Antworten von Heinz-Jörg Haury

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Antworten von Heinz-Jörg Haury:
Wo liegt die Produktionsvereinigung Majak eigentlich und was wurde dort hergestellt?
1) Die Produktionsvereinigung Majak befindet sich im Westen des Urals, zwischen
Jekaterinburg und Tscheljabinsk, zwei großen Millionenstädten. War bis vor wenigen Jahren
- und möglicherweise sogar in vielen Landkarten bis heute - nicht zu finden. Der Ort, wo es
lag, wurde nach der Postleitzahl benannt - Tscheljabinsk 65. Heute heißt der Ort Osjorsk, ist
immer noch eine geschlossene Stadt. Und Majak wurde gegründet 1948/49, um dort die
Rohstoffe für die russischen Atombomben herzustellen.
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Was ist dort am 29. 9. 1957 passiert?
2) Am 29. September 1957 um 16.20 Uhr ist ein Behälter mit sehr großen Mengen
hochradioaktiver Flüssigkeit trockengedampft und dann in einer chemischen Reaktion
explodiert. Die radioaktiven Stoffe gingen bis in 1000 m Höhe durch die Explosion und haben
sich dann nach Nordosten verbreitet und haben da quasi eine - wie die Russen es sagen eine Spur hinterlassen, die etwa 40 km breit und 300 km lang ist.
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Hat man diesen Unfall außerhalb von Russland bemerkt?
3) Im Westen wusste niemand davon, dass dieser Unfall stattfand. Es gab einen russischen
Wissenschaftler, der über alle möglichen Recherchen - dass es plötzlich Untersuchungen
gab: Aufnahme von Radioaktivität in Pflanzen - überlegt hat, da muss ein Unfall
stattgefunden haben. Und das auch veröffentlicht hat. Und die westlichen Wissenschaftler
haben alle gesagt: Das kann nicht sein! Weil, er dachte, ein Reaktor sei explodiert. Aber, wie
gesagt, es war ein Behälter für radioaktiven Abfall und kein Reaktor. Deswegen waren die
Fernfolgen nicht so stark, also für Länder ... Europa oder Asien, die haben davon nichts
bemerkt.
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Was ist beim Unfall freigesetzt worden?
4) Im Prinzip sind es zwei Substanzen: Strontium und Cäsium, beide mit rund 30 Jahren
Halbwertszeit. Und wenn Sie dort jetzt wohnen würden und über die Lebensmittel das
Strontium aufnehmen würden, hat es folgendes Problem: Strontium wird vom Körper kaum
ausgeschieden, das sammelt sich in Knochen und Zähnen. Wenn diese radioaktiven Stoffe
also lang im Körper bleiben, haben sie natürlich auch lange Zeit, die Zellen des Menschen zu
bestrahlen und sind deshalb von der radioaktiven Seite höher zu bewerten als wie z.B. das
Cäsium, das auch freigesetzt wurde. Das nämlich eine physikalische Halbwertszeit etwa so
lang hat wie Strontium, aber die biologische Halbwertszeit ist bedeutend kürzer. D.h. die
Menschen, je nach Alter und Körperkonstitution, scheiden dieses Cäsium nach 100 Tagen
zur Hälfte wieder aus.
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Welche Maßnahmen haben die Verantwortlichen damals ergriffen?
5) In unmittelbarer Umgebung zu diesem Tank hat niemand gearbeitet. Es war ja nicht
notwendig, dass da Menschen arbeiten. Dann wurde erst mal versucht, an dieser
unmittelbaren Umgebung die radioaktiven Stoffe - da waren natürlich die meisten
radioaktiven Stoffe, wie man sich vorstellen kann - zusammenzukratzen mit Caterpillarn usw.
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Aber weiter weg hat man die Bevölkerung evakuiert und zwar schon nach ein, zwei Tagen,
mehrere tausend Menschen. So weit ich weiß, wurden die umgesiedelt und sofort nach
ihrem Wegfahren wurden die Dörfer mit Panzern flachgelegt, so dass auch niemand mehr
zurück konnte. Da handelt es sich um mehrere tausend Menschen, die innerhalb kürzester
Zeit umgesiedelt wurden.
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Wie sieht die Strahlenbelastung im Vergleich zu Tschernobyl aus?
