Party von
Jugendlichen, die ihr Abi gefeiert haben. Sehr, sehr laut. Mit Techno und so. Dann sprechen die Leute
uns schon mal an, wenn wir abends gerade unterwegs sind. Wir agieren aber meist nicht selbst,
sondern geben das weiter, und dann kommt eine Streife.
Angelika Krüger, 53 Jahre und Heidi Jung, 64 Jahre; freiwillige Hilfspolizistinnen
Musik der Indianer
Bei großen Familientreffen haben wir immer nacheinander gegessen. Die Kinder zuerst, dann die
Frauen und am Schluss die Männer. Das ist so Tradition bei den Indianern.
Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater war Indianer. Er ist gestorben, als ich siebeneinhalb Jahre
alt war. Als Kind sind wir immer mit unserem Opa und unseren Onkels rausgegangen, in die Wildnis,
und haben Kräuter und wilde Zwiebeln im Wald gesucht. Die sind tatsächlich zum Mittagessen
gemacht worden. Und wir haben erzählt kriegt, was man essen darf, was nicht. Wo Schlangen sind
und wo Gefahr ist.
Mit sieben Jahren durfte ich einmal bei einem riesengroßen Powwow mitmachen. Da haben sich 360
verschiedene Stämme getroffen, in Oklahoma City, und jeder Stamm führte seinen eigenen Tanz auf,
inklusive Indianerkleidung und Trommel. Wir Kinder durften nur zugucken, nicht mitmachen. Weil der
Indianerschmuck sehr wertvoll ist. Damit er nicht beschädigt wird.
Es gibt auch indianische Lieder und Gesänge, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ach
Gott, da war ich vier, fünf Jahre alt, als wir die gesungen haben. Das hab ich alles total vergessen
über die Jahre.
Roman Billiy, 48 Jahre, Hausmeister
Musik von den Flippers
Ich habe schon als Kind bei meiner Oma immer die Blumensträuße neu arrangiert. Die Oma hat
immer viele Blumen geschenkt bekommen, und wenn die kurz vorm Verblühen waren, habe ich
versucht, das neu zu gestalten. Und dann haben wir die Sträuße zusammen in der ganzen Wohnung
verteilt, und haben dazu Musik von den Flippers gehört.
Ohne sie hätte ich mir später nicht diesen Beruf ausgesucht.
Martina Wolfinger, 43, Floristin
Musik von früher
(Spielt Gitarre und singt.) Ein Liebeslied. Sehr bekannt in Äthiopien, von einem berühmten Musiker,
der leider vor einem Jahr gestorben ist. Wenn ich das für äthiopische Leute spiele, verbinden sie sehr
viel mit diesem Lied. Manche heulen dann.
Man ist fern von der Heimat und braucht Dinge, die einen an früher erinnern. Zum Beispiel Musik oder
Gegenstände. Das ist sehr wichtig.
Asressahegn Mezmur, 47 Jahre, Dr. Ing. Elektrotechnik
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Nach der Heimat möcht ich wieder
„Nach der Heimat möcht ich wieder, nach dem teuren Vaterort, wo man singt die alten Lieder, wo man
hört manch trautes Wort.“
Wenn ich „Heimat“ sage, dann ist das die alte Heimat. Das Sudetenland. Obwohl das hier für mich
inzwischen auch schon Heimat ist. Aber das andere ist irgendwie tiefer im Herzen. Wir hatten ja einen
Bauernhof, das mussten wir alles stehen und liegen lassen. Sechzehn Jahre alt war ich, als wir von
dort weggegangen sind. Und hier in Dortelweil bin ich seit 1960.
Wir hatten auch Sommergäste damals, aus der Tschecheslowakei. Und da hab ich immer gedacht:
Die können sich draußen hinlegen, können schön draußen im Schatten liegen, während wir aufs Feld
müssen. Im Sommer war ja immer Arbeit. „Ach, wenn ich doch auch einmal im Sommer gar nicht zu
arbeiten bräuchte!“, habe ich immer gedacht. Ja, das waren so Wünsche.
Später, als ich dann hier war, konnte man's doch: In Urlaub fahren. Und sich hinlegen.
