Predigt - Rhabanus-Maurus

„Schwachstellen“ – Predigt zum Abiturgottesdienst 2015
Liebe Freunde,
ich habe mich sehr gefreut, als ihr mich gefragt habt, ob ich Euch
heute beim Abiturgottesdienst die Predigt halte, aber dann hat mir
diese ehrenwerte Einladung doch etwas Kopfzerbrechen
verursacht. Das ist ja ein ganz besonderer Tag! Ihr habt das Abitur
in der Tasche und wollt jetzt sicher nicht noch eine weitere
Religionsstunde über euch ergehen lassen. So war ich auf der
Suche nach etwas Besonderem – und habe (zufällig?) beim
Aufräumen in meinem Schreibtisch ein kleines Stück Holz
gefunden, das mir der Pfarrer und Schriftsteller Elmar Gruber
(1931-2011) vor vielen Jahren geschenkt hat. Und das möchte ich
euch auf euren Weg ins Leben nach der Schule mitgeben.
Ein Vierkantholz, etwa 10 Zentimeter lang, in der Mitte eine Kerbe,
ein kleines Stück herausgesägt, eine Schwachstelle. Es hält einiges
aus, aber wenn das Holz zu stark belastet wird, wird es genau an
dieser Stelle brechen.
So ist auch der Mensch: Er hält viel aus, aber wenn es zu viel wird,
kann er zerbrechen – an seinen Schwachstellen.
Jeder Mensch hat seine persönlichen Schwachstellen: körperlich,
intellektuell, seelisch, und keiner muss sich seiner Schwächen
schämen, denn keiner ist perfekt Aber wie der Mensch mit seinen
Schwachstellen umgeht – da gibt es ganz große Unterschiede.
Ich kann versuchen, meine Schwächen zu verstecken, und das ist
ziemlich anstrengend. Wer einen Bauch hat, zieht ihn dann ein,
aber bequem ist das nicht. Ich habe keinen Bauch, aber erinnere
mich noch gut an einen wenig entspannten Abend in der
Gesellschaft eines älteren Herren: Ich hatte ihm erzählt, dass ich
unter anderem an unserer Schule Philosophiekurse halte, und dann
kam die verhängnisvolle Frage: „Sie kennen Hegel?“ – Hätte ich der
Wahrheit entsprechend geantwortet, dass ich über den Namen
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dieses Philosophen hinaus wenig mehr wusste, als wann er so
ungefähr gelebt hat, ich hätte das Abendessen genossen, denn bei
dem älteren Herrn handelte es sich um einen Philosophieprofessor,
der sich sein Forscherleben lang intensiv mit Georg Friedrich
Wilhelm Hegel beschäftigt hat. Ob der Herr Professor gemerkt hat,
wie blank ich an dieser Stelle war, weiß ich nicht, aber ich erinnere
mich noch gut, wie mir der Schweiß auf der Stirn stand, weil ich
mein Gegenüber mit einigermaßen klugen Fragen am Reden halten
wollte – nur dass ich nichts sagen musste.
Überhaupt: eine demonstrativ zur Schau getragene weiße Weste
lädt die Umwelt ein, doch noch irgendwo einen Fleck zu suchen,
der natürlich auch gefunden wird. Und so gilt dann in der Rhetorik
auch der Grundsatz: Perfektion erzeugt Aggression. Menschen, die
ihre Schwächen verstecken und „auf perfekt machen“ (vielleicht
sind wir Lehrer an dieser Stelle besonders gefährdet), sind
jedenfalls wenig sympathisch.
Auch der entgegengesetzte Weg ist keine gute Lösung: Wenn ein
Mensch sich mit seinen Schwächen wichtig macht nach dem Motto:
„Ich bin so blöd, ich bin so ungeschickt … ich bin so arm und immer
auch ein wenig krank – ihr müsst alle ganz lieb sein zu mir“. Ein
Verfahren, das auch nicht wenig verbreitet ist. Jedenfalls gehört es
in gewissen Kreisen einfach zum guten Ton, dass man – etwa über
die unmenschliche Arbeitsbelastung – ausgiebig jammert. Auch hier
sind wir Lehrer sehr gefährdet: die schlimmen Schüler, die
anstrengenden Eltern, das dauernde Korrigieren!
Und wenn einer nach Unterrichtsende ein Liedchen vor sich hin
pfeift, steht er sofort unter dem Verdacht, seine Arbeit nicht
hinreichend ernst zu nehmen – oder so reich zu sein, dass er gar
nicht arbeiten muss.
