Illegale Helfer

MAXI OBEXER
ILLEGALE HELFER
Hörspiel
INHALTLICHE UND KÜNSTLERISCHE MITARBEIT: LARS STUDER
Vorbemerkung:
Die Aussagen der Figuren sind auf der Basis von Interviews mit verschiedenen
Personen entstanden; ein Teil von ihnen war bereits mehrfach straffällig und wurde
wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur Illegalen Einwanderung angeklagt. Andere
könnten, wenn ihre Aktivitäten bekannt würden, angeklagt werden.
Der Dank gilt all den Vielen, die uns mit ihren Berichten in die verborgene Welt der
Menschlichkeit geführt haben.
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Personen:
Gesetzgeber
Genner:
Österreicher, ca. 70
Lukas:
Deutsch-Schweizer, ca. 45
Ulrike:
Schweizerin, ca. 80
Florian:
Deutscher, Student, 25
Lehrerin:
ca. 55
Verwaltungsrichter:
ca. 60
Aktivistin:
ca. 50
Susanna:
ohne legalen Status, ca. 30
Aktivist:
Österreicher, 40, im Rollstuhl
Rechtsanwalt:
ca. 35 Jahre
3
INTRO
Genner:
Zivilcourage ist heute notwendiger denn zuvor, denn es kann ja
gelingen, Abschiebungen zu verhindern! Wenn ein Asylwerber einen
Asyl-Antrag eingebracht hat und er ist von der Abschiebung bedroht
in einen anderen EU-Staat. In einen angeblich so sicheren, wo wir
ganz genau wissen, dass er dort wieder eingesperrt wird, gefoltert
wird, unmenschlich behandelt und möglichst sogar weitergeschoben
wird ins Herkunftsland. Und er nimmt dieses Schicksal nicht hin und
er taucht unter lasst sich 18 Monate nicht erwischen, dann darf er da
bleiben – sogar nach der Dublin-Verordnung. Nur 18 Monate sind
eine lange Zeit. Wo soll er hin in dieser Zeit?
Audio-Collage aus Making-Of-Material:
Ansage:
-
Okay, können wir den Absatz noch mal haben?
-
Da waren so n paar Sachen, die verschluckt waren oder so?
-
Oje
-
Ah, das noch weiter meinst du?
-
Von vorne wieder an, ja
-
Das haben wir ja schon gelesen, ja?
-
(räuspern) nächste Seite
-
Das hatten wir ja schon, alles klar,
-
aber ich kann den noch mal machen
Illegale Helfer
Hörspiel von Maxi Obexer.
Mitarbeit: Lars Studer
Regie: Martin Zylka
4
1. Szene
Lukas:
Ich hatte mit meinen Kindern eine Zeit auf der Alp bei meinem Freund
Jonas verbracht. Er bewirtschaftet einen Wald und mehrere Wiesen
in den südlichsten Ausläufern der Schweizer Alpen im Tessin, direkt
an der Grenze zu Italien. Wir helfen beim Melken, machen Käse,
heuen, und in jenem Frühjahr, an Ostern, waren wir gerade dabei,
den schmalen Saumpfad auszubessern, der von der Alp zum Tal
führt. Wir schleppten große Granitsteine aus dem nahen Bachbett
zum Weg und bauten eine Stützmauer in einer engen Kurve. Ein
kühler Vormittag war's, als die beiden Hirtenhunde plötzlich
anschlugen.
Ein groß gewachsener, kräftiger Mann von vielleicht Mitte zwanzig
kam den Saumpfad herunter, gestützt auf zwei Stöcke. Er sprach uns
freudig an, in einem fast unverständlichen Englisch, strahlte und
fragte er, ob er hier in der Schweiz sei. Wir bejahten. Der Mann war
dankbar, begeistert eigentlich, die Schweiz! Der Traum geht in
Erfüllung, und er fragte weiter, ob, wenn er diesem Weg ins Tal
folgen würde, er zu einem Dorf käme. Ja, sagten wir. Ich spürte, wie
es mich freute, ihm auf diese Weise helfen zu können. Er überbot
sich mit Segnungen, God bless You, sagte er, ich glaube er nahm
meine Hand, ich glaube auch, er berührte meinen Kopf.
Genner:
Und da ist die Zivilbevölkerung ist verpflichtet, so stell ich mir das vor,
Schutzräume zur Verfügung zu stellen, in denen Schutzbedürftige, u.
Schutzwürdige Traumatisierte, Folteropfer untertauchen können, so
lange bis die 18 Monate um sind. Bis dahin müssen die Menschen
irgendwo bleiben und es gibt ja auch Menschen guten Willens,
Privatpersonen, Klöster, Kirchen, Gemeinden, Bauern - es gibt ja
viele!
Lukas:
Ja, er hat sich gefreut, gestrahlt. Er hat uns umarmt.
Er hat immer wieder Schweiz gesagt. Das ist der Weg ins Dorf,
haben wir gesagt.
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Genner:
Vor jedem ehrlichen Schlepper, der saubere Arbeit macht, der seine
Kunden sicher aus dem Land des Elends und des Hungers, des
Terrors und der Verfolgung herausführt, der sie sicher hereinbringt,
den Grenzkontrollen zum Trotz, in unser ‘freies’ Europa, habe ich
Achtung. Er ist ein Dienstleister, der eine sozial nützliche Tätigkeit
verrichtet und dafür auch Anspruch hat auf ein angemessenes
Honorar.
Lukas:
Ja. Wir schickten ihn womöglich direkt ins Verderben. Denn im Dorf
unten wachen die Nachbarn über die Straße, in großer Angst vor den
Flüchtlingen. Früher war dieser Weg die Hauptroute der Schmuggler
und Flüchtlinge. Eine solche Angst hatten die Leute im Dorf, dass sie
die unteren Fenster vergittert und sich Schrotflinten angeschafft
haben.
Einmal kam ein Nachbar, der früher auf den Weltmeeren unterwegs
war, nachts nach Hause. Als er die Tür öffnete, blickte er in den Lauf
des geladenen Gewehres, das seine Frau ihm direkt ins Gesicht hielt.
Sie vermutete Ausländer, die sich an der Tür zu schaffen machten.
Diese Nachbarn waren sicher die ersten, die den jungen Mann den
Behörden gemeldet haben. In Chiasso gibt es ein Auffanglager.
Als er weg war, fuhr es mir wie ein Blitz durch die Knochen. Wir
hätten ihn dabehalten sollen, auf der Alp! Ihn schützen. Wir hätten
ihm drei Tage schenken sollen, ihn in Decken wickeln, ein Huhn
schlachten und ihm eine Suppe machen können. Mit ihm diese
unglaublich genauen Schweizer Karten studieren und mit meiner
Tante Ulrike telefonieren, die seit über 20 Jahren Flüchtlingen hilft.
Hätte er eine Chance gehabt? Wir hätten ihm einfach helfen können.
War das nicht unterlassene Hilfeleistung?
