Versorgung von Kindern in Asylsammelunterkünften. PädNetzS

Impfaktion PädNetzSInfo:2015/3
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IMPFAKTION REUTLINGEN
Versorgung von Kindern in Asylsammelunterkünften
K
inder würden nie selber flüchten. Sie sind Mitflüchtlinge und daher besonders ihrem Leben ausgesetzt. Wir würden uns gerne besonders gut um sie
kümmern, in der Praxis fällt dies aber oft schwer.
Es gibt drei Hauptbarrieren:
Häufig Sprachbarrieren. Nicht immer ist ein Dolmetscher dabei.
Wir verstehen nicht immer das eigentliche Anliegen der Eltern
mit ihren Kindern. Und vor allem können wir unsere Anliegen im
Sinne der Kinder nicht mit den Eltern besprechen (Impfungen,
vorsorgende Gesundheitsfürsorge, sozial bessere Integration
der Kinder, Kinderschutz).
Wir können uns selten in unserer Praxis ein realistisches Bild
von den Lebensumständen der Kinder machen. Dies führt immer
wieder zu Elfenbeinturmentscheidungen. Ich denke zum Beispiel
an eine Mutter mit ihrem 6-jährigen Sohn aus Gambia. Der Sohn
hatte eine ausgeprägte Sichelzellanämie mit funktionellem Milzversagen und Schmerzattacken. Mir fiel auf, dass er im Winter
unpassend angezogen war und regelmäßig frierend in der Praxis
erschien (mit dadurch getriggerten Schmerzattacken aufgrund
von Durchblutungsstörungen der Extremitäten). Ich kümmerte mich um die Indikationsimpfungen, eine prophylaktische
Pennicillinmedikation, eine Schmerzmedikation, ich instruierte
die betreuenden Sozialarbeiter des Asylantenauffanglagers
schriftlich und bei einem Hausbesuch zur passenden Bekleidung, telefonierte mit Kindergarten, Jugendamt und später der
Schule, vermittelte einen Rechtsanwalt etc. Problematisch war
laut Fremdanamnese, dass die oft hoffnungslose und depressive Mutter mit der Versorgung des Sohnes in den schwierigen
Wohnverhältnissen des Lagers zeitweise überfordert war und
sich nicht richtig um ihn kümmern konnte. Der Junge wurde
mit Kotschmieren verhaltensauffällig. In dieser Situation setzte
die Uniklinik Hydroxyurea (Siklos®) ein zur Verbesserung der
Sichelzellanämiesymptome; ein hochpreisiges Medikament, für
dessen Kosten man Mutter und Sohn ein erträglicheres Leben
hätte ermöglichen können, welches wahrscheinlich ebenso die
Symptome gelindert hätte. Ich weiß nicht, wie der Verlauf weitergegangen ist, die Mutter zog um nach Kassel.
Termine:
Die Familien kommen gerne ohne Termin in die Sprechstunde,
bringen dann aber Probleme mit, die diese Sprechstunde sprengen. Macht man einen Folgetermin aus, um der Situation gerecht
werden zu können, wird dieser Termin oft nicht eingehalten.
Oft wird gesagt, dass das Gesundheitsamt hier eine Aufgabe
habe. Die erste ärztliche Versorgung inklusive der amtlich
empfohlenen Schutzimpfungen wird durch die zuständige Behörde sicher gestellt. In Baden-Württemberg ist dies die untere
Aufnahmebehörde des Stadt-oder Landkreises. Wie dies konkret
geregelt wird, ist daher lokal durchaus verschieden, wie der pädiatrische Erfahrungsaustausch z.B. bei dem letzten Obleutetreffen am 3.7.2015 ergab. Das Gesundheitsamt hat normalerweise
vor allem Public-Health-Aufgaben. Ferner ist es Ansprechpartner
für die Sozialämter und Jugendämter für bestimmte ärztliche
Gutachten. Und es hat eine Geh-Struktur der aufsuchenden Fürsorge. Es hat aber nicht die optimale Infrastruktur und Expertise
für eine hausärztliche Versorgung von Patienten. Wie kann man
also die Stärken eines Gesundheitsamtes mit denen einer Arztpraxis in der Versorgung dieser Menschen verbinden?