6) Ich will Ihnen mal einen Wert sagen von Südbayern. Nun wissen wir ja alle: In der Folge
von Tschernobyl war ja durch diesen Gewitterregen hier erhöhte Radioaktivität. Und wenn
man jetzt den Wert von Caesium nimmt, dann hatten wir in München, Norden, bei der GSF
19.000 Bq/m², an Strontium nur einige Bq. In Osjorsk, an dieser Stelle, kommen Sie locker
über 1 Mio Bq/m². Nun ist das Gebiet abgesperrt, das ist in unmittelbarer Nähe. Aber noch in
mehreren km Entfernung kommen Sie noch auf zigtausende bis 100.000 Bereich Bq an
Cäsium. Das gleiche gilt für Strontium. Und Strontium ist natürlich noch ein weit
gefährlicherer Stoff, weil er im menschlichen Körper bleibt. Also man sieht, dass die Menge
der Aktivität schon sehr groß war, die da rausgegangen ist. Und die kann sich mit dem
Tschernobyl-Unfall, wenigstens was die unmittelbare Umgebung betrifft, locker messen.
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Wie ist die Situation in der Produktionsgenossenschaft Majak heute?
7) Majak selbst hat ja vier Reaktoren, die für den Bau von Bomben nötig waren,
geschlossen. Sie haben heute noch zwei Reaktoren. Aber damit werden Isotope produziert.
Und immerhin arbeiten heute noch 14.000 Personen in diesem Betrieb. Die gesamte Stadt
Osjorsk hat heute etwa 80.000 Einwohner.
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Wofür sind diese Isotope gedacht?
8) Die werden hauptsächlich in der Medizin, in der Forschung angewandt. Majak hat
eigentlich zwei oder drei Standbeine. Einmal die Produktion von Isotopen. Die werden
weltweit verkauft. Da gehören sie glaube ich zu den weltweit größten Produzenten
überhaupt. Das zweite Standbein ist die Wiederaufarbeitung von Brennelementen russischer
Reaktoren, um bestimmte Stoffe, die man wiederverwenden kann, herauszuholen. Und die
Stoffe, die man nicht wiederverwenden kann, in Glas einzuschmelzen.
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Antworten Dr. Peter Jacob:
In der Produktionsgenossenschaft Majak sind ja nicht erst durch den Unfall radioaktive
Substanzen freigesetzt worden, sondern auch schon vorher im ganz normalen Betrieb. Sie
koordinieren ein internationales Forschungsprojekt "Southern Urals Radiation Risk
Research", kurz SOUL, das sich mit den Auswirkungen vor Ort beschäftigt. Was genau ist
das Ziel dieses Vorhabens?
9) Das ist ein Projekt, das von der Europäischen Kommission gefördert wird und insgesamt
einen Umfang von mehr als 12 Mio Euro hat. Sinn dieses Projektes ist es - wie der Name
sagt -, Forschungen durchzuführen über das Strahlenrisiko, das wir beobachten können an
den Arbeitern von Majak und an den Anwohnern der Tetscha.
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Wie hoch ist denn das Strahlenrisiko für die Arbeiter?
10) Endgültige Aussagen kann man natürlich noch nicht machen. Also, was relativ eindeutig
allerdings ist, ist eine Erhöhung der Krebsmortalität unter den Arbeitern. Das liegt daran,
dass die relativ große Mengen von Plutonium inhaliert haben. Und dadurch ist die
Lungenkrebs-Mortalität unter den Arbeitern erhöht.
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Sind auch die Bewohnern um Majak herum davon betroffen?
11) Es gab ja diese normalen Ableitungen in die Tetscha. Und die Leute, die flussabwärts
gewohnt haben, haben dieses Wasser als Trinkwasser benutzt. Und das hat eben auch
deutliche Strahlenexpositionen bewirkt. Es gibt erste Veröffentlichungen dazu, die auch eine
Erhöhung der Krebsmortalität unter den Anwohnern der Tetscha zeigen.
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Warum sind diese beiden Personengruppen so interessant für die Forschung?
12) Das große wissenschaftliche Interesse an diesen beiden Kohorten liegt daran, dass
beide Gruppen über einen längeren Zeitraum bestrahlt wurden. Unser heutiges Wissen über
das Strahlenrisiko kommt im wesentlichen von den Atombomben-Überlebenden von
Hiroshima und Nagasaki. Die haben einen einmaligen Strahlenimpuls abbekommen. Und es
ist eine Frage, wie groß ist das Risiko, wenn die Strahlung über einen längeren Zeitraum
kommt. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, die Atombomben-Überlebenden von
Hiroshima und Nagasaki sind Japaner. Die Anwohner im Südural sind - wie wir selber auch von der genetischen Abstammung her Kaukasier. Von daher ist das auch direkter auf uns
übertragbar.
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Zur Zeit laufen mehrere wissenschaftliche Projekte im Südural. Wie gut kooperieren denn die
Wissenschaftler miteinander?