Gesetzgeber:
RICHTLINIE zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und
Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt.
1) Eines der Ziele der Europäischen Union ist der schritt- weise
Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts;
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dies bedeutet unter anderem, dass die illegale Einwanderung
bekämpft werden muss. Der Rat der Europäischen Union HAT
FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN: Artikel 1: Allgemeiner
Tatbestand:
Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest,
die:
a) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaates ist,
vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates
unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates
über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen
oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen.
Lukas:
Warum hab ich ihn einer Staatsgewalt überlassen, von der ich weiß,
dass sie nicht auf seiner Seite steht, ich nicht auf ihrer. Warum hab
ich zugesehen, wie er davon ging? Hatte ich Angst?
Genner:
Menschen verschwinden in die Schubhaft. Und wir wissen nichts.
Wir erfahren es nur, wenn ein Mensch, ein Freund, ein Verwandter,
ein Bruder, ein Vater, ein Onkel zu uns kommt und sagt: er wurde
abgeholt.
Lukas:
Haben die Gesetze mich gehindert? Mich zögern lassen? Gesetze,
die meine Hilfe bestrafen würden?
Gesetzgeber:
Artikel 2: Anstiftung, Beteiligung und Versuch
Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um
sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Sanktionen auch für
diejenigen gelten, die im Falle einer der in Artikel 1) aufgeführten
Handlungen:
a) Anstifter sind oder
b) als Gehilfen beteiligt sind oder
c) versuchen, eine solche Handlung zu begehen.
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Genner:
Wir gehen dann ins Gefängnis, wir lassen uns eine Vollmacht erteilen
und vertreten sie dann. Wir haben auch schon wieder welche
zurückgebracht, die mitten im Abschiebevollzug waren.
Gesetzgeber:
Artikel 3: Sanktionen
Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um
sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 genannten
Handlungen Gegenstand wirksamer, angemessener und
abschreckender Sanktionen sind.
Lukas:
Genner, was für ein Mensch bist du eigentlich?
Genner:
Ich berate und vertrete Asylwerber im Asylverfahren.
Ich schreibe für sie Berufungen.
Begleite sie zu den Einvernahmen.
Ich bringe ihre Fälle an die Öffentlichkeit.
Ich decke die Missstände auf.
Lukas:
Ja, aber abgesehen davon.
Warum machst du das?
Genner:
Ich bin seit meinem 18. Lebensjahr politisch tätig.
Ich war in der 68bewegung, ich war bei Jugendorganisation Spartakus, die den Kampf gegen
die Erziehungsheime geführt hat.
Lukas:
Und persönlich? Oder privat?
Genner:
Die Arbeit, die ich jetzt mache, ist der wichtigste Teil meines
politischen Lebensweges.
Lukas:
Du wirst angegriffen. Bedroht. Angezeigt.
Bürgerrechtsvereinigungen behängen dich mit Medaillen für
couragiertes Handeln. Von der Staatsanwaltschaft aber wirst du
pausenlos vorgeladen. Du bist ein Straffälliger, weil du Gesetze
verletzt, während du anderen hilfst - die Gesetze verletzen musst!,
um helfen zu können. Du bist bettelarm, weil die Arbeit für
Asylsuchende nichts abwirft. Wie muss einer wie du sein, um das
alles in Kauf zu nehmen? Bist du ein Altruist?
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Genner:
Die Kraft meine oft sehr aufreibende Arbeit zu tun, schöpfe ich aus
mehreren Beweggründen und Quellen:
Lukas:
Oder leidest du unter einem Helfersyndrom?
Genner:
Das eine ist der Hass.
Lukas:
Der Hass!?
Genner:
Der Hass gegen das Unrecht und gegen diejenigen, die Unrecht tun.
Und das andere ist der Wunsch, Menschen zu helfen, ich freue mich
über jeden Flüchtling, der durch mich Asyl erhalten hat. Ich freue
mich auch über die wenigen Schweine, die wir aus dem Apparat
herausschießen konnten. Sind viel zu wenige, aber manche sind es
doch.
Lukas:
Verstehe ... Gab es einen Moment, einen allerersten Anlass... - der
dich diesen Weg einschlagen ließ, einen Funken, der übersprang, der
dich persönlich zu dem machte, der du heute bist?
Genner:
Ich komme aus einer Familie, die in der Nazizeit politisch und auch
rassisch verfolgt wurde, das hat mich geprägt. Ist das ein Anlass,
oder ein Funke, den du suchst?
Audio-Collage aus Making-Of-Material:
-
Deine Stimme ist wunderschön, klingt auf den Aufnahmen…
-
Ich kann den Text aber nicht auswendig
-
Nein, ich finde das ja auch schön, wenn sie das erzählen
-
Ach, das weiß ich jetzt nicht ganz genau
-
Wir probieren einfach ein bisschen rum
-
Also so ein bisschen nachdenklich?
-
So ein bisschen mehr Gefühlslage?
2. Szene
Ulrike:
Schweizerin, eine ältere Frau, sehr ruhig, langsam, konzentriert
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Ich muss vielleicht der Reihe nach anfangen: Der allererste kam aus
Bangladesh, Mamun, ein noch nicht volljähriger, knapp 16jähriger
junger Mann, der zweite junge Mann, Tarek, kam aus Afghanistan, der
hatte ein abgeschlossenes Studium, dann kam der dritte, der Batha,
das war ein Eritreer, ein großer Sportler mit zum Teil hohen Gewinnen,
früher,. Sie waren alle drei allein gereist. Das war so der Anfang. Und
es wurde noch mehr daraus.
Lukas:
Wie kamt ihr darauf, das zu tun?
Ulrike:
Ach, man kann sagen, sie haben uns einfach gefallen, ich fand sie
sympathisch, ein bisschen verloren, auch, der kleine Mamun, der
Junge, das war ja fast noch ein Kind.
Lukas:
Eigentlich ein sehr einfacher Einstieg in eine Geschichte.
Ulrike:
Ja, und es sind alles große Geschichten geworden, und sind‘s immer
noch. Sie haben unser Leben sehr verändert. Da gings um die harten
Kämpfe der Aufenthaltsbewilligungen, wir haben Anwälte eingesetzt
oder je nachdem kirchliche Stellen gesucht. Wir kamen so richtig hinter
die Kulissen dieser Asylpolitik, wie zufällig da Vieles ist, und wie
machtlos man ist. Manchmal total wütend. Das war schlimm,
manchmal sehr schlimm. Ich hab manchmal nicht geschlafen
deswegen.
TRENNER SOUND
Ulrike:
Also der Mamun, der Bangladeshi, der hatte das zehnte Schuljahr
gemacht, davor noch ein Vorbereitungsjahr aufs zehnte Schuljahr, das
zehnte Schuljahr, dann die Aufnahmeprüfung an die Berufsschule, er
war ein sehr guter Schüler, und nach dem ersten Jahr so richtig
integriert und da kam der Negativbescheid. Einfach so. Mit
Ausreisetermin. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als unterzutauchen.
