REPORT Dezember 2015 DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF Danksagung Dank gilt allen unabhängigen Experten für hilfreiche Hintergrundgespräche und ausführliche Kommentare, die den vorliegenden Bericht durch Praxiserfahrungen bereichert haben, insbesondere Dr. Mechthild Scholl, Konrad Adenauer Stiftung, Wibke Brehms, Grüne Landtagsfraktion des Landtags Nordrhein-Westfalen und Boris Linden und Christian Wirth, Innovationsregion Rheinisches Revier. About E3G E3G is an independent, non-profit European organisation operating in the public interest to accelerate the global transition to sustainable development. E3G builds cross-sectoral coalitions to achieve carefully defined outcomes, chosen for their capacity to leverage change. E3G works closely with like-minded partners in government, politics, business, civil society, science, the media, public interest foundations and elsewhere. www.e3g.org Berlin office Neue Promenade 6 Berlin, 10178 – Germany Tel: +49 (0) 30 2887 3405 Brussels office Rue de la Science 23 1040 Brussels, Belgium Tel: +32 (0)28 93 92 12 London office 47 Great Guildford Street London SE1 0ES, UK Tel: +44 (0)20 7593 2020 Fax: +44 (0)20 7633 9032 Copyright This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercialShareAlike 2.0 License. You are free to: > Copy, distribute, display, and perform the work. > Make derivative works. Under the following conditions: > You must attribute the work in the manner specified by the author or licensor. > You may not use this work for commercial purposes. > If you alter, transform, or build upon this work, you may distribute the resulting work only under a license identical to this one. > For any reuse or distribution, you must make clear to others the license terms of this work. > Any of these conditions can be waived if you get permission from the copyright holder. Your fair use and other rights are in no way affected by the above. Cover Image: ©Kölner Stadtanzeiger / dpa © E3G 2015 This work has received funding from the European Commission through a LIFE grant. The content reflects E3G’s view only. The Commission is not responsible for any use that may be made of the information it contains. 2 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten REPORT Dezember 2015 DAS RHEINISCHE REVIER VON MORGEN DEN STRUKTURWANDEL GESTALTEN ALBERT HANS BAUR & JULIAN SCHWARTZKOPFF 3 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten INHALT Danksagung ...............................................................................................................2 About E3G .................................................................................................................2 Copyright ...................................................................................................................2 Inhalt .........................................................................................................................4 KAPITEL 1 EINLEITUNG.....................................................................................................5 KAPITEL 2 DAS RHEINISCHE REVIER - EINE EINORDNUNG ..............................................6 Nordrhein-Westfalen und das Rheinische Revier .....................................................6 Die lokale Rolle der Braunkohle ................................................................................8 Wachsender Druck auf die lokale Braunkohleindustrie..........................................10 KAPITEL 3 RWE - DIE GROßE UNBEKANNTE ..................................................................15 KAPITEL 4 EIN GEORDNETER