Folgendes Verfahren scheint mir aber am weitesten verbreitet: Ich
kann mich an den Schwächen anderer aufbauen in der durchaus
berechtigten Hoffnung, dass dann meine eigene Schwächen in der
entsprechenden Gesellschaft nicht mehr so auffallen.
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Wer von euch hat sich denn noch nie mit der schlechten Note
seines Banknachbarn getröstet, und den armen Eltern wird dann
erzählt, „dass es gaaanz viele 6er gegeben hat“.
Und das hat es immer schon gegeben: Der römische Dichter
Martial (40-102 n. Chr.) erzählt in einem seiner köstlich bösen
Gedichte von einer Frau, die sich rührend um die älteren Damen im
alten Rom kümmert, aber dann kommt die Gemeinheit, wenn er
ganz am Ende sagt: „Hic es puella.“ – Hier, in dieser Gesellschaft
alter, hässlicher Weiber, bist du ein junges, schönes Mädchen.
Die Reichen und die Schönen sind wirklich eine Herausforderung
für den Durchschnitt, aber für den gibt es ja die entsprechende
Lektüre: Zeitschriften, wie sie beim Friseur oder Zahnarzt gerne
herumliegen, und da kann man lesen: Sie sind reich, sie sind
schön, aber sie haben – Gott sei Dank! – Krebs, werden betrogen,
kommen über die Scheidung nicht hinweg. Ein guter Freund, der
Journalist ist, hat es einmal so formuliert: „Die Menschen wollen vor
allem lesen, dass es Leute gibt, die noch mieser sind als sie
selber.“
An diese Stelle passt dann auch gut der (nicht ernst und schon gar
nicht gut gemeinte) Ratschlag: Wer denkt, dass er dumm ist, suche
sich einen, der noch dümmer ist; wer denkt, dass er dick ist, suche
sich einen, der noch dicker ist u.s.w.
Wenn dann einer kommt, der klug ist und schön, Sport treibt, sich
gesund ernährt und auch noch um andere kümmert, dann wird der
eben niedergemacht; und auch das gibt es schon immer: Der große
griechische Philosoph Platon (427-347 v. Chr.) stellt in seinem
berühmten Werk über den Staat die Frage, was denn passieren
wird, wenn einmal ein ganz und gar gerechter Mensch auf die Welt
kommen sollte, und gibt zur Antwort, „dass der Gerechte gegeißelt,
gefoltert, gebunden wird, dass ihm die Augen ausgebrannt werden
und dass er zuletzt nach allen Misshandlungen gekreuzigt werden
wird.“ Diese Worte, 400 Jahre vor Christus geschrieben, sollten uns
nachdenklich stimmen. Offensichtlich brauchen die Menschen
schon immer die Schlechtigkeit der anderen, um sich in ihrer
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Verkehrtheit entschuldigt zu fühlen.
Das Leben bekommt bei alledem einen unguten „Zug nach unten“,
denn solange ein Mensch an denen Maß nimmt, die noch
schlechter sind als er selber, bleibt er so dumm und so dick u.s.w. –
und weil dieses Verfahren recht verbreitet ist, kommt die
Menschheit auch nicht recht voran!
Nach so vielen schlechten Möglichkeiten sollten wir uns an die
kleine Geschichte erinnern, die wir als Lesung gehört haben. Rabbi
Jakob Jizchak von Lublin versucht gar nicht, den Schnupftabak zu
verstecken; noch weist er darauf hin, dass andere ja auch und noch
viel mehr... Und die Begründung, die ihm der alte Straßensänger
liefert, ist hinreißend: „Unser Herr, hat in Chören und Kapellen
Scharen besserer Leute als mich. Aber wenn sie ihm nicht Genüge
tun und er sich meine Harfe hervorgesucht hat, dann ist es offenbar
sein Wille, ihre und meine Art zu ertragen.“
Acht (oder neun) lange Jahre habt ihr eine katholische Schule
besucht. Ob der Unterricht am Rhabanus-Maurus-Gymnasium
besser war als anderswo, können wir kaum entscheiden; da fehlt
uns allesamt der Vergleich. Aber vielleicht seid ihr ja dem einen
oder anderen Menschen hier begegnet, der euch so angenommen
hat, wie ihr nun mal seid – auch mit euren Schwachstellen; der
freundlich geblieben ist, wenn ihr eine Dummheit gemacht habt;
vielleicht sogar in der Erinnerung an die eigenen jungen Jahre
Verständnis für euch hatte, auch wenn er das, was ihr verbrochen
habt, gar nicht gut finden konnte …
Und vielleicht ist dem einen oder anderen, womöglich beim
Morgengebet oder bei einem Gottesdienst in unserer Schulkirche,
aufgegangen, dass dieses Annehmen an einer christlichen Schule
System hat oder wenigsten haben sollte – und ein Vorbild!
