Die Sikh-Religion In einer sich schnell verändernden globalen Welt gewinnen einheitsstiftende Werte an Bedeutung. Um nachhaltig Missstände wie Egoismus, Diskriminierung, Armut, Ausbeutung, Korruption, Terror, Fanatismus und Umweltzerstörung zu überwinden, bedarf es einer ethischen Grundhaltung, die sowohl die individuelle als auch die gemeinschaftliche Verantwortung stärkt. Einen fruchtbaren Beitrag hierzu liefert die Sikh-Religion. Sie basiert auf einer ganzheitlichen Lebensweise und zeigt auf, wie wir als Individuum und Teil einer Gemeinschaft im Einklang mit der Weisheit des Schöpfers und seiner Schöpfung leben können (Hukam). Respekt für die Schöpfung sowie eine bescheidene und würdevolle Lebensweise haben einen hohen Stellenwert für Sikhs. Daher bewahren sie ihr Haar traditionell ungeschnitten. Frauen, die ihr Haar bedecken, tragen ein dünnes Tuch oder wie Männer einen kunstvoll gebundenen Turban. Jungen tragen ein gut sitzendes kleines (Rumal) oder den ganzen Kopf bedeckendes Stück Stoff (Patka). Inspiration für ein tugendhaftes Leben Die Sikh-Religion – auch als Sikhi oder Sikhismus bekannt basiert auf zeitlosen, spirituellen Weisheiten, die in jeder Lebenssituation Orientierung liefern (Gurmat). Sie inspirieren unabhängig vom Geschlecht, Ort, sozialen oder nationalen Hintergrund zu einer tugendhaften Lebensweise. Die Verinnerlichung folgender Haltungen im Alltag ist zentral: Vertrauen in den gemeinsamen unsterblichen seelischen Ursprung aller Lebewesen und Allgegenwart des Schöpfers Lebenslange erkenntnisorientierte Entwicklung mithilfe spiritueller Weisheiten schlichte und bewusste Lebensführung (bibek bhudi) Selbstreflexions- und Dialogfähigkeit (vichar) Überwindung von Egoismus, der zu unmoralischen Handlungen führt (haumai) positive Kanalisierung von Begierde, Wut, Gier, weltliche Verhaftung und Stolz Überwindung ideologisch begründeter Hierarchien wie Rassismus, Ethnozentrismus oder Kastendenken Respektvoller Umgang mit der Umwelt und den Mitmenschen Aktives Vorgehen gegen Ungerechtigkeit Ehrlicher Verdienst des Lebensunterhaltes und Wohltätigkeit Überwindung von Aberglauben, Esoterik, Okkultismus, Horoskopen sowie ritualisierten und mit dem Körper vollzogenen Praktiken wie Pilgerreisen oder Fasten Ablehnung von Missionierung Ethisch und qualitativ orientierte Entscheidungsfindung bei persönlichen und gemeinschaftlichen Anliegen Wertschätzung von Gemeinschaft mit weisen Menschen Wertschätzung eines familiären Lebens und von Gastfreundschaft Treue in der Partnerschaft Natürlicher Umgang mit Vorgängen wie Menstruation Gesunde Lebensführung und Abstinenz von Stoffen, die das Bewusstsein und/oder den Körper schädigen und negative Nebenwirkungen für Mensch und Umwelt haben wie Nikotin, fettmachende industrielle Lebensmittel oder die Anti-Baby-Pille Distanzierung von medizinisch nicht erforderlichen und unumkehrbaren Eingriffen wie der Beschneidung Eine unendliche Einheit. Wahre Essenz. Schöpfer Wesen. Ohne Angst. Ohne Feindschaft. Zeitlose Gestalt. Ungeboren. Aus sich selbst stammend. Durch die Gnade spiritueller Weisheit erfahrbar. AGGS, Eröffnungsvers, M.1, Seite 1 Ursprung und Verbreitung Die Sikh-Religion geht maßgeblich auf Meister Nanak zurück. Er wurde 1469 in Nordindien geboren. Der belesene und weit gereiste Meister betonte nach eingehender Auseinandersetzung mit den verschiedensten © Sikh-Forum | www.sikh-religion.de weisheitsorientierte Glaubensrichtungen eine Lebensführung, die die Menschen vereint und nicht aufgrund konkurrierender Glaubensvorstellungen spaltet. Der Ehemann und Vater unterstrich, dass Religiosität auf Einsicht, seelische Erkenntnis sowie Frömmigkeit und nicht auf Routine, Konditionierung, Gruppenzwang und Äußerlichkeiten beruhen dürfe. Ausgehend von seinem und dem Wirken über ein Dutzend vorangegangener Meister (bhagat) sowie neun direkter Nachfolger, entwickelte sich die Religion im 16. Jahrhundert zu einer