STRUKTURWANDEL UND EIN FAIRER DEAL FÜR DAS RHEINISCHE BRAUNKOHLEREVIER.................................................................................17 Das Rheinische Revier im politischen Spannungsfeld .............................................17 Die lokale Wirtschaft im Umbruch ..........................................................................19 Umsetzung eines gerechten und geordneten Strukturwandels - Lehren aus dem Niedergang des lokalen Steinkohlebergbaus ..........................................................24 Ein fairer Deal für das Rheinische Revier ................................................................27 KAPITEL 5 DAS RHEINISCHE REVIER BRAUCHT EINEN KOHLEKONSENS ........................31 4 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten KAPITEL 1 EINLEITUNG Im März 2015 legte Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel einen Gesetzesvorschlag zur Erreichung der deutschen Klimaziele vor. Dieser löste eine unerwartete Dynamik in der Diskussion um die Zukunft der Braunkohle in Deutschland aus. Der beabsichtigte „Klimabeitrag“ hätte Strafzahlungen für CO2Emissionen von Kraftwerken ab einem bestimmten Grenzwert vorgesehen, was vor allem ältere Braunkohlekraftwerke betroffen hätte. Neben dem zu erwartenden Widerstand auf Seiten der Energiekonzerne RWE und Vattenfall zeigte die Debatte auch die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen eines Braunkohleausstiegs auf. Gewerkschaften fürchten um den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen ohne strukturpolitische Abfederung, und Landespolitiker in Brandenburg, Sachsen, SachsenAnhalt und Nordrhein-Westfalen sind besorgt über mögliche Strukturbrüche im Nachgang der Schließung der Braunkohlereviere in ihren Bundesländern. Laut einer Studie des Umweltbundesamtes1 hätte der Klimabeitrag zu einem Verlust von 4.700 Arbeitsplätzen geführt. Dies sind rund 22% aller in der Braunkohleindustrie Beschäftigten.2 Aufgrund der vielfältigen Opposition wurde der Klimabeitrag schließlich zu Gunsten einer Einigung gekippt, die den Stromsektors zu sehr viel geringeren Emissionseinsparungen bis 2020 verpflichtet und die Schließung von Braunkohlekraftwerken nicht durch Strafzahlungen, sondern über eine „Klimareserve“ sicherstellt. Dieses Modell sieht vor, dass Braunkohleblöcke im Umfang von 2,7 GW ab 2017 nur noch im Notfall hochgefahren und ab 2020 stillgelegt werden.3 Für die bereitgestellte Kapazität werden die Kraftwerksbetreiber großzügig finanziell vergütet. Dies stellt jedoch höchstens eine Übergangslösung dar. Die Debatte hat dazu geführt, dass eine Abkehr von der Braunkohleverstromung in Deutschland zum ersten Mal ernsthaft auf bundespolitischer Ebene diskutiert wird. Speziell das Rheinische Revier, heute noch eines der größten Braunkohleabbaugebiete Europas, wird hiervon stark betroffen sein. Die vormals starke Montanindustrie sieht sich unter zunehmendem wirtschaftlichen Druck und muss sich auf einen Transformationsprozess der regionalen Wertschöpfungsketten einstellen. Auch wenn Nordrhein-Westfalen eines der wenigen Bundesländer ist, die bereits ein Klimaschutzgesetz und einen Klimaschutzplan verabschiedet haben, sehen sich Landes- und Kommunalpolitiker immer noch in einem Konflikt zwischen dem Erhalt herkömmlicher Wirtschaftszweige und der Etablierung moderner Branchen gefangen. 1 Umweltbundesamt (2015) Klimabeitrag für Kohlekraftwerke: Wie wirkt er auf Stromerzeugung, Arbeitsplätze und Umwelt? 