Ein Schüler aus meinem letzten Leistungskurs Religion hat es
unsterblich so formuliert: „Eigentlich müsstest du dich immer wieder
mal fragen, was Jesus in Deiner Situation machen würde.“ Und
Jesus war voller Liebe und Verständnis – gerade wenn es um
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menschliche Schwächen und Fehler ging! Wir Lehrer neigen
berufsbedingt eher dazu, unseren Blick auf Fehler zu richten. Jesus
hat die Menschen anders angeschaut – mit den Augen einer „Liebe,
die nichts und niemanden aufgibt“ (D. Sölle, 1929-2003) .
Gerade beim Evangelisten Lukas spielen Menschen mit
Schwachstellen eine besondere Rolle, und immer wieder kommt es
so zu wunderbar menschlichen Szenen, wenn Jesus etwa nach
Jericho kommt und dort auf den kleinen Zöllner Zachäus trifft, von
dem wir im Evangelium hören. Und wenn der heute noch leben
würde, würde er uns jetzt sagen: „Gut, dass ich mich nicht versteckt
habe; gut, dass ich nicht auf weiße Weste gemacht habe oder
einen gesucht habe, der noch mieser war als ich! Nur so ist es zu
dieser wunderbaren Begegnung gekommen, die mein ganzes
Leben zum Guten hin verändert hat.“
Man kann also mit seinen Schwächen also auch gut umgehen! Ich
habe von Elmar Gruber damals noch ein zweites Vierkantholz mit
Schwachstelle geschenkt bekommen, und wenn ich zwei Hölzer mit
Schwachstelle habe, dann kann ich sie zusammenbauen – zu
einem Kreuz! Die Schwachstelle ist jetzt ganz besonders wichtig,
und wenn ein wenig Leim darauf kommt, wird das Kreuz bestimmt
nicht an der verbundenen Stelle brechen.
„Helden“ haben keine Schwachstellen – aber auch keine Freunde;
allenfalls einen oder mehrere Trottel um sich, dass sie noch
„heldiger“ herauskommen. Und das macht Sinn, denn „unsere
Sehnsucht nach einem Freunde ist unser Verräther“, sagt Friedrich
Nietzsche (1844-1900), und mit einem Freund kann ein „Held“
nichts anfangen, denn jeder Freund verrät ja, dass ich das Leben
allein nicht schaffe. „Helden“ sind immer allein, wer aber nicht das
Zeug zum „Helden“ hat, braucht die anderen Menschen. Und wie
oft brauche ich andere Menschen! Wenn mein Computer Probleme
macht, wenn ein Heimwerker gesucht wird, und ich in meiner
Ungeschicklichkeit alles noch schlimmer gemacht habe …
Und das ist auch eine wunderbare Erfahrung: Wenn ich merke,
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dass der andere mich braucht. Jeder Mensch, der mir in seiner
Schwäche begegnet, bietet mir die wunderbare Gelegenheit, mein
Leben mit Sinn zu füllen, und ich wünschte mir, dass alte und
behinderte Menschen in einem solchen Selbstbewusstsein viel
ungenierter die Jungen und Gesunden um Hilfe bitten.
Der Apostel Paulus sagt es einfach so: „Einer trage des anderen
Last“ (Gal 6,2). Jeder ist wichtig, jeder wird gebraucht! Erinnert
euch doch an eure Schulzeit! Da gab es den, von dem man sich gut
die Mathehausaufgabe erklären lassen konnte oder, wenn nötig,
abschreiben; den, der ein bisschen lustiger war als der Rest und
der auch in den langweiligsten Stunden noch für Heiterkeit sorgte;
den, der in der Fußballmannschaft die Tore geschossen hat; den,
der auch mal von seinem Pausenbrot abbeißen ließ, wenn man
sein eigenes zuhause vergessen hatte; den, der verständnisvoll
zugehört hat, wenn man einen Kummer auf der Seele hatte; den,
der nicht immer alles gleich verstanden hat und so dafür sorgte,
dass der Lehrer nicht noch schneller redete... So entsteht
Gemeinschaft! Der große katholische Theologe Karl Rahner (19041984) formuliert es als Gebet so: „Herr, ich danke dir, dass deine
Gerechtigkeit Ungleichheit ist, denn nur Ungleiche brauchen
einander.“
Ich habe dieses Kreuz von Elmar Gruber schon seit 31 Jahren,
aber ich nehme es immer gern in die Hand, weil es so ein starkes
Zeichen ist für das, was mir im Leben das Wichtigste ist:
Freundschaft und Liebe! Und da geht es nicht nur um gegenseitige
Hilfe!