13) Das ist eine sehr intensive Zusammenarbeit mit den russischen Wissenschaftlern. Und
was sehr, sehr wichtig ist, ist, dass es ein genauso großes Projekt von Amerika gibt, das
sogar etwas größer ist als unseres, das ist von Department of Energy gefördert. Und es gibt
ein weiteres Projekt vom National Cancer Institute der Amerikaner. Alle diese Projekte
arbeiten zusammen. Wir machen alle zwei Jahre Workshops, wo wir uns intensiv
austauschen. Wir haben internationale Working Groups eingerichtet, die kontinuierlich sich
über die Projektfortschritte austauschen.
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Wie kommen Sie eigentlich an die notwendigen Daten?
14) Es gibt drüben in Russland große Archive, die sehr sorgfältig geführt wurden. Eine erste
große Aufgabe war, überhaupt diese Archive in digitale Daten zu übersetzen. D.h. das war
vorher alles in Papierform. Zur Dosimetrie gibt es auch riesige Archive. Die Arbeiter haben
alle Dosimeter getragen, die teilweise - in den ersten Jahren - wöchentlich ausgetauscht
wurden. Das war auch ein erster großer Schritte überhaupt diese ganzen Archive in
elektronische Daten zu überbringen. Und jetzt werden die weiter verarbeitet.
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Welche medizinischen Daten liegen Ihnen wor?
15) Das sind also Aufzeichnungen über den Gesundheitszustand der Arbeiter. Bzw. bei der
Bevölkerung gibt es eine zentrale Klinik, wo die sich immer wieder gemeldet haben. D.h. es
gab also regelmäßige Gesundheits-Check-Ups, größenordnungsmäßig alle zwei Jahre, so
dass man ganz gute Informationen über den Gesundheitszustand der Arbeiter hat. Ähnlich
gut ist die Information über die Sterblichkeit an verschiedenen Ursachen.
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Woher wissen Sie, was die Arbeiter an Radionukliden aufgenommen haben?
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16) Die Messungen von Plutonium haben in den 70er Jahren begonnen. Gemessen hat man
den Plutoniumgehalt im Urin. Man hat dann verschiedene Analysen gemacht, wie sich das
Plutonium in der Lungenflüssigkeit verhält. Und dann hat man Modelle, wie sich das im
Körper verteilt. Wenn man das zusammennimmt, dann kann man aus der Messung im Urin
zurückschließen auf den Plutoniumgehalt in den verschiedenen Organen des menschlichen
Körpers. Das ist sowieso schon mit großen Unsicherheiten behaftet. Das zusätzliche
Problem kommt eben, dass die hohen Expositionen in den frühen 50er Jahren waren. D.h.
erst 20 Jahre später wurde mit den Messungen begonnen. Ja, das Plutonium bleibt
lebenslang im Körper, das baut sich zwar langsam ab, aber es bleibt immer ein Teil im
Körper. So dass man zurückrechnen kann. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen, weil
man bis jetzt noch nicht so viel über das Verhalten von Plutonium im menschlichen Körper
weiß.
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Wie sieht es bei der Bevölkerung aus?
17) Bei der Bevölkerung ist die Situation ähnlich von den Messungen her. Die Messungen
haben auch erst in den 70er Jahren begonnen. Der Unterschied ist hier, dass das
wesentliche Radionuklid nicht Plutonium ist, sondern Strontium. Dieses Strontium wurde halt
mit dem Trinkwasser aufgenommen. Und die Situation ist dann ganz ähnlich. Die
Hauptexpositionen waren in den frühen 50er Jahren. Und man muss das zurückrechnen.
Weil die Aufgabe so schwierig ist, arbeiten wir hier sehr, sehr eng zusammen mit den
Amerikanern, Russen und Europäern. Das ist wirklich ein Dreieck, um das gesamte Wissen,
was wir haben, zusammenzubringen und diese Daten auszuwerten.
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Neben diesen Strahlendosen durch Radionuklide, die Arbeiter und Bevölkerung in den
Körper aufgenommen haben, möchten Sie aber auch ermitteln, welcher externen Strahlung
die Menschen ausgesetzt waren. Die Arbeiter haben Dosimeter getragen, aber wie erfahren
Sie, welche externe Strahlung die Bevölkerung abbekommen hat?
18) Wir rekonstruieren die externe Strahlenexposition mit zwei Methoden. Mit der einen
Methode bestimmen wir, die Strahlenexposition, die in der Umgebung aufgetreten ist. Das
machen wir mit Hilfe von Backsteinen oder Ziegelsteinen, die wir Gebäuden entnehmen, die
schon in den frühen 50ern gestanden haben. Aus diesen Ziegelsteinen extrahieren wir das
Quarz. Und Quarz ist ein relativ guter Dosimeter für Strahlung. Wenn man dann diese
Quarzfraktion mit Licht bestrahlt oder erhitzt, dann sendet das Licht aus. Und die
ausgesendete Lichtmenge ist dann proportional zu der Dosis.