2 Statistik der Kohlewirtschaft e.V. (2015) Braunkohle 3 Bundesministerium für Wirtschaft (2015) Eckpunkte für eine erfolgreiche Umsetzung der Energiewende 5 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Dabei bieten sich im Rheinischen Revier vergleichsweise gute Möglichkeiten, diese Wirtschaftstransformation erfolgreich durchzuführen. So spielen vor allem die lokale demographische Entwicklung, regionale Standortfaktoren, und historische Erfahrungen eine wesentliche unterstützende Rolle. Wenn es gelingt, diese Stärken zu nutzen und einen sukzessiven Übergang hin zu einer modernen lokalen Wirtschaft zu meistern, kann das Rheinische Revier zum Vorbild für viele andere Kohlereviere in Europa und weltweit werden. Es gilt nun, den Rückgang der lokalen Braunkohlewirtschaft strukturpolitisch zu begleiten, um soziale Verwerfungen im Zuge eines Kohleausstiegs zu vermeiden und die wirtschaftliche Zukunft der Region aktiv zu gestalten. KAPITEL 2 DAS RHEINISCHE REVIER - EINE EINORDNUNG Nordrhein-Westfalen und das Rheinische Revier Das Bundesland Nordrhein-Westfalen nimmt eine Schlüsselrolle in Deutschland ein. Mit seinen 17,5 Mio. Einwohnern ist es nicht nur das am dichtesten besiedelte deutsche Flächenland. Es ist auch die bedeutendste Industrieregion Deutschlands, in der 2013 rund 22% des deutschen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, aber auch etwa ein Drittel der nationalen CO2-Emissionen produziert wurden.4,5,6 Heute bilden vor allem 765.000 kleine und mittelständische Unternehmen das wirtschaftliche Rückgrat des Bundeslandes. Sie repräsentieren 99,5% aller Unternehmen und beschäftigen ca. 80% aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer.7 Gleichzeitig finden sich 16 der 50 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands in Nordrhein-Westfalen. Vor allem Unternehmen der Branchen Maschinenbau und Chemie produzieren hier, 8 was eine diverse Zulieferindustrie hervorgebracht hat. Dies ist auch der Grund dafür, dass 27,5% aller deutschen unternehmensnahen Dienstleistungsumsätze in Nordrhein-Westfalen erwirtschaftet werden.5 Insgesamt trug der Dienstleistungssektor 70,8%, die Industrie 28,7% und die Landwirtschaft 0,5% zur gesamten landesweiten Bruttowertschöpfung im Jahr 2013 bei.7 4 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2004) Deutschland 2020. Die demografische Zukunft der Nation 5 Hessische Landesbank (2014) Helaba-Studie: Nordrhein-Westfalen- Wachstum im Strukturwandel 6 Stromtipp.de (2013) CO2-Emissionen in NRW wieder angestiegen 7 MWEIMH Nordrhein-Westfalen (2015) Industriepolitik 8 NRW.INVEST GmbH (2015) Spitzenstandort für Produzenten und Zulieferer 6 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Abbildung 1 gibt eine geographische Übersicht über Nordrhein-Westfalen. Aufgrund ihrer Relevanz, sind vor allem die beiden Regionen Ruhrgebiet (heute auch Metropole Ruhr genannt) und Rheinisches Revier farblich hervorgehoben. Abbildung 1: Übersichtskarte Nordrhein-Westfalens mit Ruhrgebiet (rote Umgrenzung) und Rheinischem Revier (gelbe Umgrenzung) Quelle: ETN (2013) REK Regionen NRW Speziell das Ruhrgebiet spielt seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine entscheidende wirtschaftliche Rolle für Nordrhein-Westfalen.9 Auch wenn diese Bedeutung mit dem Niedergang der Steinkohleindustrie seit Mitte des 20. Jahrhunderts stark abgenommen hat, ist es noch immer das wirtschaftliche Zentrum des Bundeslandes. Mit ca. 2,1 Mio. Einwohnern und 628.403 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten beheimatet das Rheinische Revier ca. 12% der Gesamtbevölkerung und 10% aller Beschäftigten Nordrhein-Westfalens. 