Im Prinzip müsste man eine regelmäßige Sprechstunde in
den Räumen der Asylsammelunterkunft machen, z.B. alle vier
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PädNetzSInfo:2015/3 Impfaktion
Abb. 1
Abb. 2 und 3
Wochen an einem Nachmittag. Diese müsste kassenrechtlich
als Hausbesuch geregelt sein und abgerechnet werden. Als
Infrastruktur bräuchte man eine ausreichend schnelle (W)LANVerbindung mit einer VPN-Verbindung in die eigene Praxis zur
Dokumentation und einen 4-Schacht-Blankoformulardrucker,
der vor Ort fest stünde und in das Praxisnetz eingebunden sein
müsste. Technisch sei dies machbar. Dann bräuchte man natürlich eine Basisausstattung für Impfungen, Vorsorgen etc. Die
Akutmedizin würde dann weiter in der eigenen Praxis gemacht
wie bisher auch.
Unterstützt werden könnte eine solche Sprechstunde von einem
evt. begleitenden Sozialarbeiter und von Dolmetschern.
Ich glaube, dass sich so eine Versorgung optimieren ließe.
rungsmaterial und die Aufklärung. So blieb mir nur das Impfen
selber (s. Abb. 2) und selten eine körperliche Untersuchung oder
Feststellen von Kontraindikationen. Die Helferin dokumentierte
die Impfung im Impfbuch und in der Kartei und rechnete ab
(Impfziffer und 01413) über die VPN-Leitung im Praxissystem
und suchte sich den passenden Schein heraus (s. Abb. 3). In der
Nachbereitung wurde aus dem Praxisinformationssystem eine
Liste ausgedruckt mit den geimpften Personen zum Abgleich mit
dem Impfstoffverbrauch.
Impfsprechstunde:
Ich hatte seit Mai die Gelegenheit, in Zusammenarbeit mit dem
Gesundheitsamt Reutlingen in der Reutlinger Asylsammelunterkunft an vier Terminen eine Impfsprechstunde durchzuführen, an
der insgesamt 211 von ca. 350 dort wohnenden Personen mit
bis zu drei Impfungen geimpft werden konnten (Masern-MumpsRöteln, Varizellen, Tdap). TdapIPV ist ja leider gerade nicht
erhältlich.
Zur Vorbereitung erhielt ich von den Sozialarbeitern eine Liste
mit den Namen und Geburtsdaten, die von der (serbisch sprechenden) Helferin in das Praxisinformationssystem eingepflegt
wurden. Für jeden Bewohner kam ein Krankenschein (zusätzlich
zu dem Quartalsschein) in einen Karteikasten. Das Gesundheitsamt bestellte die Impfstoffe (wohl recht günstig), sodass
die teuren und umständlichen Einzelrezepte auf den Namen
des Patienten entfielen (die ja sonst bei sozialamtsversicherten
Patienten notwendig sind). Ferner schrieb das Gesundheitsamt
jeden Bewohner persönlich an (Serienbrief), hängte sehr gut
gestaltete Flugblätter auf (s. Abb. 1) und organisierte das Aufklä-
Es war leider sehr ungleichmäßig, wie die Impfaktionen angenommen wurden. So konnten am ersten Tag ca. 150 Personen
MMR-geimpft werden. Der zweite und vierte Tag waren eher
mau. Am dritten Tag konnten an einem Nachmittag in vier
Stunden 85 Personen geimpft werden. Erstaunlich war, dass
das Impfbuch immer wieder vorgelegt wurde. War es vergessen, musste der Impfling es wieder holen. Die Personen waren
anamnestisch in der Regel ungeimpft. Es handelte sich in der
Mehrzahl um junge, kräftige, männliche Afrikaner und einige
Familien mit Kindern (diese werden in Reutlingen unterdessen
schnell dezentral untergebracht).
Hilfreich ist grundsätzlich der direkte Kontakt zu den sonst
dort arbeitenden Mitarbeitern. Von ihnen lernt man viel über
die derzeitige Asylpolitik und -praxis in Deutschland. Sehr
lobend hervorheben möchte ich das Engagement des Reutlinger Gesundheitsamtes, deren Organisation und Unterstützung
die Aktion zu einem Erfolg werden ließ. Grundsätzlich kann ich
allen Niedergelassenen ähnliche Kooperationen jeweils vor Ort
empfehlen.
Till Reckert