Jetzt ist er in guten Händen, jetzt ist er sicher und es geht ihm gut.
TRENNER-SOUND
Ulrike:
Helfen, Es ist mehr das Selbstverständliche. Man tut im Moment, was
getan werden muss, man macht sich gar nicht viele Gedanken dabei.
Es ist einfach notwendig, dass man’s macht. Lukas: Du warst Lehrerin,
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dein Mann verbeamtet, war das ganze nicht gefährlich?
Ulrike:
Manchmal, es gab Situationen, da war es sehr gefährlich. Davon
erzähl ich jetzt näher lieber nichts. Aber aufgrund der Menschenrechte
muss man auch in solchen Situationen einfach handeln. Es geht nicht
anders. Man muss mit der Wahrheit ein bisschen flexibel umgehen.
Ein Beispiel dazu: Wenn man aus Italien in die Schweiz kommt, muss
man damit rechnen als Flüchtlich sofort wieder nach Italien
zurückgeschickt zu werden. Deswegen muss man hier auf die
Wahrheit verzichten und sagen: ‚Es tut mir schrecklich leid. Ich hab
keine Ahnung, aus welchem Land ich eingereist bin. Und wenn sie
nicht zufällig nicht einen Daumenabdruck gemacht haben an der
Grenze, kann auch niemand das Gegenteil beweisen.
Gesetzgeber:
Die Dublin III Verordnung sieht vor, dass nur ein Asylantrag gestellt
werden kann und regelt, welcher Staat für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig ist. Grundsätzlich ist der Staat vorgesehen,
in dem der Asylbewerber zuerst eingereist ist und wo per
Fingerabdruck der europäischen Zentraldatenbank Eurodac seine
Daten aufgenommen wurden. Versucht der Asylsuchende in einem
anderen Land als dem von Dublin zwei vorgesehenen Asyl zu
beantragen, wird er in das dafür zuständige Land rücküberstellt.
Ulrike:
Mein Mann und ich waren uns immer einig, wo und wie wir helfen
wollen. Das war sehr schön. Auch für uns. Und das ist so eine Art
Adoptivfamilie geworden. Eigentlich ungeplant. Es hat sich so
entwickelt. Wie lange wir noch zusammenbleiben werden, das können
wir nicht planen, das geht irgendwann auch mal zu Ende, aber es ist
eine schöne Zeit.
Audio-Collage aus Making-Of-Material:
-
Sol lich jetzt hier einfach den Florian…genau
-
So n bisschen in ne lebhafte Erzählung rein
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-
So n paar Wochen her, das hab ich jetzt nicht mehr im Kopf, ich
habs jetzt nicht auswendig gelernt.
-
Nee, nee, darum geht’s ja nicht
-
Also eher nach innen?
-
Okay, nur den letzten Satz oder wo soll ich anfangen?
-
Oder sollen wir das ganze noch mal?
-
Dat gefällt mir auch net: nachts wird… (ungelesen weitergelesen)
-
Wie du es sagen würdest…
-
Ich kann’s so oft lesen, wie du willst, das ist jetzt kein Thema
3. Szene
Lehrerin:
Ich hab denen vom Jugendamt gesagt: "Wenn dem Jungen jetzt
etwas passiert, dann liegt die Verantwortung ganz bei euch! Und
nicht nur bei euch, sondern bei jedem einzelnen von euch!“
Der Junge war keine 15 Jahre alt, aber das Jugendamt hat ihn auf 18
eingeschätzt, was in der Regel ziemlich üblich ist, weil es ja nur heißt
‚nach in-Augenschein-Nahme‘ so kommte das Jugendschutzgesetzt
nicht mehr zum Tragen, und man kann ihn abschieben. Seine Eltern
wurden bei einem Anschlag zerfetzt. Danach ist er nach
Griechenland geflohen, was er erzählt hat, hat er fürchterliche Dinge
dort erlebt, danach ist er weiter nach Deutschland, dort lebt ein Onkel
von ihm und der war bereit, ihn aufzunehmen! Nach der DublinVerordnungaber sollte er zurück nach Griechenland abgeschoben
werden. Ja, da musst du dir dann was einfallen lassen, musst du
erfinderisch werden. Der Junge hatte dann irgendwann gesagt:
"Wenn ich nach Griechenland soll, dann hätte das alles keinen Zweck
mehr", für mich war das dann das Stichwort und mir wurde drastisch
klar: er ist suizidgefährdet!
Das hab ich so oft bei den Jugendamtsvertretern gesagt, bis es im
Jugendamt zu Panik führte. Sie überließen mir den Jungen, den ich
dann in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht habe, und dort
fand ich einen Arzt, auf den ich mich verlassen konnte. Er behielt ihn
dann sechs Wochen auf der Station. Und in diesen sechs Wochen,
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ich hatte gerade Schulferien,, hatte ich Zeit, um alle Möglichkeiten
auszuschöpfen, um ihm zu helfen, z.B. politische Kontakte, die
gingen bis in den Bundestag. Und geholfen haben mir auch oft
Menschen, die die entsprechenden treffenden Formulierungen für
irgendwelche Schreiben nennen konnten, die man in bestimmten
Schreiben anwenden muss, um bestimmte Erfolge dann eventuell
dann auch erzielen zu können.
Diesem Jugendlichen wurde nach acht Wochen beschieden, dass er
hier bleiben konnte. Und das war das erste Mal, dass die
Bundesrepublik einen Selbstvertretungsanspruch, den es ja nach der
Dublin-Verordnung gibt, geltend gemacht hat.
Gesetzgeber:
Artikel 17 ERMESSENSKLAUSELN. Abweichend von Artikel 3
Absatz 1 kann jeder Mitgliedsstaat beschließen, einem bei ihm von
einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten
Asylantrag zu prüfen, auch wenn er nach den in der DublinVerordnung festgelegten Kriterien, nicht für die Prüfung zuständig ist.
4. Szene
Florian:
Der Mann ist zusammengebrochen, als er erfahren hat, in welches
Land er abgeschoben werden sollte. Dann ging alles blitzschnell,
binnen Sekunden haben wir entschieden, der muss er aus dem Land
raus, kurzes Schweigen, wer macht's? Ich mach's, hab ich gesagt.
Innerhalb von einer halben Stunde war alles organisiert, ein Auto und
ein Mittelsmann, der hielt den Kontakt zu den Leuten, bei denen er
untertauchen konnte. Keine Stunde und wir saßen im Auto.
Bis 19:30 mussten wir über der Grenze sein, dann wäre die
Fahndung durch alle Computer gelaufen, mit Bild und allen Daten.
Angst hatte ich eigentlich nicht, ich brauchte ja nur den Kopf nach
rechts drehen um zu sehen, wer da Angst hatte; ich glaube, so im
Nachhinein, weil ich mich um den Mann kümmern musste, hatte ich
überhaupt keine Zeit, selbst Angst zu haben. Und dann waren wir
drüben.