10 Hier werden ca. 11% der landesweiten Bruttowertschöpfung erwirtschaftet; die Arbeitslosenquote lag 2013 mit 7,4% unter den durchschnittlichen 8,3% in Nordrhein-Westfalen. Die Einwohnerdichte ist mit 497 Einwohnern/km² geringer als die des umliegenden Bundeslandes mit seinen 523 Einwohner/km².13 Insgesamt wird davon ausgegangen, dass sich die Bevölkerung im Revier bis 2030 um ca. 2,1% verkleinern wird. Dies wäre ein etwas langsamerer Bevölkerungsrückgang als im gesamten Bundesland (-3,7%), wobei sich die Bevölkerungsgröße und -dichte sehr kreisspezifisch entwickeln wird.13 9 Metropole Ruhr (2010) Regionalkunde Ruhrgebiet- Aufstieg und Rückzug der Montanindustrie 10 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2014) Daten und Fakten (bezieht sich auf die Innovationsregion Rheinisches Revier) 7 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Die lokale Rolle der Braunkohle Nordrhein-Westfalens Strom wurde 2013 noch zu ca. 40% aus Braunkohle und zu 25% aus Steinkohle gewonnen, wobei deren langfristige Bedeutung für die Energiegewinnung jedoch stetig abnimmt. 11 Die Verwendung von Erdgas zur Stromproduktion ist in den letzten Jahren wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit stark eingebrochen und der Anteil der Erneuerbaren Energien (Photovoltaik, Wasser-, und Windkraft) im nordrhein-westfälischen Strommix lag 2013 bei knapp 5%, der von Biomasse bei knapp 3%. Die zur Stromproduktion benötigte Braukohle kommt zu großen Teilen aus dem Rheinischen Revier (Abbildung 2) in unmittelbarer räumlicher Nähe zu den großen industriellen Energieverbrauchern im Ruhrgebiet und im Rheinischen Revier (Abbildung 1). Abbildung 2: Rheinisches Revier: Revierkarte mit Tagebauen (TB) und Kraftwerken (KW)12 Quelle: Energiestatistik-NRW.de (2015) Bruttostromerzeugung und Primärenergiegewinnung Im Rheinischen Revier wird seit etwa 1870 Braunkohle gefördert.13 1995 wurde der Braunkohleplan für das Abbaugebiet Garzweiler II genehmigt, für das das Bergamt Düren 1997 eine Zulassung des Rahmenbetriebsplans für den Braunkohleabbau bis 2045 erteilte. Seit 2006 wird hier durch die Rheinisch-Westfälische Elektrizitäts AG (RWE AG) Kohle abgebaut.14 11 Energiestatistik-NRW.de (2015) Bruttostromerzeugung und Primärenergiegewinnung 12 DIW (2014) Braunkohleausstieg- Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende 13 Wikipedia (2015) Rheinisches Braunkohlerevier Bundesverband Braunkohle (2015) Rheinisches Braunkohlerevier 1978-2014 14 8 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Insgesamt existieren auf der rund 9.000 ha umfassenden Betriebsfläche derzeit drei Großtagebaue, die sowohl Kraftwerke, als auch Veredelungsbetriebe über ein RWEeigenes Bahn- und Förderbandsystem mit jährlich 100 Mio. Tonnen Rohbraunkohle versorgen. Somit gilt das Revier als das größte Braunkohleabbaugebiet Europas. Die 1997 durch das Bergamt Düren bis 2045 zum Abbau freigegebenen Vorräte umfassen ca. 35 Mrd. Tonnen wirtschaftlich gewinnbarer Kohlevorräte.15,16 Laut einer von RWE in Auftrag gegebenen Studie, wurde der Beitrag der Braunkohleindustrie zur gesamten Bruttowertschöpfung des Rheinischen Reviers im Jahr 2008 auf ca. 13% geschätzt.17 Heute beschäftigt die RWE AG über ihre Tochterfirmen 10.146 Arbeitnehmer.18 Wenn man einen Beschäftigungsmultiplikator von 1,7 zu Grunde legt, hängen weitere 7.248 Arbeitsplätze indirekt von der der rheinischen Braunkohleindustrie ab.19 Insgesamt stellt die Braunkohle somit 2,77% aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze im Rheinischen Revier. Die Braunkohleindustrie ist für das Rheinische Revier also eine wichtige und strukturprägende Branche. Dabei gerät sie jedoch zunehmend unter Druck und hat keine gesicherte Zukunftsperspektive in einer dekarbonisierten