Emmi Foltas, 82 Jahre, Kaufmännische Angestellte
Nkosi Sikelel'iAfrika
Südafrika ist wunderschön. Ganz viel weites Land, in Pretoria blühten im Frühling die
Jacarandabäume ganz lila. Und es gibt viele Tiere, wunderschöne bunte Vögel, und in Pretoria war
eines Tages vor unserem Haus ein großes Gürteltier.
Ich war Krankenschwester und habe dort gearbeitet. Das kam, weil meine Mutter und meine Brüder
ausgewandert waren. Wir hatten hier keine Existenzmöglichkeit. Keine Arbeit. Ich bin dann
hinterhergefahren und habe drei Jahre dort gelebt.
Ich habe in einem Entbindungsheim die kleinen Babys versorgt. In diesem Entbindungsheim waren
nur Weiße. Ich habe aber auch andere Menschen kennen gelernt und habe mich immer gefreut, wenn
die Eingeborenen, die Schwarzen, mit einer Flöte an der Straße gesessen haben und gespielt und
gesungen haben. Die sind da ganz anders als hier, sie singen einfach, wenn es ihnen einfällt. Mitten
auf der Straße. Die jetzige Nationalhymne ist zum Beispiel sehr schön. „Nkosi Sikelel' iAfrika“. Das
heißt auf Deutsch: „Gott schütze Afrika“.
Jutta Behrens, 77 Jahre, Krankenschwester
O du fröhliche
Weihnachten kenne ich aus meiner Kindheit nur so, dass an jedem Adventssonntag gesungen wurde.
Da wurde der Adventskranz angemacht und dann wurde gesungen. Und an Weihnachten das gleiche,
mit der ganzen Familie. "O du fröhliche" war der Klassiker bei uns.
Meine Jungs sind jetzt 25 und 21, aber das behalten wir trotzdem bei. Obwohl noch keine kleineren
Kinder da sind. Die lachen sich dann wohl eher kaputt, aber das ist Tradition und das muss einfach so
sein.
Doris Kleisch, 49 Jahre, Hausfrau
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Pferde zu vieren traben
Ich habe im Bass gesungen. Erst im „Liederzweig“, das war ein Männerchor, und dann auch im
gemischten Chor. Wir sind oft auf Wertungssingen gefahren. Das waren schon schöne Chöre, gerade
wenn man dann auch mal so piano, pianissimo gesungen hat, und dann wieder aufbrausend. Viele
Rheinlieder haben wir gesungen. Oder auch „Pferde zu vieren traben in dieser schönen Stunde“.
Pferde? Freilich, davon gab es hier viele. Die kleinen Bauern hatten jeder mindestens ein Gespann.
Und das Hofgut Hess, das hatte allein vier Gespanne. Da bin ich öfter als kleiner Junge mitgefahren,
ins Feld raus, zum Rübenhacken oder zum Kartoffellesen. Saß immer vorne auf dem Kutschbock,
beim Gespannführer. Und abends haben wir die Pferde in die Nidda getrieben. Da war die Tränke, wo
jetzt der Steg ist, da sind die abends immer gewaschen worden: Ohne Sattel in die Nidda rein. Und
das Interessante war, wenn die so schön im Wasser waren, dann haben sie sich gewälzt. Dann
musste man abspringen und sie sind allein nach Hause. Haben allein den Weg gefunden.
Dieter Roth, 73 Jahre, Gärtner
So ein Tag, so wunderschön wie heute
Nach Kriegsende, da ging erstmal mit Fußball gar nichts. Das war ja alles ein Trümmerfeld, alles
kaputt, und Sportplätze hat es gar nicht gegeben. Wir haben uns einen Wollball gemacht, mit Kordel,
mit Klebstreifen, was man so gefunden hat – und dann hat man halt damit rumgebolzt, auf der Wiese
oder zwischen den Häusern.
Der Wunsch, einmal Profi zu werden, ist entstanden, als ich mit 17 Jahren zur A-Jugend von Eintracht
Frankfurt kam. Von da aus ging es ganz rasant bergauf: Erste Mannschaft, Hessenauswahlspieler,
später A-Nationalspieler bis hin zur Weltmeisterschaft.