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Am Bahnhof, wo wir uns verabredet hatten, gab mir der Mittelsmann
per SMS zu verstehen, dass ich mich weiter von dem Mann entfernen
sollte. Ich ging also ein paar Meter zurück, er war sehr nervös. Wir
wussten ja beide nicht, an welche Leute er übergeben werden sollte.
Ich bekam noch eine SMS, ich war noch immer zu nah an ihm dran.
Ich sollte mich entfernen. Das hab ich dann auch gemacht. Und als
ich mich dann noch mal umdrehte, da war er dann schon weg.
Lehrerin:
Du gehst sehr weit, ja. Du musst dir sehr viel abverlangen.
Und natürlich gehst du auch Risiken ein. In meinem Fall würde das
bedeuten, wenn ich mich illegal verhalte, um einem anderen zu
helfen, dass ich noch größere Probleme bekomme, wegen meines
Beamtenstatus. Aber ich kenne mich, und ich weiß: Du musst
kämpfen und handeln, nur mit Reden erreichst du nichts.
Mein Vater war ein Deserteur. Er war der Volksverräter. Darüber
gesprochen hat er nie und er war auch nie stolz darauf. Ich aber
wollte auf ihn stolz sein, für mich war er derjenige, der richtig
gehandelt hat.
Florian:
Später habe ich erfahren, dass sie ihm geraten haben, seine
Fingerkuppen abzuschleifen, damit er nicht identifizierbar war. Als er
selbst nicht in der Lage war, das zu tun, haben sie es übernommen.
Ich fragte mich, was grausamer war: in irgendein Land abgeschoben
zu werden, oder sich die Fingerkuppen abzuhobeln?
Was heißt es, nichts mehr an sich zu haben, das dich als dich
ausweist? Ist es das wert? Dass jemand die letzten Spuren seiner
Identität auslöscht? Welchen Preis hatte diese Rettung letztendlich?
Ist er nicht zu hoch? Ich weiß nicht, ob ich die Fahrt gemacht hätte,
wenn ich das vorher gewusst hätte.
Irgendwann musste ich dann einsehen, dass ich das nicht wieder tun
konnte. Auch wenn ich heute noch sagen würde: das war vielleicht
das Richtige.
5. Szene
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Verwaltungsrichter:
Während des Zweiten Weltkrieges, gleich nach dem Beschluss der
Endlösung für die Juden, gab es in Warschau einen portugiesischen
Diplomaten, der fing an, Visa für die jüdische Einreise nach Portugal
auszustellen, so viele wie er konnte, und noch als er die Weisung von
Portugal bekam, keine Visa mehr auszustellen, hörte er nicht auf,
seine Unterschrift und den Stempel der portugiesischen Botschaft auf
ein Stück Papier zu hauen, das ihnen die Flucht ermöglichte. Für
Tausende war das die Rettung. Wenn seine Hand nicht mehr konnte,
massierte sie ihm seine Frau, seine Kinder schleppten das Papier
herbei, er unterschrieb, was er konnte, vierundzwanzig Stunden am
Tag, Visum für Visum.
Und meine Unterschrift? Zerstört Tausenden von Menschen wenn
nicht ihr Leben, so doch ihren Entwurf.
Florian:
Sie duzen sie, schreien sie an, belehren sie, sie öffnen ihre Briefe, ich
schäme mich dafür, dass so ein Hanswurst von der
Ausländerbehörde, dem alles - auch das Persönlichste der
Menschen, scheißegal ist, dass der sich alles erlauben kann und
niemand reagiert. Am liebsten wär ich zur Polizei gegangen, aber die
hätten natürlich auch nichts getan.
Verwaltungsrichter:
Ich hatte nie vor, die Grenzen des Gesetzes zu verlassen. Ich glaube
ja an ihren Sinn. Und ich werde dafür bezahlt, dafür zu sorgen, dass
sie eingehalten werden.
Während der Fahrt im Auto dachte ich, das überleb ich nicht; Ich tu,
was Schlepper tun! Ich schmuggele eine Person über die Grenze
nach Italien, ich, ein Richter, Hüter der Rechts und der Gesetze.
Wenn ich aber über den Rückspiegel auf die Frau sah, die
vertrauensvoll schlief, oder mit weit geöffneten Augen die Gegenden
bestaunte, durch die wir fuhren, schien es mir ohne Arg und etwas,
was die Menschen ständig tun: sie reisen.
Florian:
Hätte meine Freundin nicht gesagt: Mach weiter, bleib dran, ich kenn
dich, du machst dich nur unglücklich, wenn du aufhörst, ich hätte
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dem Ganzen vielleicht schon den Rücken gekehrt.
Verwaltungsrichter:
Die Frau war am Frankfurter Flughafen aufgegriffen worden. Kein
Mensch wusste woher sie war, und es war auch nicht
herauszubekommen; alles, wohin sie wollte, war zu ihrer Tochter
nach Rom. Der reguläre Weg wäre gewesen, sie vom Sammellager
ins Asylbewerberheim zu schicken, sie alle bürokratischen Prozesse
durchlaufen zu lassen, bis sie zuletzt im Ausreisezentrum gelandet
wäre, wo die ohne Papiere hinkommen und wo sie oft jahrelang
bleiben. Mit großem Glück, und wegen ihres Alters, hätte man sie
irgendwann für abschiebeunfähig erklärt, sie wäre geduldet worden,
ohne Anspruch auf irgendwas, in einem Land, in dem sie ja gar nicht
leben wollte.
Eine alte Frau - was soll schon sein, lasst sie doch zu ihrer Tochter,
wenn das alles ist, was sie sich wünscht.
Florian:
Ich machte weiter. Ich fing an, ihnen sehr genau auf die Finger zu
schauen. Denn mir war aufgefallen, dass die Vollzugsbeamten so
Manches tun, was gar nicht erlaubt ist. Ich schau mir die
Abschiebebescheide an, und wenn ich sehe, dass sie gegen
geltendes Recht verstoßen oder gegen die Menschenrechte, dann
müssen sie mit Widerstand rechnen - rechtlich, über die Presse, und
auch politisch. Ich gehe an die Öffentlichkeit, schreibe Petitionen, ich
kontaktiere den Bürgermeister. Zum Beispiel bei einer jungen
Familie. Der Familienvater sollte abgeschoben werden, da hab ich
dann auf eine Petition verwiesen und darauf, dass niemand
abgeschoben werden darf, solange eine Petition für ihn läuft. Da
wurde das Abschiebekommando gestoppt. Das war ganz einfach. Ein
paar Wochen später bekamen wir auch die Härtefallregelung für ihn
und seine Familie durchgesetzt.
Verwaltungsrichter:
In Verona brachte ich die Frau zum Bahnhof. Sie löste einen
Fahrschein, sie stieg in den Zug, und als der langsam anrollte und sie
uns am Fenster von ihrem Platz aus zuwinkte, da empfand ich seit
langem wieder einmal Stolz. Ja, ich war stolz auf mich.