religiösen Gemeinschaft. Heute fühlen sich über 23 Millionen Menschen der SikhReligion zugehörig. Damit zählt sie zur fünft größten Weltreligion. Die Anhänger nennen sich Sikh, Schüler. Sikhs kommen aus den unterschiedlichsten nationalen und kulturellen Hintergründen. Die Mehrheit lebt in der Ursprungsregion im Bundesstaat Panjab in Nordindien und in Delhi. In England, Nordamerika und Australien leben mehrere Millionen Sikhs. Im deutschsprachigen Raum haben sie sich vor allem in Ballungszentren wie dem RheinMain Gebiet oder in Wien niedergelassen. In Deutschland leben schätzungsweise über 13.000 Sikhs. In fast allen Ländern der Erde gibt es Sikh-Gemeinden (Gurduara). Während Du mit dem Körper Dein Tageswerk verrichtest, belasse dein Bewusstsein stets bei dem innewohnenden Fehlerlosen. AGGS, Kabir, Seite 1376 Vom Glauben zur Weisheit Die Meister wuchsen in einer hinduistisch und muslimisch dominierten Zeit auf. Sie fühlten sich zu keiner der bestehenden Religionen zugehörig. Sie sahen sich als demütige Diener und Botschafter (das, jan) des Schöpfers und nicht als Heilige oder Propheten. Entsprechend lehnten sie jeglichen Personenkult ab. Den Einen erfuhren sie als liebende, namenlose Quelle ewiger Erkenntnis, Reinheit und Tugend. Zur Erleuchtung gelangten sie durch die Erforschung ihrer Seele - und nicht durch ein Glaubensbekenntnis oder mithilfe von Ritualen, Rezitationen, Meditationen, intellektuellen Erörterungen oder die Einhaltung von Dogmen und Kodexen. Die Meister kritisierten die Abgrenzung im Namen von Religion oder Staat, Heuchlerei, Fanatismus, Aberglauben, Prunk, ritualisierte Praktiken und die Ausgrenzung von Minderheiten. Sie hinterfragten vermeintlich unantastbare Dogmen wie das Kastensystem, die Unterdrückung von Frauen, religiöse Reinheits- und Nahrungsmittelvorschriften und die Stellung der Priester. Die Ausübung bezahlter religiöser Dienste und weltliche Bittgebete entlarvten sie als unreligiöse Handlungen. Auch distanzierten sie sich von der verbreiteten Vorstellung, dass der Schöpfer erst nach dem Tode erfahrbar sei. Ausgehend von der Einsicht des gemeinsamen Ursprungs aller Menschen leiteten sie Grundrechte wie Religions- und Meinungsfreiheit ab. Weder faste ich, noch begehre ich den Fastenmonat Ramadan. Ich diene nur dem Einen, der mich am Ende schützen wird. [5] Der Eine erteilt Gerechtigkeit an Hindus und Muslimen (alle Menschen). Weder pilgere ich nach Mekka, noch bete ich in den Tempeln der Hindus. [5] Weder vollziehe ich Rituale der Hindus, noch rezitiere ich die Gebete der Muslime. Ich habe den Formlosen im Herzen erkannt; dort verehre ich ihn voller Demut. Weder bin ich ein Hindu, noch ein Muslim. Mein Körper und Lebensatem gehören Allah (Gottesname der Muslime) und Ram (Göttliche bei den Hindus), dem namenlosen Schöpfer aller. AGGS, M. 5, Seite 1136 Spirituelle Weisheit - Grundlage für Entwicklung Sikhs finden seelische und ethische Inspiration in den Originaleinsichten der Meister (Gurbani). Das zentrale Werk wird allgemein als (Adi) Gur(u) Granth Sahib (AGGS) bezeichnet. Die einzigartige poetische Komposition enthält ausschließlich Weisheiten und kann nicht wörtlich verstanden oder übersetzt werden. Sie beruht auf Metaphern, musikalischen Melodiefolgen (Rag) und diversen Sprachen Die Einsichten der Meister wurden in der eigens entwickelten spirituellen Schriftsprache Gurmukhi verfasst. Die Verinnerlichung der Inhalte ist der zentrale Grundpfeiler des Sikh-Seins. Die Standardedition des 1708 fertig gestellten Werkes umfasst 1430 Seiten. Sikhs rezitieren die Verse regelmäßig - auch in Begleitung von Instrumenten. Hauptthema der anspruchsvollen Schrift ist das Verhältnis des Menschen zum Schöpfer. Das Leben wird als Lernort der Seele angesehen. Sie kann in der vergänglichen Welt ihren eigentlichen Ursprung und den Wert des nichtmateriellen Lebens vergegenwärtigen (nam). Gelingt diese hohe Kunst, ist der Kreislauf von