Gesungen wurde im Stadion damals noch nicht. Das war eher verpönt, das kam erst später, mit den
Medien, dem Fernsehen. Aber wir selbst haben gesungen, auf Meisterschaftsfeiern oder nach einem
Sieg unter der Dusche. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, das war unser Lied. 1959 haben wir
ja die deutsche Meisterschaft gewonnen, die einzige deutsche Meisterschaft von Eintracht Frankfurt.
Und dann sind wir von der Mainzer Fassenacht eingeladen worden, das war damals sehr honorig, und
dort haben wir näheren Kontakt zu den Mainzer Hofsängern gefunden. Da haben sich intensive
Freundschaften gebildet und von denen haben wir auch dieses Lied gelernt. Und irgendwann wurde
das publik und wurde zum Fangesang.
Wenn wir uns heute zum Stammtisch treffen, die „59er“ von der Eintracht, und irgend jemand in der
Wirtschaft stimmt dieses Lied an, dann fallen wir alle ein und singen mit.
Friedel Lutz,72 Jahre, Fußballspieler
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Tebi, majko, misli lete
Ich hab noch dieses Bild im Kopf: Mein Vater hatte einen Arbeits-Overall, Gummistiefel und eine
Mütze. Und die beiden haben sich in die Arme genommen und geweint. Weil wir gehen mussten. Als
wir zur Gartentür gegangen sind, hat mein Sohn einen Stein von Boden genommen, den hat er
jahrelang bei sich gehabt. Ein Stein von unserem Haus.
Ich habe in Bosnien gelebt, seit ich 17 war. Wir haben keine Grenze gehabt, man konnte nach
Mazedonien ohne Pass, und es gab keinen Nationalismus. „Du bist Serbe, ich bin Bosnier, du bist
orthodox, ich bin Muslima“ - das war nicht so stark ausgeprägt wie jetzt. Es war eine schöne Zeit.
Aber dann kamen die ethnischen Säuberungen. Ich war nicht mitten im Krieg, aber es war ein Gebiet,
wo die Serben waren. Wir Muslime und die katholischen Leute mussten raus. Ich hatte zwei Tüten,
einen Koffer und meine drei Kinder und ich musste raus. Wegen der Kinder. Mein Haus, meinen
Garten, mein Dorf, unser Stück Land – alles musste ich verlassen. Und meine Eltern. Ich war das
einzige Kind, ich hatte keine Geschwister und ich musste meine alten Eltern allein lassen, obwohl sie
von den Nachbarn bedroht wurden. Ich hatte kein Geld, ich hatte kein Visum, ich hatte gar nichts. Ich
konnte meine Eltern nicht nach Deutschland bringen. Und ich konnte meine Kinder auch nicht allein
schicken. Ich hatte Angst um meine Tochter.
Ich war auf den Treppen unseres Hauses. Mein Vater hatte diesen Overall an und meine Mutter hat
gesagt: „Du verlässt mich?!“. Er sagte zu ihr: „Sie muss! Sie hat drei Kinder!“. Da hat meine Mutter
eine Strähne genommen - ich habe damals lange Haare gehabt - und hat daran gerochen. Ganz tief.
„Tebi, majko, misli lete“ - das ist ein Lied über die Mutter. „Die Gedanken meiner Mutter fliegen zu
mir“. Immer wenn ich dieses Lied höre, kann ich weinen. Weil ich meine Mutter so vermisst habe. Ich
bin auch eine Mutter, wissen Sie?
Man kann verzeihen, aber man kann das nicht vergessen. Die haben uns alles genommen. Uns sind
nur die Lieder geblieben.
Zuhra Smajlovic, 57 Jahre, Hausfrau
To ke cheshmat kheili gashangeh
In der Öffentlichkeit war Musik verboten. Privat, in der Familie war es kein Problem. Wenn die Türen
zu sind, kann man alles machen. Meine Mutter hat oft gesungen, zur Kassette oder einfach so. „Du
hast sehr schöne Augen – To ke cheshmat kheili gashangeh“: Das kann ein Liebeslied sein, oder
auch ein Lied, das die Mütter für ihre Kinder singen.
Wir hatten sogar einen Videorekorder. Wenn wir meine Tanten besucht haben, dann wollten alle einen
alten Film ansehen. Dann haben wir den Videorekorder heimlich mitgenommen, in einem Korb mit
einer Decke darauf. Meine Mutter war dann immer besorgt, dass wir entdeckt werden. Aber es ist nie
etwas passiert.