Ich ging in ein Lokal und ich trank vier Gläser Whisky auf Ex.
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Spätestens in fünfzig Jahren wird uns das als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit ausgelegt werden, wie wir heute mit Asylsuchenden
umgehen. Wir tun es mit offenen Augen, mit Kugelschreibern,
Paragraphen, mit Vollzugsbeamten und manchen abscheulichen
Tricks, wir schauen weg und sie wissen, was sie zu tun haben.
Eines Tages wird das vors Menschengericht kommen, und unsere
Kinder oder Enkelkinder werden entsetzt sein. Und wir werden
sagen: ausdrücklich genehmigt war das von unserer Seite ja nicht.
Und wenn sie weiterfragen, sollen wir dann auch sagen: wir haben
nur unsere Arbeit getan?
6. Szene:
Lehrerin:
Da war ein kleiner Innenhof beim Pfarrhaus. Drumherum war eine
Mauer, und da stand ich off nachts mit dem Kind im Arm, unter dem
wunderschönen Sternenhimmel. Ich dachte, wenn sie etwas
akzeptieren, dann vielleicht diese Mauer.
Die Abschiebungen passieren ja immer nachts. Tagsüber bekäme die
Öffentlichkeit es ja auch mit.
Es war grauenhafte Nächte, voller Warten, bei jedem Geräusch
wachst du auf, und du fängst schon irgendwie an, zu spinnen, gehst
dann wieder alles durch: Wenn die kommen, haust du dann ab? Mit
dem kleinen Kind?
Verwaltungsrichter:
Wieder zurück ging es weiter mit dem Ablehnen von Anträgen.
Vierundsechzig Tausend Anträge werden in Deutschland gestellt,
und nur zwei Prozent werden akzeptiert. Zwei Prozent. Von
Tausenden. Man kann sich ausrechnen, was meine Hand den
ganzen Tag tat.
Lehrerin:
Wie gehst du damit um, wenn sie doch kommen und die Familie
abholen? Auch im Kirchenasyl ist das schon mehrfach passiert. Was
ist wenn? Du steigerst dich hinein, du musst dich beruhigen, dass es
ja nicht um dich geht. Aber die Angst ist da. Mich aber macht Angst
nicht fertig, sie macht mich eher wütend, und aus der Wut heraus
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handle ich und mein Kopf wird dann ganz klar und ich versuche,
Strategien zu entwickeln. Aber mit so einem kleinen Kind?
Verwaltungsrichter:
Eines Tages wollte meine Hand nicht mehr. Oder sie konnte nicht
mehr. Ich hatte noch viele schlaflose Nächte.
Bis ich eines Tages um die Versetzung bat. Die natürlich keine
Beförderung war. Ich hadere noch immer. Es fällt mir schwer, gegen
das Gesetz zu verstoßen.
Dennoch verstoße ich inzwischen regelmäßig dagegen.
Lehrerin:
Ich hab oft abends mit dem Kind im Innenhof gestanden. Die Kleine
konnte ja nie ans Tageslicht oder in die Sonne. Alles, was im ersten
Lebensjahr geschah, hatte in diesem einen Raum stattzufinden.
Nachts also bin ich mit ihr rausgegangen. Und da ist mir aufgefallen,
wie ein schön ein Sternenhimmel sein kann. Und dann hat sie
irgendwann, als ich da draußen mit ihr stand, das erste Wort gesagt:
und das war ‚Mond’.
Es gab ja sonst nichts anderes, was sie von der Welt sah.
Von da an hat sie immer ‚Mond’ gesagt. Und wenn wir den Mond
gesehen haben, dann sind wir rausgegangen in den Sternenhimmel.
Audio-Collage aus Making-Of-Material:
-
Also hier würde ich sagen, das ist auch…
-
Ich würd mir trotzdem vorstellen, das man es so ein bisschen an
Leute richtet – Ja.
-
Aber das ist vielleicht ganz schön, wenn du das genau mit der
Haltung, mit diesem Lacher – Ja, OK
-
Dann erzählt man darüber dann viel
-
Dann würde ich eher sagen:
-
OK
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7. Szene
Lukas:
Mein Leben ist schön, ich lebe in Frieden, die Kinder sind
untergebracht, in der Schule, beim Fußball, im Tanzunterricht, in der
Selbstverteidigung und im Trompetenkurs, ich gönne mir einen
Aperitif, sitze vor dem Café mit Menschen, die nichts fürchten
müssen, keinen Anschlag, keine Festnahme, kein Gefängnis, keine
Folter, wir haben unseren Ausweis dabei und unsere Rechte, mit
denen uns an den zuständigen Ämtern Genüge getan wird, mithilfe
von Leuten, die in den Ämtern dafür bezahlt werden, dass unseren
Rechten Genüge getan wird. Unser Daseinsrecht ist verbürgt. So
kann der Himmel blau sein und der Frühling kann kommen, und der
Sommer mit den Ferien, und vorher noch die blühenden Kastanien
und die gute Laune in den Parks. Dieses Leben halt. Nicht immer nur
ein leichtes, aber manchmal eben schon.
Plötzlich rennen mir vier, fünf junge Männer über den Weg, sie
springen wie die Wahnsinnigen in die Büsche, über die Böschung
hinunter zum Teich, am Teich entlang auf die Straße und weg sind
sie. Die Polizei hinter ihnen her. Jeder guckt amüsiert, wie mühsam
sie in ihren prallen Uniformhosen den sportlichen Jungs
hinterherjapsen.
Aktivistin:
Also, als in den 90ern die rassistischen Übergriffe immer härter und
lebensbedrohlicher waren, das waren Hoyerswerda, Lichtenwerda,
Rostock, Solingen, im selben Zeitraum ist das Asylrecht verschärft
worden, und da sind wir dann hingefahren nach Hoyerswerda u.
haben gefragt, wie können wir euch helfen? Wie können wir euch
unterstützen? Sie wollten nur weg. Und sind sie mit uns nach Berlin
gekommen.
Lukas:
Die Türen der Polizeiwannen fliegen auf, Polizisten schwärmen in
allen Richtungen auseinander, sekundenschnell ist alles wie
weggefegt, keine Reggae-Musik aus Handys, keine sich rege
unterhaltenden jungen Männergruppen, im Nu ist der Park leer, leer
wie am Oranienplatz, nachdem sie dort das Flüchtlingscamp geräumt
hatten. Ein Politiker verstieg sich zu dem Satz: 'Wir wollen sie restlos
zum Verschwinden bringen.' Keine zwei Stunden danach war
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Rollrasen über den Platz gelegt worden, der ihn aussehen ließ, als
sei nichts gewesen.