Wirtschaft. Das hat direkte Implikationen für die lokale Wertschöpfung, speziell im Rheinischen Revier. Das Risiko einer zumindest teilweisen lokalen Deindustrialisierung durch den Niedergang der Braunkohleindustrie besteht dabei durchaus, ist aber nicht unausweichlich. Gleichzeitig erscheinen die Botschaften von Industrie und Gewerkschaften zu möglichen Arbeitsplatzverlusten im Falle einer Reduktion oder Beendigung des Braunkohleabbaus stark verzerrt, was zu einer Verunsicherung der Bevölkerung beiträgt. So verkündete RWE beispielsweise im März 2015, dass durch den Klimabeitrag in Deutschland 100.000 Arbeitsplätze in Gefahr seien.20 Eine Studie des Umweltbundesamtes ergab jedoch, dass der Klimabeitrag lediglich 4.700 Arbeitsplätze gefährdet hätte.21 Ebenso sind viele der indirekten Arbeitsplätze so wenig spezialisiert (beispielsweise in Bereichen der Mitarbeiterversorgung), dass sie nicht unbedingt von der Braunkohlewirtschaft abhängen und sich frühzeitig auf eine Wertschöpfung jenseits der Braunkohle vorbereiten könnten. Zudem schrumpft bzw. altert die deutsche Braunkohlebelegschaft kontinuierlich. So waren im Jahr 1984 17.182 Arbeitnehmer direkt durch die rheinische Braunkohle beschäftigt; 1990 war diese Zahl bereits auf 15.316 gesunken, und 2013 waren es nur noch 7.910,22 was einer Abnahme von 48% gegenüber 1990 entspricht.23 Gleichzeitig 15 Bundesverband Braunkohle (2013) Kapazitäten der Braunkohlereviere in Deutschland in Mio. t/a 16 RWE (2015) Rheinisches Braunkohlerevier 17 EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte 18 Bereits inklusive aller Kraftwerke der allgemeinen Versorgung in 2014 19 EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte 20 WDR (2015) Arbeitsplätze in der Braunkohle-Industrie: Wie viele Jobs sind wirklich in NRW gefährdet?, 25.03.2015 21 UBA (2015) Klimabeitrag für Kohlekraftwerke: Wie wirkt er auf Stromerzeugung, Arbeitsplätze und Umwelt? 22 Jahresbericht 2013 der Bergbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen 9 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten werden immer weniger junge Arbeiter angestellt; im Jahr 2014 waren es lediglich 653. Das Durchschnittsalter der deutschen Braunkohlebeschäftigten lag 2014 bei 46,3 Jahren und das der rheinischen Braunkohlebeschäftigten sogar bei 49 Jahren (Stand 2015).24 Somit werden viele der potentiell von einem Braunkohleausstieg betroffenen Beschäftigten in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen, was eine sozial verträgliche Gestaltung erleichtert. Nichtsdestotrotz wird das Rheinische Revier mit dem langfristig unvermeidbaren Braunkohleausstieg einen wichtigen Wirtschaftszweig und viele Arbeitsplätze verlieren. Dieser Ausstieg wird jedoch weniger gravierende Einschnitte nach sich ziehen als das Einbrechen des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet in den 1960er Jahren. In der heutigen Situation haben Wirtschaft und Politik noch die Möglichkeit, aus den Lehren dieser Erfahrung zu lernen und den kommenden Strukturwandel aktiv anzupacken anstatt ihn so lange wie möglich hinauszuzögern. Wachsender Druck auf die lokale Braunkohleindustrie Es zeichnen sich schwierige Zeiten für die Braunkohleindustrie ab. Obwohl die Stromgestehungskosten der Braunkohle derzeit deutlich unter denen anderer fossiler Energieträger liegen,25 ist die Braunkohleverstromung gesamtwirtschaftlich betrachtet eine Verlustrechnung, sobald gesundheitliche Folgekosten durch Schadstoffemissionen sowie Kosten von Naturschäden wie Grundwasserabsenkungen und Fließgewässerverschmutzungen einberechnet werden. Diese externen Kosten werden auf ca. €80-100/MWh geschätzt, was ein Mehrfaches des Strompreises beträgt.26 Außerdem sind nicht alle Braunkohleblöcke gleich wirtschaftlich. 