24. Pflegesymposium Nottwil Vortrag über Sucht und Recovery von Hännes Kunfermann 5.11.2015 Raus aus der Sucht Sehr verehrten Damen und Herren liebe Betroffene, geschätzte Expertinnen und Experten aus Erfahrung und Fachpersonen. Sie bekommen einen Einblick in meinen immer noch wachsenden Recovery-Weg. Aller Anfang ist schwer! Es war und ist noch immer ein langer und steiniger Weg, doch es ist sinnvoll ihn zu gehen, egal in welchem Alter man startet. Mein Referat zeigt Möglichkeiten auf, was es aus der Betroffenensicht braucht und was hinderlich ist für einen Heilungsweg aus der Sucht. Aus meiner persönlichen Erfahrung ist es damit nicht getan, einfach den Substanzverzicht zu trainieren und einseitige Behandlungs,- und Suchtverträge abzuschliessen. Es braucht viel mehr für einen Heilungsweg. Erkennen der drei grossen Irrtümer! 1. Stärke vs. Schwäche. 2. Wo ein Wille ist, ist ein Weg! (Du musst nur Wollen) 3. Du musst kämpfen! r manifestierten Suchtkrankheit weitere tiefliegende Probleme, unverarbeitete Erlebnisse, festgefahrene Muster und Traumata zugrunde liegen. „No Go`s“ von der Arzt- und Pflegeseite. - und Pflegeseite. overy-Reise helfen. Wege, die Recovery offenbart. Vorstellung meiner Person Mein Name ist Hännes Kunfermann. Ich bin 52 Jahre alt und bin Vater einer Tochter, sie ist 19 Jahre jung. Ich bin verlobt und wohne in Zürich. Ich habe früher als Sanitär Monteur gearbeitet, mit der Zeit in leitender Funktion auf verschiedenen Baustellen. Inzwischen habe die Weiterbildung von Pro Mente Sana zum Genesungsbegleiter Peer absolviert. Voraussetzungen für diese Weiterbildung sind schwere psychische Erschütterungen. Ich arbeite nun 15% als Genesungsbegleiter im Sanatorium Kilchberg. 1 Meine Geschichte…… Ich bin jetzt seit 4 Jahren abstinent und auch rauchfrei und gedenke es auch zu bleiben. Meine anderen tiefen Erschütterungen bin ich dran, einen Umgang zu finden wie ich mit ihnen leben kann. Mit viel Übung und Geduld sie in den Griff zu bekommen. Ich kann nie ausschliessen, dass ich wieder einen Rückfall habe, ich kann heute, jeden Tag trainieren, dass ich genug Werkzeuge, Fertigkeiten finde um zu bestehen. ich kann nie mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich nicht wieder in eine Klinik muss. Der Frieden in mir ist fragil und eine tägliche Herausforderung. Jedoch bin ich auf einem sehr guten Weg. Ich bin überzeugt, dass in allen Fällen von Substanzmissbrauch eine weit tieferliegende Erschütterung steckt. Und die gilt es zu heilen! Die Substanz ist lediglich ein kläglicher Versuch der Selbstmedikation, die anfangs wirkt und mit fortschreitendem Missbrauch zur Sucht wird. Es werden keine Fertigkeiten mehr geübt und bei der kleinsten Herausforderung werden die Substanzen benutzt, ob jetzt in der euphorischen oder der depressiven Phase. Der Substanzmissbrauch wird zur Krankheit und chronifiziert sich. Mit diesen Erkenntnissen, so eine Ebene geschaffen wurde mit der in den Kliniken gearbeitet werden konnte, sowie ich heute noch mit meinem Einzeltherapeuten an den tief sitzenden Psychischen Erkrankungen arbeite, der Besuch des DBT Programms, in einer Selbsthilfegruppe sein, teilnehmen von Trialogen, Einnahme von Medikamenten, Achtsamkeit leben, lerne ich Tag für Tag mit meinen seelischen Erschütterungen zu leben und besser zu werden 2 Was hat mir bei meiner Recovery in der Klinik geholfen hat Was mir gut getan hat, ist die Behandlung auf Augenhöhe. Beziehung hat Heilkraft! Ich wurde ernst genommen als Mensch und meine Träume fanden gehör, so quer sie auch waren. Ich wurde miteinbezogen und die Behandlung wurde mit mir gemeinsam gemacht. Ich wurde nicht mehr stigmatisiert. Ich war kein Alkoholiker, sondern ein Mensch mit einer Alkoholerkrankung. Ein Mensch, der noch viel mehr ist als seine Krankheit. Das hat nichts mit Schwäche oder kein Wille zu tun, das ewige „Du musst nur wollen!“ und „Wo ein Wille ist, ist ein Weg!