Aktivistin:
Wir haben dann die Räume in der TU besetzt und sind wieder
rausgeflogen, danach gab’s ein Asyl in der Kirche. Parallel liefen
immer die Verhandlungen mit dem Senat. Es ging um die Verlegung
des Asylverfahrens von Hoyerswerda nach Berlin, um Berlin als
Zweitflucht anerkennen zu lassen, damit sind wir elendig gescheitert.
Der Senat hat sich auf nichts eingelassen. Und dann wurde einzeln
entschieden. Einige sind zurück nach Hoyerswerda, viele sind in die
Illegalität und einige haben auch geheiratet. Die politische Situation
ist zeitgleich immer beschissener geworden. Und wir haben verloren
auf allen Ebenen!
Lukas:
Nach zwei Jahren, in denen mittags das Geschirr klapperte und
abends in ihren Zelten die Lichter ausgingen; ein Platz voller
Menschen, sichtbar, hörbar, bemerkbar, ein Getümmel, jetzt glänzt
grüner Rollrasen.
Aktivistin:
Ok, wenn es auf politischer Ebene so schwierig ist, dann müssen wir
individuelle Lösungen auch in Erwägung ziehen.
Wir haben Broschüren gemacht. Und da ging es darum, wie geht
man mit Scheinehen um, wie verhält man sich auf der
Ausländerbehörde auftritt, was macht man bei Kontrollbesuchen und
wie verhält man sich bei getrennten Befragungen? Drei von uns aus
der Gruppe, drei Frauen, haben dann junge Männer aus Ghana
geheiratet, mit denen wir über Jahre zu tun hatte. Das waren Freddy,
Samuel und Nikolas. Sie haben alle drei dann einen unbefristeten
Aufenthalt bekommen nach fünf Jahren, nach sieben haben wir uns
wieder scheiden lassen.
Lukas:
Inzwischen patrouillieren sie stündlich, der Park ist totalüberwacht,
das macht ihn zum Geisterpark.
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Es ist ein seltsames Dasein, ich bestelle mir einen zweiten Aperitif
und sehe zu, wie sie Jagd auf Flüchtlinge machen.
Aktivistin:
Das regelt natürlich nicht alles, alle drei haben keine besseren Jobs
gefunden: Freddy beispielsweise ist in der Küche geblieben, in der er
auch vorher auch schon gearbeitet hat, aber ihm hat das nicht so viel
bedeutet; Nikolas dagegen war weiter politisch engagiert, sehr
engagiert, er wurde dann aber später in der Frankfurter U-bahn von
Wachleuten zusammengeschlagen, das hat ihn für lange Zeit
gebrochen. Samuel hat sich einen Traum erfüllt, er ist DJ, das ist das,
was er sein wollte hier in Deutschland.
Lukas:
Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?!
Und wir aufhören, menschlich zu empfinden?!
Und wir es gar nicht bemerken? Dass wir aufgehört haben.
8. Szene
Susanna:
Du wohnst, du arbeitest, du besorgst dir dein Essen, du tust, was
andere Menschen auch tun, dennoch ist alles, was du tust, illegal,
solange du nicht über einen Ausweis dazugehörst. Ohne legalen
Status kannst du dir kein Hotelzimmer buchen. Du kannst dich auf
keine Parkbank setzen. Dennoch: für mich gibt es Schlimmeres, als
ohne legalen Status zu sein, nämlich in einem Asylbewerberheim
untätig dem Leben zuzusehen, wie es vergeht.
Aktivistin:
Über den individuellen Weg hatten wir inzwischen alles ausgereizt,
dennoch mussten wir uns sagen: politisch kommen wir so keinen
Schritt weiter. Wir müssen politische Forderung und die
Unterstützung, die ganz konkrete Unterstützung zusammenbringen!
Susanna:
Der Staat ist dein täglicher Gegner. Denn der Staat ist vergesslich,
wenn es um die Menschenrechte geht, aber sehr penibel, wenn es
um seine Gesetze geht. Du, die Illegale, die es gar nicht geben
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dürfte, musst ihm die Paragraphen zeigen und erzwingen, dass sie
eingehalten werden.
Aktivistin:
Aus den Gesprächen mit den Flüchtlingen, vor allem mit den
Illegalisierten, dass die medizinische Versorgung das Wichtigste ist.
Damit steht und fällt für sie alles. Und vor alle dann, wenn sie ins
Krankenhaus müssen. Die Situation im Krankenhaus ist so, dass das
Krankenhaus fordert vom Sozialamt die Kosten ein. Das Sozialamt
stellt fest: Der Mensch hat keinen Aufenthaltsstatus, ist illegal und
schaltet dann womöglich die Ausländerbehörde ein. Die sagen: 'Ok,
wenn der gesund ist, wird er abgeschoben!'
Susanna:
Resolution 217 A der Generalversammlung der Vereinten
Nationen: "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Artikel 1: Alle
Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie
sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im
Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Artikel 9: Niemand darf
willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes
verwiesen werden."
Aktivistin:
Gut, haben wir gedacht, also müssen wir jetzt Strukturen aufbauen,
die die Illegalisierten nutzen können. Und wir haben angefange, Ärzte
anzusprechen, Hebammen, Krankengymnasten, alles, was im
medizinischen Bereich wichtig ist, Zahnärzte,, um eine Behandlung
ohne Krankenschein zu ermöglichen. Wir haben viele gefunden.
Viele, viele Ärzte waren bereit und haben mitgemacht. Und wir haben
auch Krankenhäuser gefunden, die eingestiegen sind und mit uns
zusammengearbeitet haben. Wir kriegen beispielsweise eine Geburt
für 240 Euro. Und auch für Abtreibungen haben wir feste Sätze
vereinbart.
Susanna:
"Artikel 23 der Menschenrechte: Absatz 1: Jeder hat das Recht auf
Arbeit. Absatz 2: Jeder hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche
Arbeit. Auf eine Unfallversicherung, auf Krankengeld, auf Urlaub und
auf freie Tage.
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Aktivistin:
Die Rechnungen begleichen wir, und wir haben das Geld über
Spenden. Paragraphen gibt es nicht, für das was wir tun, das ganze
spielt sich in einer Grauzone ab. Am Anfang war es eine hoch
brenzlige Situation für uns. Und wir hatten für den Fall der Fälle,
dass die Polizei kommt, noch die Alarm-Sirene unterm Tisch.
Susanna:
Der illegale Sektor ist die Schattenwelt der Arbeits- und
Wirtschaftswelt, sie lebt von uns, den Illegalen, und so, wie wir von
ihr abhängig sind, ist sie es von uns.
Du hast mich bei dir arbeiten lassen, aber nicht bezahlt? Okay, wir
schicken dir vom Anwalt einen Brief und dann funktioniert das
meistens. Wenn nicht, ziehen wir vors Arbeitsgericht. Ich kann vor
Gericht klagen, auch ohne legalen Status. Der Arbeitsrichter ist nicht
verpflichtet, es zu melden. So haben wir manchmal Erfolg, wo es
zuerst fast unmöglich erscheint.