40% der deutschen Braunkohleblöcke sind älter als 35 Jahre.27 Schätzungen auf Basis von Daten der Energieversorger, die im Rahmen einer IG BCE-Studie zum Klimabeitrag veröffentlicht wurden,28 zeigen, dass die ältesten deutschen Braunkohleblöcke bestenfalls am Rande der Profitabilität operieren. Auf Grund ihrer niedrigen Effizienzgrade haben sie höhere Brennstoffkosten pro Megawattstunde als neuere Kraftwerksblöcke. Dies betrifft inbesondere den überalterten Kraftwerkspark der RWE Power AG.29 Vor diesem Hintergrund ist auch die Warnung des Unternehmens vor einem „Dominoeffekt“ zu verstehen, der zur Schließung großer Teile von Deutschlands Braunkohleflotte geführt hätte.30 Der sinkende Strombedarf und der fortschreitende Ausbau von Erneuerbaren Energien mit Grenzkosten nahe Null werden den Strompreis in Zukunft voraussichtlich 23 Hauptgründe für das Ausscheiden aus der Braunkohleindustrie sind vor allem Aufhebungsverträge (26,7%), Pensionierung und Vorruhestand (21,1%) und sonstige Gründe inklusive Umstrukturierung (23,6%) 24 Handelsblatt (2015) "Es geht um Überleben" 25 Fraunhofer ISE (2013) Stromgestehungskosten – Erneuerbare Energien 26 DIW (2014) Braunkohleausstieg – Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende, Politikberatung Kompakt 84 27 BNetzA NGO existing coal database 28 Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (2015) Potentielle Auswirkungen des “Nationalen Klimaschutzbeitrags” auf die Braunkohlewirtschaft 29 E3G (2015) RWE’s Lignite Liabilities: A Bail-out by taypayers? 30 RWE AG (2015) Die Bedeutung der Braunkohle. RWE hatte argumentiert, dass durch die Einschränkung oder Stilllegung einzelner Kraftwerksblöcke insgesamt nicht mehr genug Gewinn gemacht werden könnte, um die verbleibenden Kraftwerke und das System von Tagebauen und ihrer Rekultivierung zu finanzieren 10 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten weiter drücken. Ein Dominoeffekt, der die maroden alten Braunkohleblöcke vom Netz zwingen und momentan noch profitable Kraftwerksblöcke mitreißen könnte, wird auch allein durch diese Markttendenz immer wahrscheinlicher. Zudem wird die politische Rahmensetzung auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene die Marktlage der Braunkohle deutlich verschlechtern. So gibt es Bestrebungen, den europäischen Emissionshandel (ETS) zu reformieren, um durch Verknappung der Emissionszertifikate höhere CO2-Preise zu erreichen. Entsprechend wurde kürzlich eine Marktstabilitätsreserve verabschiedet, die ab 2019 in Kraft tritt.31 Zudem wird derzeit ein Reformvorschlag zum ETS verhandelt, der die jährliche Verknappung der Emissionszertifikate ab 2021 deutlich beschleunigen würde.32 Viele Marktbeobachter, inklusive Bloomberg New Energy Finance und Point Carbon, haben angesichts dieser Entwicklungen ihre Zertifikatspreisprognosen kürzlich angehoben. Point Carbon geht beispielsweise davon aus, dass der Preis für Emissionszertifikate, der aktuell bei ca. €8 liegt, bis 2020 auf €19 steigen wird.33 Zusammen mit den Daten zur Kostenstruktur der älteren deutschen Braunkohlekraftwerke aus der oben erwähnten IG BCE Studie lässt sich der Effekt von höheren Zertifikatspreisen auf deren Stromgestehungskosten abschätzen. Abbildung 3 zeigt die minimalen Stromgestehungskosten aller deutschen Braunkohleblöcke über 25 Jahre bei einem Zertifikatspreis von €19. Wie unschwer zu erkennen ist, würden die Erlöse aus dem Stromverkauf beim Forward-Strompreis von aktuell ca. €27 im Jahr 2020 nicht einmal die Kosten