Zermatter Eiswände - Text+Berg digital

Zermatter Eiswände
VON MAX EISELIN, KRIENS (LU)
Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der
Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich
überwinden.
FRIEDRICH NIETZSCHE
Mit 3 Bildern (59-61)
Obergabelhorn (4062 m)-Nordostflanke
Schon wochenlang liegen wir in Zermatt herum. Im August 1954 wird es mit dem Wetter immer
unterhaltsamer, und eines Morgens ist unser Zelt, das wir neben der brausenden Vispa aufgeschlagen
haben, mit Neuschnee bedeckt. Draussen schaut es aus wie an Weihnachten. Aber gemütlich ist
es dennoch; denn Bergsteiger aus verschiedenen Ländern sind in den umliegenden Zelten von
Winkelmatten. Am Abend wird am gemeinsamen Lagerfeuer Gitarre gespielt, melancholische
Wanderweisen erklingen aus rauhen Kehlen, und der Fendant macht die Runde. Von einem Franzosen erhalte ich das soeben erschienene Buch von Gaston Rébuffat «Etoiles et Tempêtes» und
die neueste Ausgabe des «Alpinisme». Wenn wir schon zum Stillsitzen verurteilt sind, so führen
wir uns wenigstens die alpine Literatur zu Gemute und machen im Geiste grosse Bergfahrten.
Bei dem vielen Neuschnee sind schwierige Felstouren oder kombinierte Fahrten wenig empfehlenswert. Wer trotzdem noch ein Maximum an Erlebnis durchmachen will, verlegt sich deshalb am
besten auf die reinen Firntouren. Auch wenn die Verhältnisse keineswegs günstig sind, so stört hier
der Neuschnee doch noch am wenigsten. In meinem Kopfe spukt schon seit Jahren eine ganz besondere Eiswand herum: die Nordostflanke des Obergabelhorns. Jeder, der diesen schimmernden
Schneepanzer schon vom Zinalrothorn aus gesehen hat, ist davon bezaubert. Hier muss man einfach einmal hindurchgestiegen sein! Solch gleichmässig offene Firnflanken ohne Eisabbrüche und
felsige Zwischenstücke sind technisch nicht sehr schwierig, zeigen sich doch nirgends zwingende
Hindernisse ; und hätte es solche, so Hessen sie sich leicht umgehen. Im Gegensatz zu Fels- oder kombinierten Führen hat man hier natürlich viel mehr Möglichkeiten der Routenwahl, da man sich
den Weg selber bahnen kann, ohne sich den vorhandenen Griffen und Hakenritzen, Couloirs oder
Eisdurchschlupfen anpassen zu müssen.
Es ist noch stockdunkle Nacht, und trotzdem befinde ich mich mit meinem Kameraden Detlef
Hecker bereits auf dem Gipfel der Wellenkuppe (3903 m). Die ersten Zinalrothornbesucher verlassen soeben die Rothomhütte. Mit ihren Laternen sehen sie von hier oben wie Fackelträger einer
nächtlichen Prozession aus. In grimmiger Kälte steigen wir zum Sattel zwischen Wellenkuppe und
Obergabelhorn hinunter. Langsam dämmert es, und wir können die beabsichtigte Routenführung
betrachten. Die Wand selber macht uns gar keine Sorgen. Ein heikleres Problem aber ist der Zugang zum Einstieg: in diesem wild zerschrundeten Gletscherkessel ein grosses Fragezeichen! Dank
dem vielen Schnee dieses Sommers gelingt uns eine interessante Variante, indem wir eine tolle und
äusserst steile Abwärtsquerung zum Bergschrund hinunter anlegen. Gesicht gegen die Wand, nur
mit den Frontalzacken der Steigeisen und der Pickelhaue am Berg gehalten, gewinnen wir stetig
an Tiefe. Beim Bergschrund unten treffen uns die ersten Sonnenstrahlen. Wir müssen Steigeisen
und Schuhe ausziehen, um die gefühllos gewordenen Zehen wieder warmreiben zu können. Die
durchdringende Kälte ist scheusslich. Eine Brise, die vom Gipfel her weht, bestreicht die ganze
Firnflanke ob uns und lässt den feinen Pulverschnee ständig auf uns herunterrieseln. Dieser dringt
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