9. Szene
Aktivist:
Ich habe den Geist der Revolution nie geatmet, aber dem
Bestehenden so viel wie möglich entgegenzusetzen, das empfinde
ich als dringliche Notwendigkeit.
Ich gebe ihnen Lebensmittelgutscheine, die ich von
Lebensmittelfirmen organisiere. Ich geb ihnen die Nummern von
Ärztinnen und Ärzten, die sie anrufen können.
Und ich organisiere ihnen den Briefkasten, damit sie Post bekommen
können.
Manchmal ist es Hilfe, wenn ich ihnen sage, dass sie verschwinden
sollen, eine Zeitlang, das bringt fast niemand auf, jeder will ihnen
Hoffnung machen.
Aber wenn sie erstmal im Schubhaft sind, ist es zu spät. In der
Schubhaft kannst du keinen Asylantrag mehr stellen, daher sag ich:
geh jetzt! Das ist jetzt das Ende und es geht jetzt nicht mehr weiter.
Du kannst dich noch von zehn weiteren Leuten beraten lassen, du
kannst zu Anwälten gehen, du kannst Briefe schreiben lassen,
Bittgesuche tippen, Anträge stellen - sie werden dir alle ein bisschen
Mut machen und alle ein wenig Geld abknöpfen. Hast du einen Plan
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B? Dann hol ihn jetzt raus.
Du musst jetzt gehen, bevor sie dich holen.
Und sie werden es tun. Sie nutzen die Zeit, in der du haderst, in der
du dich nicht lösen kannst, in der du dich nicht entscheiden kannst,
die meisten trifft es, weil sie sich nicht losreißen können.
Und wenn ich dann nicht gleichzeitig öffentlich auftrete und sage:
Es braucht einen rechtlichen Status für die, die nirgends hinkönnen,
dann hab ich das Gefühl, ich arbeite dem System auch noch in die
Hände.
Audio-Collage aus Making-Of-Material:
-
Womit fangen wir an? Mit den Texten vom Rechtsanwalt?
-
Ah ja, ich war irritiert, weil ich glaube, diesen letzten Satz habe ich
gar nicht vorgelesen
-
Ist es ein bisschen zu aggressiv? Soll ich ein bisschen lockerer
sprechen?
-
Okay, ich mach noch mal den Absatz
10. Szene
(Rechtsanwalt spricht im Hintergrund in der Atmo)
Lukas:
Ich nehme an einem Workshop teil, der es mir ermöglichen soll,
Asylbewerbern bei ihrer Vorbereitungen auf die Anhörung zu
beraten.
Rechtsanwalt:
Die erste Anhörung ist meistens auch die letzte, sie entscheidet über
das ganze weitere Schicksal! Aber: Sie ist voller Fallstricke und
Fallen!
Lukas:
Werd ich das jemals können? Und die anderen? Eine syrische
Juristin, die sich um ihre Landsleute kümmern will, eine Studentin, die
bei Amnesty hospitiert, ein junger Mann, der in einem Auffanglager
arbeitet, zwei weitere Frauen die vorhaben, unbegleiteten
Minderjährigen zu helfen...
24
Rechtsanwalt:
Zuallererst, vergesst nie: Ein freundliches Auftreten stimmt auch die
Beamten freundlich, sie haben es gerne ruhig und aufgeräumt.
Lukas:
Und da ist noch diese hochgeschminkte Frau, die so gerade dasitzt,
als würde sie meditieren, ihre zu einem dunklen Strich gezupften
Augenbrauen machen den Eindruck, als sei sie immerzu erstaunt.
Rechtsanwalt:
Asyl bekomm ich nur aufgrund von politischer Verfolgung, ich muss
genau sagen, wo, wie und warum ich politisch verfolgt wurde.
Lukas:
Sie kam mit einem weißen Audi-Coupé angefahren, schien sich aber
nicht zu genieren, im schneeweißen Audi-Coupé hier anzufahren, ins
kleinste Büro der Welt, wo der eine aufstehen muss, wenn der
andere zur Tür herein will.
Rechtsanwalt:
Wenn ich in einer Partei organisiert war, muss ich meine gehobene
Position betonen. Nur in der Basis einer Partei aktiv gewesen zu sein,
zählt nicht!
Lukas:
Das ist das Reich von José, dem deutsch-spanischen Anwalt, der
diese Workshops gibt. Er hat seine feste Anstellung in einer gut
laufenden Wirtschaftskanzlei aufgegeben und ist ins Asylrecht
übergewechselt, wo er sich in dieser Mini-Büro-Zelle niedergelassen
hat, die wahrscheinlich nicht größer ist als die Besenkammer seiner
früheren Kanzlei. Für die Schulung hat er einen Sitzungssaal
angemietet, wir können freiwillig spenden.
Rechtsanwalt:
Wenn sich im Dorf oder innerhalb der Familie Schreckliches
zugetragen hat - Familienfehden, Racheakte, Morddrohungen, so,
zählt das nicht. Es zählen nur politische Verfolgungen. Es gibt wenige
Ausnahmen, zum Beispiel Minderjährige, die auch wegen sexueller
Gewalt Asyl beantragen können.
Lukas:
Die Augenbrauen der Frau gehen nach oben.
Rechtsanwalt:
Die Verfolgung muss individuell sein. Das hat mit der westlichen
Tradition zu tun, die nur die individuelle Verfolgung zulässt, nicht die
einer ganzen Gruppe. Wenn man beispielsweise sagt, dass das
eigene Dort in einem Bürgerkrieg bombardiert wurde, dafür bekommt
man garantiert kein Asyl. Im Mittelpunkt muss die eigene persönliche
Geschichte stehen, und zwar ausführlich, mit präzisen Hintergründen,
die gesamte Erzählung bis zum Tag der Ausreise, vollständig und
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ohne Widersprüche. Tränenausbruch ist okay. Auch Wunden können
während des Interviews gezeigt werden.
Lukas:
Wenn jemand traumatisiert ist?
Rechtsalwalt:
Ja, dann muss er zum Psychologen gehen, damit er über seine
Verletzungen und Traumata sprechen kann. Was nicht gesagt wird,
zählt nicht.
Lukas:
Wenn er so traumatisiert ist, dass er nicht weiß, was während der
Verfolgung mit ihm passiert ist?
Rechtsanwalt:
Dann muss er auch das sagen. Denn die Flucht, die wir vortragen,
die muss eine begründete Flucht sein, keine subjektiv empfundene.
Auch die schrecklichste Erfahrung darf nicht subjektiv
wahrgenommen, sondern muss objektiv beschrieben werden.
Vor allem: Nicht nachlassen, denn Deutschland will dir grundsätzlich
kein Asyl gewähren.
Lukas:
Diesmal gehen ihre Augenlider nach unten.
Rechtsanwalt:
Nochmal! Was sind die Maximen?
Lukas:
Du darfst reden, solange du das möchtest und für richtig findest.