der Stromerzeugung decken. Wenn die Projektionen von Thompson Reuters zutreffen, könnte ein Großteil der deutschen Braunkohleflotte also bereits in 5 Jahren auch rein betriebswirtschaftlich unrentabel sein. Es handelt sich hierbei jedoch um eine eher konservative Schätzung. Fixe Brennstoffkosten, beispielsweise durch den Kauf von Land und Maschinen, wurden nicht beachtet, da ein Teil dieser Kosten kurzfristig nicht einzusparen wäre. Daher wären sie für eine Entscheidung über die Stilllegung oder den Weiterbetrieb von Kraftwerken nur mittelbar relevant („versunkene Kosten“). Inwiefern diese Kosten allerdings in der erwähnten IG BCE Studie eingepreist wurden, ist nicht ersichtlich. Werden im Gegensatz die auch fix Brennstoffkosten mit einbezogen, erreicht man Stromgestehungskosten von €48-57/MWh, was weit über den 2020 zu erwartenden Strompreisen liegt und somit die Obergrenze der Schätzung bildet. Die real ausschlaggebenden Kosten werden letztlich zwischen diesem Maximalwert und dem abgebildeten Minimalwert liegen. 31 Europäischer Rat (2015) Treibhausgasemissionen: Einrichtung einer Marktstabilitätsreserve gebilligt 32 European Commission (2015) Revision for phase 4 (2021-2030) 33 Carbon Pulse (2015) Poll: Analysts raise EU carbon price estimates, big jump for 2018-2020 11 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Abbildung 3 Stromgestehungskosten der ältesten deutschen Braunkohleblöcke (>25 Jahre) bei €19 EUA-Preis Quelle: E3G Schätzung Ungeachtet dessen wird die Stärkung des ETS die Braunkohle als emissionsintensivsten Energieträger härter treffen als die Steinkohle oder Erdgas. Die ETS-Reform wird daher nicht nur die Kosten der Braunkohleverstromung erhöhen, sondern zusätzlich ihre relative Wettbewerbsposition gegenüber anderen fossilen Brennstoffen verschlechtern. Wenn die Zertifikatspreise weit genug ansteigen, könnte die Braunkohle dadurch in der Merit Order noch hinter Gas rücken. Zudem werden voraussichtlich ab 2021 verschärfte Schadstoffgrenzwerte im Rahmen der EU-Richtlinie über Industrieemissionen und der deutschen Bundesimmissionsschutzverordnung in Kraft treten. Bei Kraftwerken, die diese Grenzwerte nicht einhalten, sind in der Regel teure Nachrüstungen mit Schadstoffminderungstechnologien notwendig. Dies würde speziell die RWEKraftwerke Weisweiler und Neurath treffen, deren NOx- Emissionen ca. 21%-28% über den ab 2021 gültigen Grenzwerten liegen. Da ein Nachrüsten zur Reduktion des NOxAusstoßes als besonders kostenintensiv gilt, ist hier mit erheblichen Investitionskosten zu rechnen. Vattenfall hat beispielsweise kalkuliert, dass ein Nachrüsten aller Kessel seines Kraftwerks Jänschwalde mit effektiveren NOxKatalysatoren Kapitalkosten von €20,3 Mio. und zusätzliche jährliche Betriebskosten von €7,2 Mio. verursachen würde. 34 Gerade bei älteren Braunkohleblöcken mit grenzwertiger Profitabilität werden sich die Energieversorger die Frage stellen müssen, ob sich ein solches Nachrüsten überhaupt noch rechnet oder eine Schließung aus wirtschaftlicher Sicht vorzuziehen wäre. Darüber hinaus bestätigen eine Reihe von Analysen, dass Deutschland seine Klimaziele für 2020 und 2030 nur mit einer deutlichen Verringerung der CO234 Vattenfall (2013) Transposition of the IED into German law - NOx ELV 100 mg/m³ for existing combustion plants 12 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Emissionen aus der Stromerzeugung erreichen kann.35 Die Bundesregierung hatte sich bereits im Dezember 2014 zu zusätzlichen Emissionsminderungen im Stromsektor bis 2020 verpflichtet, die allerdings mit der Einigung auf die Klimareserve erheblich abgeschwächt