Geburt und Tod unterbrochen und die Seele geht in die Quelle ewiger Weisheit auf. Gemeinschaft – Grundlage für Verantwortung Gobind Singh, der letzte Meister, gründete 1699 die Gemeinschaft Khalsa. Eine freiwillige Taufe (Khande di pahul), die fünf getaufte Sikhs durchführen (Panj Piare), markiert seither die Aufnahme in den Bund der Reinen. Dieser vereint die mündigen Sikhs, die sich vorbildlich dem ganzheitlichen Lebensweg hingeben und sich für das Gesamtwohl der Menschen einsetzen. Traditionsgemäß tragen getaufte Sikhs fünf Merkmale (Kakar). Abgesehen von den ungeschnittenen bedeckten Haaren und einem Holzkamm zur Pflege der Haare, stammen diese aus den Zeiten gewalttätiger Unterdrückung: ein eisernerer Armreif, Baumwollshorts und ein kleiner Dolch. Armreifen dienten den Verteidigern der Religion (Nihang) zur Abwehr von Schwerthieben; die Shorts erlaubten hohe Beweglichkeit. Der Dolch diente zur Verteidigung und steht für Weisheit, die die Unkenntnis besiegt. Die Merkmale dienen heute vor allem dazu, das Verantwortungsgefühl zu stärken. Das Vergängliche erachtet man als wahr. Das Wahrhafte wird nicht angenommen. [...] Auch wenn beide Wege sich gemäß der Schöpfung entfalten, werden nur die Seelenfrieden finden, die den wahrhaftigen Weg bestreiten. AGGS, M. 5, Seite 185 Die Zusammengehörigkeit der Sikhs wird traditionell durch einen gemeinsamen Nachnamen symbolisiert. Frauen tragen den Nachnamen Kaur (Prinz) und Männer den Namen Singh (Löwe). Namen, die auf eine Klanzugehörigkeit hinweisen, werden spätestens mit der Taufe abgelegt. Ist aus rechtlichen Gründen ein gemeinsamer Familienname erforderlich, fügen Sikhs ein spirituelles Wort aus den Originaleinsichten oder den Geburtsort als Familiennamen an. Respekt – Grundlage für Frieden Die Sikh-Religion legt großen Wert auf Offenheit und das Gemeinwohl. In den Gemeinden sind stets alle Menschen herzlich eingeladen, den religiösen Gesängen und Erläuterungen beizuwohnen. Für Bedürftige und von weit her Gereiste stehen kostenfreie Speisen zur Verfügung. © Sikh-Forum | www.sikh-religion.de Aufrichtigkeit – Grundlage für Hingabe Die Meister haben ein ganzheitliches Leben geführt, dass viele Suchende inspirierte. Der Zustrom aus den unterschiedlichsten Religionen, den ihre Lebensweise fand, rief allerdings auch Widerstand hervor. Vor allem dort, wo bestehende Vormachtstellungen und Dogmen ins Wanken gerieten. Der fünfte und neunte Meister wurden zu Tode gefoltert. Der zehnte Meister verlor alle vier Söhne und viele Gefährten in Verteidigungskriegen und durch Hinrichtungen. Er selbst starb an den Folgen eines Attentates. Trotz dieser Bedrohungen sahen die Meister und ihre Gefolgschaft nicht über Ungerechtigkeiten und den Missbrauch im Namen der Religion hinweg, sondern stellten sich den Mächtigen und blieben ihrem Lebensweg treu. Von der Frau wird man geboren; in der Frau wächst man heran. Mit einer Frau verlobt und vermählt man sich. Von der Frau erfahren wir Freundschaft; durch die Frau setzt sich der Gang der Welt fort. [...] Wie kann man sie als schlecht bezeichnen, wo sie doch Frommen das Leben schenkt? Aus einer Frau entsteht eine Frau, niemand wäre ohne die Frau. Nanak, ganz ohne Frau ist nur der Eine Wahre. AGGS, M. 1, Seite 473 Die Meister haben vorgelebt, dass wahrhafte Religion nicht das Wohl einer bestimmten Gruppe, sondern alle Menschen im Blick hat. Sie haben gezeigt, dass Religion niemals nach Herrschaft strebt, sondern die Regierenden und Menschen zu Weitsicht und Tugend anleitet. In diesem Sinne inspiriert die Sikh-Religion auch in der heutigen Zeit zu einer toleranten, friedlichen, solidarischen und optimistischen Haltung jenseits abgrenzender Dogmen. Links für weitere Informationen Deutsch: www.sikh-religion.de English: www.sikh-religion.de/html/english.html Facebook: www.facebook.com/info.sikhi Twitter: www.twitter.com/SikhReligion
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