Bis du alles gesagt hast.
Und wenn es vierundzwanzig Stunden dauert.
Wenn du unterbrochen wirst, nimm danach den Faden in aller Ruhe
wieder auf.
Und vergiss nie: sie sind nicht auf deiner Seite. Das heißt!
Kein vertrauensseliges Verhältnis zu dem Menschen, mit dem ich
gerade spreche, denn der hat kein vertrauensseliges zu mir.
Du bleibst freundlich, ruhig und aufgeräumt.
Plötzlich hebt die Frau den Kopf, sie blickt in die Runde und sagt:
Aber die haben ja gar keine Chance!
Alle schauen sie an, erstaunt, dass sie das erst jetzt so sieht. Und
dann sagt die Frau in aller Aufgeräumtheit:
Man wird ja immer wütender.
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Rechtsanwalt:
Manchmal gelingt auch ein positiver Bescheid. Ihr könnt als Berater
vieles erreichen, indem er eine Art Lobbying betreibt.
Denn auch unter den Befragern gibt es solche und solche. Es gibt
die, die den Dolmetscher zur Seite nehmen und ins Ohr flüstern, was
sie angesichts der aktuellen politischen Lage hören müssen, und was
man besser nicht sagt.
Lukas:
Lobbying betreiben? Gemeinsame Sache machen? Wir blicken
fragend und etwas unbehaglich in die Runde.
Rechtsanwalt:
Achtet auf den Dolmetscher, besprecht euch mit ihm, bringt ihm
persönlich den Fall näher, je mehr der Dolmetscher weiß, umso
besser ist es.
Vorher aber müsst ihr herausfinden, wer von den Dolmetschern
etwas taugt, viele übersetzen ja bewusst schlampig. Und sowieso.
Die Dolmetscher wissen, dass die Entscheider nicht auf der Seite der
Asylbewerber stehen – ja, nicht stehen sollen; wenn sie schlampig
und im Sinne des Entscheiders übersetzen, stimmen sie ihn günstig
für weitere Aufträge. Der Übersetzer wird ja pro Anhörung bezahlt.
Mit dem Dolmetscher kann alles zunichte gehen. Oder er ist auf
deiner Seite. Dann kann er dein Retter sein.
Lukas:
Er stockt. Mir wird langsam klar, dass das Bereitstellen einer
Hühnersuppe zwar wärmt, aber noch kein Leben rettet.
Rechtsanwalt:
Das Asylverfahren ist ein hartes Geschäft. Da kann es schon eine
große Rolle spielen, wieviel Geld die verschiedenen Asylbewerber in
der Tasche haben. Reiche Asylbewerber, die gut vernetzt sind,
können sich zum Beispiel einen teuren Anwalt leisten. Oder sie
können Menschen in ihrem Herkunftsland organisieren, um Beweise
zu bekommen und sie nach Deutschland zu schicken.
Arme Asylbewerber werden einfach mit ihrer Geschichte allein
gelassen.
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11. Szene
Florian:
In einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung erhob sich eine Frau
und sie fing an, aus ihrem Leben zu erzählen, das seit Jahren von
der Abschiebung bedroht war. Ihre Stimme brach immer wieder ab,
es wühlte ja auf, vor so vielen Leuten über den eigenen Fall zu
sprechen. Und als sie fertig war, war es kurz still, dann so ein
Beamter von der Ausländerbehörde, der im Publikum saß, gab sich
gerührt und meinte: "Kommen Sie doch mal bei mir vorbei!"
Ich hab sie dann zu ihm begleitet. Als wir in sein Zimmer rein sind,
konnte er sich schon nicht mehr an sie erinnern. Dann fragte er nach
ihrem Namen, er gab ihn ein und sagte dann: "Aber Sie sind doch
schon abgeschoben worden!?" Ja, und eine Woche später kam der
Bescheid.
Er muss gleich nach unserem Gespräch die Abschiebung veranlasst
haben. Nachweisen kann ich nichts, und auch wenn ich's könnte: ich
es würde nichts helfen; die Abschiebung ist ja vollzogen worden. Ich
hab mich an dem Abend dann ziemlich abgeschossen.
Lukas:
Arbeitsgruppen haben sich aus dem Workshop von José gebildet. Ich
bekomme hunderte Mails der verschiedenen Gruppen. Einmal hab
ich mich zurück gemeldet. Noch bin ich nicht hingegangen in die
Erstaufnahmelager und Flüchtlichsheime, um sie für die Anhörung zu
trainieren. Auch zu den weiteren Besprechungen in den
Privatwohnungen bin ich nicht mit. Noch nicht.
Epilog
Florian:
Alle Ängste, Nachteile und Zweifel, die ich hatte, alles Negative was
mein Engagement mit sich brachte – das sind doch eigentlich
Nichtigkeiten. Es ist eben nicht der Stoff, wo du so ein Helden-Epos
draus strickst. Es läuft eigentlich so ab: Man beschäftigt halt sich ein
paar Stunden am Tag mit Menschen, die all diese beschissenen
existenziellen Gefühle durchlaufen: Sei es jetzt. Angst, Wut, Hass,
Sorge, Desillusionierung. Und ja: Das nimmt einen mit. Das lässt
nicht kalt. Aber man selbst ist eben nicht davon betroffen. Ich kann
mir immer noch abends schön die Birne wegknallen oder sonst wie
aus diesem Problem-Kontext aussteigen. Die Betroffenen nicht. Das
hat nichts mit dem Widerstand zu tun, wie ich ihn verstehe. Damit
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verbinde ich vor allem Menschen, die während der NS-Zeit anderen
geholfen haben. Für mich ist dieser Begriff für diese Leute reserviert.
Ich würde ihn auch zulassen für andere, die viel riskieren um
solidarisch zu sein. Aber das hab ich ja gar nicht. Mein politisches
Engagement hat für mich marginale negative Konsequenzen gehabt.
Selbst wenn es damals irgendwie dumm gelaufen wäre und ich bei
dieser Fahrt erwischt worden wäre: Die Konsequenzen wären nicht
so gewesen, dass ich mich davon nicht hätte erholen können.
ABSAGE: "Illegale Helfer"
Hörspiel von Maxi Obexer
Mitarbeit: Lars Studer
Regie: Martin Zylka
"Illegale Helfer"
Hörspiel von Maxi Obexer
Mitarbeit: Lars Studer
Mit
Michael Genner
Dagi Knellessen
Íñigo Valdenebro
Ulrike B.
Renate S.
Florian T.
und Lars Studer
sowie
Martin Brambach als Verwaltungsrichter
Baharak Alizadeh als Aktivistin mit illegalem Status
und Bernhard Bauer als Aktivist
Technische Realisation:
Gertrudt Melcher, Jens Peter Hamacher und Jonas Bergler
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Regieassistenz: Simon Kamphans
Regie: Martin Zylka
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks, Köln 2015
Dramaturgie: Isabel Platthaus
- ENDE-
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