Ich war vier Jahre alt, als die Revolution im Iran anfing. Meine Familie war nicht religiös, aber in der
Schule wurde gesagt: Man kann in die Hölle kommen, wenn man Musik hört. Und man hatte ja sehr
viel Vertrauen zu den Lehrern und Lehrerinnen.
Aber Musik ist etwas, das man nicht verbieten kann. Heute kann man im Iran wieder Instrumente
kaufen und es gibt Privatlehrer für Musik. Die Leute haben sich durchgesetzt. Mit ihren Liedern zeigen
sie: „Ich bin gegen euch“.
Meine Kinder sind heute so alt, wie ich damals war. Wenn wir im Auto sitzen und ich lege eine
persische CD ein, dann sagen sie „Mama, bitte nicht!“ und wollen lieber Radio FFH hören. Nur dieses
eine Lied, „Du hast sehr schöne Augen“, ist irgendwie eine Ausnahme. Das wollen sie immer wieder
hören.
NN, 36 Jahre
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Tù mi dai a manu
Dieses Lied stammt von einer korsischen Musikgruppe und handelt von einem Sohn, der seinen Vater
fragt, ob er in die Welt ziehen darf, um den Menschen zu helfen. Man kann sich vorstellen, dass ein
richtiger Sohn seinen Vater fragt - man kann es aber auch so verstehen, dass ein Mensch zu Gott
sagt: "Gib mir die Kraft, die ich brauche, um den Menschen zu helfen".
Für mich selbst trifft die zweite Bedeutung mehr zu. Mein eigener Vater hat mich eher nicht
unterstützt. Er war Landwirt und hat darunter gelitten, dass ich als Sohn nicht seinen Hof übernehmen
wollte. Obwohl er wusste, dass dieser Hof keine zweite Familie ernährt hätte. Ich habe freiwillig meine
Heimat verlassen, und mein Vater hat das als Scheitern erlebt. Auch für mich war das nicht
emotionslos. Ich hänge sehr an unserem Hof, an den Feldern und den Olivenhainen. Aber einen Hof
zu bewirtschaften, das wäre nicht mein Weg gewesen.
Dadurch wurde für mich dieser Gottesbezug ganz wichtig, von dem in dem Lied die Rede ist: Zu
wissen, dass jemand zu mir und meiner Entscheidung steht. Sogar dann, wenn meine eigenen Eltern
mich darin nicht unterstützen.
Raphael Zuccarelli, 44 Jahre, Lehrer
Vietnam, Vietnam
Es gab auch in Vietnam eine Wiedervereinigung, aber sie verlief ganz anders als in Deutschland.
Nicht so friedvoll, viel blutiger. Ich war damals 12 Jahre alt, hatte schulfrei und die Panzer rollten durch
die Straßen von Sàigòn. Dann hörten wir im Radio, dass der Krieg zu Ende ist, dass Vietnam
unabhängig und vereinigt ist. Ich habe gejubelt, zusammen mit meinen Eltern, so wie viele andere
Südvietnamesen auch.
Aber schon am nächsten Tag begann die Verhaftungswelle. Auch mein Vater musste als
südvietnamesischer Beamter in ein Umerziehungslager.
Das Lied "Vietnam, Vietnam" ist sehr patriotisch. Es beschreibt einiges über das Land, über den Krieg.
Aber es ist in Vietnam verboten, weil es aus dem Süden stammt.
Ph
-Phong, 47 Jahre, Energieberater
Jedes Mal wenn es Frühling wird, kommt mir dieses rumänische Lied in den Kopf. „Der Frühling
kommt, der Frühling kommt, er breitet sich aufs ganze Land, die Wiesen sind voll Blumen“. Das haben
wir in der Schule gesungen, und auch einfach wenn wir draußen waren. Wenn die Gänseblümchen
kamen und die Schneeglöckchen.
Wir haben in einer alten Mühle gewohnt, mit meinen Cousins zusammen. Vier Familien waren wir, mit
sieben Kindern. Und wenn wir von der Schule kamen, dann ging es direkt nach draußen in den Wald
oder an die Seen. Wir haben Verstecken gespielt, sind auf die Bäume geklettert. Manchmal hat uns
meine Mutter auch geschickt, Pilze zu sammeln. Oder Brennnessel, daraus hat sie Spinat gemacht.
