Abiturprüfung Niedersachsen 2015 – Latein Grundlegendes Anforderungsniveau – Aufgabe I Übersetzungstext Caesar wendet sich im Senat gegen den Antrag, die gefassten Mitverschwörer Catilinas hinzurichten: 5 10 Omnia mala exempla ex rebus bonis orta sunt. Lacedaemonii devictis Atheniensibus triginta viros inposuere, qui rem publicam eorum tractarent. Ii primo coepere pessumum quemque et omnibus invisum indemnatum necare. Ea populus laetari et merito dicere fieri. Post, ubi paulatim licentia crevit, iuxta bonos et malos lubidinose interficere, ceteros metu terrere. Ita civitas servitute oppressa stultae laetitiae gravis poenas dedit. Nostra memoria victor Sulla quom Damasippum et alios eius modi, qui malo rei publicae creverant, iugulari iussit, quis non factum eius laudabat? Homines scelestos et factiosos, qui seditionibus rem publicam exagitaverant, merito necatos aiebant. Sed ea res magnae initium cladis fuit. Nam uti quisque domum aut villam, postremo vas aut vestimentum aliquoius concupiverat, dabat operam, ut is in proscriptorum numero esset. Ita illi, quibus Damasippi mors laetitiae fuerat, paulo post ipsi trahebantur. Neque prius finis iugulandi fuit, quam Sulla omnis suos divitiis explevit. Atque ego haec non in M. Tullio neque his temporibus vereor, sed in magna civitate multa et varia ingenia sunt. (145 Wörter ohne die in Z. 2 f. übersetzte Passage) Hilfen Z. 1: exemplum, i n. – Maßnahme ex rebus oriri (orior, ortus sum) – aus Anlässen hervorgehen Lacedaemonii, orum m. – die Spartaner Z. 2: triginta viri – Gemeint ist die blutige Terrorherrschaft der 30 Tyrannen (404 – 403 v. Chr.) nach der Niederlage Athens gegen Sparta im Peloponnesischen Krieg. inponere, inpono, inposui m. Dat. – über jemanden stellen qui … tractarent – die … leiten sollten Z. 2 ff.: Ii primo coepere pessumum quemque et omnibus invisum indemnatum necare. Ea populus laetari et merito dicere fieri. – Diese begannen zunächst damit, gerade die Schlechtesten und allen Verhassten ohne Gerichtsurteil hinzurichten. Darüber freute sich das Volk und sagte, es geschehe zu Recht. Z. 4: iuxta (Adv.) – gleichermaßen lubidinose (Adv.) – willkürlich Z. 5 f: gravis poena dare (do, dedi) m. Dat. – für etwas schwer büßen Z. 6: nostra memoria – zu unserer Zeit Sulla, ae m. – römischer Politiker, Diktator von 82 bis 79 v. Chr., in diesem Amt u. a. mit der Vollmacht ausgestattet, römische Bürger ohne ordentliches Gerichtsverfahren hinrichten zu lassen Damasippus, i m. – Gemeint ist Lucius Iunius Brutus Damasippus, ein prominenter Anhänger von Sullas Gegner Marius. Z. 7: crescere, cresco, crevi – hier: emporkommen Z. 8: factiosus, a, um – herrschsüchtig GA 2015-1 Z. 9: uti quisque – sobald jemand; sobald einer Z. 10 f in proscriptorum numero esset – auf die Liste der Geächteten gelangen (Unter Sullas Diktatur wurden viele Bürger willkürlich auf Todeslisten gesetzt und verfolgt.) Z. 11: Damasippus – siehe Hilfe zu Z. 6 laetitiae esse – Grund zur Freude sein Z. 12: trahere, traho – fortschleppen prius … quam – eher … als, eher … bis Sulla, ae m. – siehe Hilfe zu Z. 6 Z. 13: explere, expleo, explevi m. Abl. – mit etw. sättigen in M. Tullio – bei Marcus Tullius (Gemeint ist Marcus Tullius Cicero, der Konsul des Jahres 63 v. Chr.) Z. 14: ingenium, i n. – Persönlichkeit; Charakter Aufgabenstellung I. Übersetzung Übersetzen Sie den anliegenden lateinischen Text in angemessenes Deutsch! II. Interpretation 1. Arbeiten Sie aus dem Text die Argumente Caesars gegen die Hinrichtung der Mitverschwörer Catilinas heraus. 2. Nenne Sie vier verschiedene sprachlich-stilistische Mittel, die im Text erscheinen, und erklären Sie deren Funktion im Textzusammenhang. 3. Stellen Sie unter Bezugnahme auf den Text Sallusts moralisierende Geschichtsschreibung dar und erläutern Sie, in welcher Hinsicht sich dieses Geschichtsverständnis von dem teleologischen Geschichtsverständnis, wie es in Vergils Aeneis deutlich wird, unterscheidet. GA 2015-2 Lösungsvorschläge I. Übersetzung Alle schlechten Maßnahmen sind aus guten Anlässen hervorgegangen. Die Spartaner haben 30 Männer über die besiegten Athener gestellt, die deren Staat leiten sollten. Diese begannen zunächst damit, gerade die Schlechtesten und allen Verhassten ohne Gerichtsurteil hinzurichten. Darüber freute sich das Volk und sagte, es geschehe zu Recht. Später, sobald allmählich die Willkür gewachsen war, töteten sie willkürlich gleichermaßen die Guten und die Schlechten, die übrigen versetzten sie mit Angst in Schrecken. So büßte die Bürgerschaft, durch Knechtschaft unterdrückt, schwer für ihre dumme Freude. Als zu unserer Zeit der Sieger Sulla Damasippus und andere derartige Leute, die durch das Verderben des Staates emporgekommen