“- diese Dogmen fielen weg. Es wuchs eine Bereitschaft in mir, einen Weg zu gehen, der in die Abstinenz führt. Ohne diese Bereitschaft, diese Einsicht geht nichts! Gegen der einhelligen Meinung war bei mir die Bereitschaft am Anfang, dass ich es für meine Tochter und Partnerin gemacht habe, mit der Zeit ging es dann aber um mich. Ich wurde viel validiert. Die Fachpersonen sind greifbar geworden, wenn sie auch bei einem Gespräch gesagt haben, wann es ihnen persönlich nicht so gut ging. Vor allem waren es Wahlmöglichkeiten, die mir geboten wurden, immer und immer wieder…so dass ich in die Behandlung miteinbezogen wurde. Es ist stigmatisierend, wenn man nur auf den Willen pocht. Ein Betroffener, der es nicht schafft, wird sich selber so automatisch als schwach und willenslos fühlen. Die Erkenntnis, dass das Loskommen von der Sucht nichts mit Willen zu tun hat, war bahnbrechend. Denn Willen einsetzen heisst kämpfen und mit dem Kampf wird der Feind immer grösser, das Verlangen immer stärker. Kämpfen heisst Niederlage. Mir hat es geholfen, mich an etwas Grösseres zu wenden. Dies kann Gott sein, das Universum, ein Baum oder ein Brückenpfeiler - das, was unmittelbar grad Stimmung ist. Ein Ziel im RecoveryGedanken ist unter anderem, dass man wegkommt von der Strafkultur mit einseitigen Suchtverträgen. Der Betroffene soll mitbestimmen, was für Konsequenzen er möchte! Eine dauerhafte Genesung wird durch Compliance (Anpassung) meines Erachtens nicht erreicht. Neugier, freier Wille versus Angst und Anpassung Die Neugierde wecken! Was heisst das genau? Es war und ist auch heute noch für mich ein zentrales Element für meinen Weg und für mein Wirken als Genesungsbegleiter. Betroffene Menschen sind in Angstschlaufen und im Vermeidungsrad gefangen und sie leben in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Das kann heissen, nicht so schnell wie möglich wieder ins Alte integrieren. Denn das kann bedeuten, dort zurückgehen, wo sich all das Krankmachende oder Verstärkende befindet. Das Resultat kann sein: null Neugier, null Selbstermächtigung, null Prozess, Stillstand, wenn nicht sogar Rückschritt. Es kann sinnvoller sein, über Träume zu reden, ja sie zu finden, und damit die Neugier zu wecken, um den eigenen Weg zu gehen und in ein lebensbejahendes, spannendes Leben. Was es auch immer braucht an Zeit und Massnahmen, ich erfahre immer wieder, dass Menschen ins Strahlen kommen, wenn sie von ihren Träumen erzählen. Das ganze Gesicht geht auf, um dann Schritt für Schritt herauszufinden, was es braucht, um die Träume zu verwirklichen. Natürlich ist das nicht zu verallgemeinern, es gibt auch Menschen, die klare Ziele brauchen und gerne ins Alte zurückkehren, da dort Sicherheit, Halt und das Vertraute ist. Die Kunst ist einmal mehr, jeden Menschen individuell wahrzunehmen und dementsprechend das Gespräch zu suchen. 3 Hier 2 Folien nach Dr. Gerald Hüther zum Veranschaulichen von Vermeidung- und Neugierschlaufen. 4 Aus meiner Sicht ist es wichtig, den Menschen von Anfang an Wahlmöglichkeiten zu lassen, immer dem individuellen Fortschritt angepasst. Was gar nicht mehr geht, ist das Angepasst sein. Natürlich braucht es Regeln und Gesetze fürs Zusammenleben, aber die sind hier nicht gemeint, eher das, was die persönlichen Fortschritte betrifft. Das angepasste Verhalten also verhindert die Entwicklung enorm! Im angepasst Sein befolgt man nur Befehle, man ist also gehorsam und handelt dem Frieden zuliebe. Das heisst natürlich nicht alleine lassen zu werden, es braucht von Anfang an eine gute Struktur. Stattdessen, sollte man auf die betroffenen Menschen zugehen und herausfinden, was die wirklichen Bedürfnisse sind und gemeinsam nach Alternativen oder einem Weg suchen, auch wenn der momentane Wunsch nicht grad erfüllbar ist. Schritt für Schritt mit dem Betroffenen Entscheidungen fällen. Ein Beispiel: Wenn also Herr M. kommt und er will einen Hut, um nach draussen zu gehen, es ist aber keiner vorhanden und ich ihm 3-mal als Alternative Sonnencreme anbiete, und er lehnt immer noch ab und will den Hut, dann ist er oder sie nach altem Pflegemuster nicht einsichtig, störrisch und plötzlich nicht mehr angepasst. Nach meiner Vorstellung sollte man lieber fragen, für was der Hut denn steht - ist es Sonnenschutz oder viel mehr innerer Schutz? Wenn ich ihn frage, was er sich als Alternative vorstellen könnte und mit ihm gemeinsam etwas finde, sei es ein T- Shirt, um es um den Kopf zu binden oder ein Stirnband, einen Schirm - vielleicht besteht ja ein Kleiderfundus von vergessenen Kleider oder die Möglichkeit bei der nächsten Gelegenheit einen Hut zu kaufen – dann hat man