Es war für uns wie das Paradies. Wir waren frei wie die Vögel am Himmel.
Claudia Binder, 34 Jahre, Verkäuferin
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Wenn ich einst groß bin, wird dein Leben schön
Wir reisen durchs ganze Land, unser Theater besteht schon in der fünften Generation. Großmutter ist
immer noch dabei, die ist 87 Jahre alt und steht immer noch auf der Bühne. Das ist ihr Leben. Und an
die Kinder wird es auch weitergegeben. Unsere Kleinen mit ihren vier Jahren spielen auch schon mit.
Damit das Ganze weiterlebt.
Mit der Schule haben wir natürlich Probleme gehabt. Jede Woche hat man die Schule gewechselt. Da
hat man gerade Freundschaft geschlossen und dann geht es schon wieder weiter, in die nächste
Stadt und zur nächsten Schule. Das hat einen schon ein bisschen verletzt. Man lernt, damit
umzugehen – und trotzdem: im Herzen war es dann doch immer traurig.
Umso mehr sind wir Familienmensch. Wir stehen zusammen, wir leben zusammen und wir sterben
auch zusammen, glaube ich. Deswegen haben uns auch die Lieder von Heintje immer begleitet.
"Wenn ich einst groß bin, wird dein Leben schön"; das spiegelt alles wider, was wir fühlen: Wenn ich
groß bin und du älter wirst, bin ich für dich da. Weil du warst ja für mich da. Jahrelang.
Andreas Sperlich, 36 Jahre, Schauspieler
Wie lieblich sind deine Wohnungen
Ich singe schon länger in einem Chor mit. Oratorien oder Passionen. Als ich neu in diesen Chor kam,
hatten wir gerade mit dem Brahms-Requiem angefangen. „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr
Zebaoth“, wenn man das zusammen singt, vierstimmig, klingt das wunderschön.
Nach einem der Konzerte kam eine Frau zu mir, die war aus dem Sopran, und meinte: „Ich finde es ja
toll ,dass du hier im Chor mitsingst, obwohl du so einen Hintergrund hast“ und ich war ein bisschen
perplex und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich verstehe, dass das vielleicht komisch wirkt.
Aber da ich ja hier aufgewachsen bin, halte ich selbst das nicht für komisch.
Ich kann nicht sagen, dass meine Heimat in der Türkei ist, weil ich dort nie gelebt habe. Aber auch
nicht, dass meine Heimat „Deutschland“ ist, weil es zu groß ist
Meine Heimat ist, glaube ich, Dortelweil.
Merih Öznur Turgut, 18 Jahre, Schülerin
Wir pflügen und wir streuen
Bei uns hat’s ja noch nicht viele Autos gegeben. Steul, Jehners, Chaussehaus - das waren die Leute.
Vier, fünf Autos. Die meisten hatten noch Pferdegespanne, Ochsengespanne, Schlepper nur
vereinzelt.
21 Betriebe gab es. Heute sind’s noch fünf. Wenn die Betriebe nicht mehr lebensfähig waren, haben
sie aufgegeben. Das ist der Zahn der Zeit. Ob das jetzt ein Lebensmittelhändler ist, oder ein Bäcker
oder Metzger, die müssen auch weichen. Wachsen oder weichen.
Die Leute waren bodenständiger, waren auch religiöser. Das kann man wirklich sagen. „Wir pflügen
und wir streuen“, das hatte eine große Bedeutung. Immer wurde das gesungen, an Erntedank. Immer!
Und um den Altar rum, was da alles zusammengetragen wurde an Gemüse und Feldfrüchten und
Äpfeln und Birnen, Gartenfrüchte, selbst Mehl und so weiter. Da hatte der Pfarrer nur so einen kleinen
Gang, nur so eine kleine Standfläche. Rundherum war alles voll.
Durch die moderne Zeit wird das verdrängt. Überall. Aber das Bodenständige, wenn das in der
Kindheit so reinwächst, das bleibt in Leben lang erhalten. Das haftet.
Heinrich Jacob, 79 Jahre, Landwirt
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