waren, erdrosseln ließ (wörtlich: … Sulla befahl, dass Damasippus und andere … erdrosselt werden sollten), wer lobte da nicht seine Tat? Sie sagten, verbrecherische und herrschsüchtige Menschen, die durch Hetzen den Staat aufgewiegelt hatten, seien zu Recht getötet worden. Aber diese Tat war der Anfang einer großen Niederlage. Denn sobald einer ein Haus oder eine Villa, schließlich ein Gefäß oder ein Kleidungsstück irgendeines Menschen begehrt hatte, gab er sich Mühe, dass dieser auf die Liste der Geächteten gelangte. So wurden jene, denen der Tod des Damasippus Grund zur Freude gewesen war, wenig später selbst fortgeschleppt und das Erdrosseln nahm nicht eher ein Ende (wörtlich: Es gab nicht eher ein Ende des Erdrosselns), bis Sulla alle seine Leute mit Reichtum gesättigt hatte. Und ich fürchte dies nicht bei Marcus Tullius und nicht in dieser Zeit, aber in einer großen Bürgerschaft gibt es viele und verSall. Cat. 51, 27 – 35 schiedenartige Charaktere. II. Interpretation r r r r r 1. Listen Sie auf einem Konzeptblatt – ausgehend vom Einleitungssatz – die Vorgänge bei beiden geschichtlichen Beispielen der Reihe nach auf und entdecken Sie die parallele Struktur der Beispiele. Entwerfen Sie dann eine kurze Einleitung und einen logischen Schluss der Argumentation, bevor Sie mit der ReinAnforderungsbereich: II, Bewertungsfaktor: 1 schrift beginnen. Caesar führt als entscheidendes Argument gegen die Hinrichtung der Mitverschwörer Catilinas an, dass aus einem guten Anlass heraus meist schlechte Maßnahmen entstanden seien (Z. 1: Omnia mala exempla ex rebus bonis orta sunt). Dies stützt er mithilfe zweier geschichtlicher Beispiele: • ein weiter zurückliegendes, aber sehr bekanntes Beispiel aus Griechenland: Die Herrschaft der Dreißig nach der Niederlage Athens im Peleponnesischen Krieg (Z. 1– 6 a: Lacedaemonii devictis Atheniensibus triginta viros inposuere …). GA 2015-3 • ein näherliegendes, deshalb einem Römer noch viel bekannteres Beispiel aus Roms jüngster Vergangenheit: die Diktatur Sullas nach dem Sieg im Bürgerkrieg (Z. 6 b –13 a: Nostra memoria victor Sulla …). Wird allein schon durch die zeitliche Anordnung eine Steigerung der Aufmerksamkeit erzielt, so erst Recht durch den formalen Aufbau, da beide inhaltlich völlig parallel vorgetragen werden: • gerechtfertigte Hinrichtung von Verbrechern durch wenige (Z. 2 / 3; Z. 6 /7) • gerechtfertigte Freude aller (Z. 3 / 4; Z. 7) • Wachsen der Willkür von wenigen (Z. 4; Z. 9 /10) • Folge: Tötung von guten und schlechten Bürgern aus Habgier (Z. 4 / 5; Z. 9 –11) • Knechtung des ganzen Volkes (Z. 5; Z. 11/12) Caesar ermahnt hier die Senatoren, aus der Geschichte zu lernen und deshalb entsprechend richtig in seinem Sinne zu entscheiden. Auch wenn unter dem Konsul Cicero solche Maßnahmen nicht zu erwarten seien (Z. 13: haec non in M. Tullio … vereor), eröffne ein solcher Präzedenzfall möglichen Machtmissbrauch für die Zukunft (Z. 13 /14.: sed in magna civitate multa et varia ingenia sunt). r r r r r r r r 2. Notieren Sie sich schon bei der Übersetzung die Ihnen auffallenden Stilmittel am Rande der Textvorlage. Stilmittel haben immer eine Funktion: Sie dienen dazu, wichtigen Inhalt auch formal hervorzuheben. Es kommt also darauf an, das Zusammenwirken von Inhalt und Form herauszuarbeiten. Anstatt alle im Text verwendeten Stilmittel aufzuzählen, ist es wichtig an vier Stellen exemplarisch zu erläutern, wie die Kernaussagen durch Stilmittel akzentuiert werden. Der Lösungsvorschlag enthält mehr als die geforderten vier Beispiele. Anforderungsbereich: I – II, Bewertungsfaktor: 1 Sallust verstärkt im vorliegenden Textabschnitt die entscheidenden Argumente zusätzlich durch Verwendung von Stilmitteln, um deren Offensichtlichkeit noch deutlicher hervorzuheben: Das entscheidende Argument (Omnia mala exempla ex rebus bonis orta sunt, Z. 1) wird in Form einer Sentenz präsentiert, die eine Antithese (mala / bonis) beinhaltet, wodurch eine bessere Einprägsamkeit und damit Nachhaltigkeit dieses geschichtlichen bzw. politischen „Gesetzes“ im Gedächtnis der Zuhörer gewährleistet werden soll. Durch den Parallelismus (Z. 4 / 5: iuxta bonos et malos lubidinose interficere, ceteros metu terrere) werden formal sehr klar die parallelen inhaltlichen Folgen der Willkürherrschaft aufgezeigt und verdeutlicht. Das Hyperbaton (Z. 5: civitas servitute oppressa) verweist nachdrücklich auf den neuen Zustand der Knechtschaft, in dem sich die Bürger befinden. Durch das Trennen von civitas und oppressa wird die Aufmerksamkeit auf servitute gelenkt und dadurch der Zustand der Sklaverei hervorgehoben, der bei dem hier genannten Beispiel die Folge war. GA 2015-4
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