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Wie sieht die zweite Möglichkeit aus?
19) Die andere Methode sind Messungen an Zähnen. Es werden Zähne von den Anwohnern
und auch von den Arbeitern gesammelt. Die Zahnärzte sind informiert, dass diese Leute zu
diesen Kohorten gehören. Und wenn aus irgendwelchen medizinischen Indikationen Zähne
gezogen werden müssen, weil sie einfach alt sind, dann kommen die in die
Forschungslabors und der größte Teil kommt zu uns. Ein Teil kommt auch nach Rom in
Italien. Zähne selbst sind sehr gute Strahlungsdetektoren - nicht der gesamte Zahn, sondern
der Zahnschmelz. D.h. wir haben wieder ein Aufbereitungsverfahren, wo wir den
Zahnschmelz extrahieren. Und dann führen wir Messungen durch und können mit diesen
Messungen rekonstruieren, welche Strahlenexposition die Person abbekommen hat.
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Sie kennen also die Strahlendosen für die beiden Personengruppen. Aber welche
Auswirkungen hatte die Strahlung z.B. konkret auf die Arbeiter?
20) Dort ist analysiert worden die Erhöhung von Krebs insgesamt. Das Krebsspektrum sind
viele verschiedene Krebsarten - Magenkrebs, auch Lungenkrebs, Brustkrebs - also ein ganz
normales Spektrum. Die Anzahl der zusätzlichen Fälle ist relativ gering, da doch die Dosen
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für die Bevölkerung selber nicht so hoch waren. Von ca. 2000 Krebsfälle schätzen wir, dass
50 durch die Strahlung induziert worden sind. Was aber die große Überraschung war, ist,
dass das Strahlenrisiko je Dosis, die die Leute abbekommen haben, unerwartet hoch ist. Das
hat zu vielen Diskussionen geführt und führt immer noch zu vielen Diskussionen, was die
Ursache dafür sein kann.
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Von was für einem Strahlenrisiko sind denn die Wissenschaftler bislang ausgegangen?
21) Bis jetzt ist man im Strahlenschutz davon ausgegangen, wie das auch von der
internationalen Strahlenschutzkommission empfohlen wird, dass für solche langfristigen
Strahlenexpositionen, wie sie dort aufgetreten sind, das Risiko um den Faktor zwei niedriger
ist als für die Atombombenüberlebenden. Und gefunden wurde, dass es um den Faktor zwei
höher ist. Also das ist fast ein Faktor vier Unterschied. Man muss aber sagen, dass diese
Werte eben noch große Unsicherheiten haben.
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Gibt es andere Erkrankungen, die ebenfalls häufiger auftreten?
22) Es ist sehr intensiv in der Diskussion der Strahlenschutzgemeinde, dass auch HerzKreislauf-Erkrankungen durch Strahlung erhöht auftreten. Das ist schon lange bekannt für
hohe Expositionen. Aber neuere Untersuchungen bei den Atombombenüberlebenden von
Hiroshima und Nagasaki haben gezeigt, dass auch schon bei mittleren Expositionen die
Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sein können. Deshalb ist es jetzt eine brennende Frage,
wird so etwas auch im Südural beobachtet. Dazu sind jetzt Studien angelaufen. Wir haben
kürzlich einen Workshop gehabt und dort wurden erste Ergebnisse vorgestellt. Und die
haben tatsächlich gezeigt, dass auch dort eine Erhöhung der Herz-Kreislauf-Krankheiten bei
den höher exponierten Personen beobachtet wurde. Wie hoch genau das Risiko ist, da
müssen wir das Ende der Studie abwarten. Wir erwarten Ergebnisse im Februar nächsten
Jahres.
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Könnte die Strahlenschutzkommission (SSK) dadurch evtl. gezwungen sein, Grenzwerte
anzupassen?
23) Die SSK hat vor ein paar Monaten dazu eine Stellungnahme abgegeben, in der sie
zunächst einmal festgestellt hat, dass diese neuen Studien, zu denen eben auch diese
Studie der Tetscha-Bevölkerung gehört, Hinweise darauf geben: A), dass es ein erhöhtes
Krebsrisiko bei diesen mittleren Strahlendosen gibt und B), dass es keine Hinweise dafür
gibt, dass das Krebsrisiko niedriger ist als bei den Atombombenüberlebenden. Das könnte
unter Umständen in letzter Konsequenz auch zu irgendwelchen Erniedrigungen von
Grenzwerten führen.
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