Wenn du mit einem Menschen zusammen bist, den du liebst und
der dich liebt, musst du den Bauch nicht mehr einziehen, weil in
unbegreiflicher Kühnheit die gewusste Fragewürdigkeit des
anderen einfach übersprungen wird. Und gerade deshalb willst du
dich von deinen besten Seiten zeigen. Platon schlägt dem
Feldherrn deshalb vor, gute Freunde in der Schlachtreihe immer
nebeneinander kämpfen zu lassen. Auch wenn ihr hoffentlich nie in
die Verlegenheit kommt, in einer Schlachtreihe kämpfen zu
müssen, aber der Gedanke, der dahintersteht, ist wunderbar, und
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das Leben bekommt so einen „Zug nach oben“, wenn wir eben an
den Menschen Maß nehmen, die wir bewundern. Und jeder wird
jeden Tag klüger, schöner – und die Welt mit jedem Tag ein klein
wenig besser! Ja, wir brauchen einander! Weil Freundschaft Freude
ist. Weil der eine am anderen wächst. Goethe sagt sagt es so:
Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es keine Rettungsmittel
als Liebe.
Und wenn es ganz ernst wird, wenn Lebenspläne platzen, wichtige
Beziehungen abbrechen; wenn Krankheit und Tod unser Leben
bedrücken, dann ist es überhaupt nur noch auszuhalten, wenn
einer da ist, der dir sagt und zeigt: Du bist nicht allein in deiner Not,
mit deinem Kummer; ich bin da, bin bei dir; auch wenn wir erst
einmal nichts ändern können.
Jedes Jahr denke ich am 5. Juli an meine schlimmste Zeit in St.
Ottilien zurück. An diesem Tag ist im Jahr 2002 ein Mitschüler von
euch gestorben, nachdem ihn zwei Tage zuvor auf dem Sportplatz,
mitten unter seinen Freunden, aus heiterem Himmel ein Blitz
getroffen hatte. Wir waren ratlos, verzweifelt, todtraurig – aber wir
waren zusammen. Wenn die Bilder von damals wieder aus der
Erinnerung heraufsteigen, dann war das aber auf eine merkwürdige
Weise auch meine schönste Zeit hier in St. Ottilien. So viel ehrliche
Freundschaft, so viel herzliches Bemühen, wenn der, dem es selbst
so gar nicht gut ging, sich mit letzter Kraft noch um einen
kümmerte, den es womöglich noch schlimmer getroffen hat! Und
falls es mir nicht zuvor schon klar war, so weiß ich seitdem sicher:
Das Leben ist allein nicht auszuhalten. Und was immer an
Schlimmem auch geschehen mag, wenn ein lieber Mensch an
deiner Seite ist, dann geht es – irgendwie – schon weiter und kann
– irgendwie – auch wieder gut werden.
Ihr habt viel gelernt in euren Jahren hier in St. Ottilien – und das
meiste jetzt schon vergessen. Bei mir war's damals auch nicht
anders, und das macht auch gar nichts. Aber wenn ihr euch an die
guten Erfahrungen von Freundschaft, von Liebe und Verständnis
erinnert, die ihr hier an unserer Schule machen durftet, dann geht
ihr jetzt nicht einfach so weg von St. Ottilien. Ihr nehmt wunderbare
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Erinnerungen mit, die euch niemand je nehmen kann und die euch
ein Leben lang die Richtung angeben, wie das Leben gelingen
kann, was und wer auch immer euch auf eurem Weg begegnen
wird.
Und ihr nehmt zwei Holzstücke mit, die euch euer Leben lang
genau daran erinnern sollen – zwei ganz besondere: ich hatte dem
Bruder Rupert erzählt, dass ich sie heute für euch brauch, und er
hat Holz von einem Birnbaum genommen, der hundert Jahre hier in
St. Ottilien gestanden ist.
Ich wünsche euch alles Liebe und Gute!
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