gemeinsam eine Lösung erarbeitet und ihn ernst genommen, was seinem Bedürfnis entspricht. Hier im Diagramm sehr schön dargestellt, wie das Gehorchen also Anpassen als Teufelskreis funktioniert. Während dem angepasst Sein funktioniert alles ordentlich. Sobald man wieder selber entscheiden kann, hat man kaum das neue Verhalten verinnerlicht. Wie denn auch? Man hatte ja kaum die Gelegenheit dazu! 5 Einige wichtige Punkte Wer aufklärt, ist dafür verantwortlich, dass er verstanden wird Aufklärung muss personenzentriert erfolgen Aufklärung dient der freien Entscheidungsfindung und nicht der Compliance Selbsthilfe ersetzt Fremdhilfe Bei jedem konkreten Problem ist abzuwägen, ob und wie viel Fremdhilfe erforderlich ist Reicht Information, Beratung und Training aus, damit der Betroffene das Problem selbst lösen kann? („vorauseilende Fürsorge“) Welche Probleme und Aufgaben müssen dem Betroffenen vorübergehend abgenommen werden? („einspringende Fürsorge“) Das bedeutet für die Begleitung Akzeptanz von Eigensinn und der Respekt auch vor unkonventionellen Lebensentwürfen Respekt vor individuellen Wegen und den eigenen Zeitpunkt und der Verzicht auf vorformulierte Ziele Verzicht auf entmündigende Urteile und die Definition von Lebensproblemen, Problemlösungen und einer wünschenswerten Lebenszukunft Was es ist… Es ist Unsinn, sagt die Vernunft Es ist was es ist, sagt die Liebe Es ist Unglück, sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz, sagt die Angst Es ist aussichtslos, sagt die Einsicht Es ist was es ist, sagt die Liebe Es ist lächerlich, sagt der Stolz Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung Es ist was es ist, sagt die Liebe Erich Fried (zitiert von Disler, W.A.,2000.) 6 „…Es ist was es ist, sagt die Liebe“ - Das ist zugleich die Grundhaltung, die in der Beratung und Begleitung geschehen sollte. Es ist was es ist, heisst: Annehmen, Akzeptieren, die Neugier wecken. Das, was Dir wiederfährt, als das zu nehmen, was es ist und es nicht mit anderen und behinderten Massstäben zu messen. Das, was ist, zunächst voll anzunehmen: liebevoll achtungsvoll, vertrauensvoll. Nur was Du annimmst, kannst du gestalten. Was Du ablehnst, entzieht sich Deiner Gestaltungsmöglichkeit. Dem, was ist, Wandlung zuzutrauen. Dich mit Deinem so Sein bedingungslos und liebevoll auf den Weg zu machen. Wandle das, was ist, zu dem, was sein soll. Was mir Hilft - eine Aufzählung 7 Eine intensive Psychotherapie und Psychoedukation, in denen ich Fertigkeiten erlernen und Zusammenhänge erkennen konnte, sowie Medikation. Malen und Formen mit Ton, Stein und Gips, mit denen ich mich auf eine andere Weise auszudrücken lernte. Gespräche mit Betroffenen und wohlgesinnten Menschen, die an mich glauben. Körperstärkung: Fitness, Velo, Wandern. Wohlfühlprogramm: Saunas, Massagen, Bergluft, Atmen, auf meinem Balkon sitzen und geniessen. Akzeptanz und Anfreunden mit der Diagnose, Informationen holen. Lesen von Fachliteratur, Erfahrungen von anderen in einer Selbsthilfegruppe, Besuchen von Trialogen. Achtsamkeit in mein Leben bringen und Meditieren (immer mehr). Psychoanalyse: Meine Geschichte erkennen, meine Wahrheit erkennen. Selbstfürsorge in allen Bereichen. Weiterführende Therapien, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz, Technik der emotionalen Kompetenz, Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT). Meine Ressourcen neu kennenlernen. Ich hoffe, wieder Musik machen zu können, diesen Traum am Leben zu erhalten. Es braucht Zeit und viel Geduld und kleine Schritte, um den Weg zu gehen. Ich schliesse mit einem Zitat von Franz Grillparzer (1791- 1872) „Man sagt nicht, das schwerste sei die Tat Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung Das schwerste dieser Welt ist der Entschluss.“ In diesem Sinne - Meine Damen und Herren, frohe Entschlusskraft! Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit. Referenzen Diagramme nach Dr. Gerald Hüther von der Pro Mente Sana Peerausbildung 2014. Disler, W.A. (2000). Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Ein kleiner psychotherapeutischer Leitfaden, Erich Fried gewidmet. Selbstdruck von www.selbstpsychologie.ch Grillparzer, F. 1791- 1872, von http://www.aphorismen.de/gedicht/81388 8
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