wurden. Eine Reduktion der Braunkohleverstromung ist ein naheliegendes Kerninstrument, um den Minderungsbeitrag des Stromsektors möglichst kostengünstig zu erreichen. Denn Braunkohle ist mit Abstand der emissionsintensivste Energieträger – er ist verantwortlich für 55% der CO2Emissionen des deutschen Stromsektors, liefert aber nur 26% des Stroms.36 Entsprechend wird die Bundespolitik die Reduktion der Braunkohleverstromung spätestens in der nächsten Legislaturperiode wieder aufgreifen müssen. Die Klimareserve wirkt hier lediglich verzögernd. Nachdem die vorgesehene Kapazität von 2,7 GW Braunkohle bis 2020 vom Netz gegangen ist, werden noch über 17 GW an Braunkohlekapazität übrig bleiben - mehr als in jedem anderen EU-Mitgliedstaat. In den energie- und klimapolitischen Entscheidungen der nächsten Jahre wird der sukzessive Ausstieg aus der Braunkohle daher eine zentrale Rolle spielen müssen. Diese durch umwelt- und klimapolitische Entscheidungen geminderte wirtschaftliche Rentabilität der Braunkohle spiegelt sich auch in der seit 1984 kontinuierlich abnehmenden Gesamtfördermenge der Rheinischen Braunkohle und der entsprechenden Gesamtbeschäftigung wider. Selbst technische Innovationen wie die CO2-Abscheidung und Speicherung (CCS) werden der Braunkohle in einer emissionsfreien Wirtschaft keine Zukunft schaffen können. Derzeit ist weltweit keine dieser Anlagen in industriellem Betrieb, und RWE verfolgte die Entwicklung von CCS von jeher halbherzig und beendete bereits 2011 die Planung für sein CCS-Pilotprojekt in Hürth.37 Auf Ebene der Landesregierungen ist die Situation ambivalent. Brandenburg z.B. bezeichnet die Braunkohle in seiner Energiestrategie als „Brückentechnologie“ auf dem Weg zu einem komplett auf Erneuerbaren Energien basierenden Stromsystem, womit die Unabwendbarkeit eines Braunkohleausstiegs bereits eingestanden wird.38 In Nordrhein-Westfalen ist durch das Klimaschutzgesetz festgeschrieben, dass die landesweiten CO2-Emissionen bis 2050 um mindestens 80% gegenüber 1990 gesenkt werden sollen. Hierfür ist auch im Entwurf des 2015 vorgestellten Klimaschutzplans festgeschrieben, dass die CO2-Emissionen aus der Kohleverstromung kontinuierlich reduziert werden müssen. 39 Ein konkreter Ausstiegspfad ist allerdings nicht beschrieben. Hierauf aufbauend muss daher zeitnah ein transparenter Dialog mit allen beteiligten und betroffenen Stakeholdern initiiert werden, um mögliche Übergangsstrategien ehrlich zu diskutieren. Denn bereits durch die Klimareserve werden 35 FÖS (2014) Klimaschutzplan lässt zu viel offen; DIW (2014) Wochenbericht Nr. 47., IZES Bericht 36 Daten von UBA und BNetzA, Stand: 2014 37 RWE AG (2015) IGCC-CCS-Kraftwerk 38 Siehe Energiestrategie 2030 des Landes Brandenburg 39 Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (2015) Der Klimaschutzplan 13 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Braunkohlearbeitsplätze im Rheinischen Revier wegfallen. So werden fünf von insgesamt 18 Braunkohlekraftwerksblöcken (oder 1.500 MW) im Rheinischen Revier zwischen 2017 und 2019 in die Reserve überführt und bis 2023 schrittweise stillgelegt. 40 , 41 Damit ist das Ende des Kraftwerks Frimmersdorf sowie eine Teilschließung der Kraftwerke Neurath und Niederaußem bereits beschlossen. Dies wird dazu führen, dass ab 2016 deutlich weniger Braunkohle im Rheinischen Revier gefördert werden wird. Da die Beschäftigung in Tagebauen stark von der Fördermenge abhängig ist, wird dies bereits auf mittlere Sicht zu signifikanten Arbeitsplatzverlusten führen. Vor diesem Hintergrund hat RWE bereits kurz nach der energiepolitischen Einigung auf die Klimareserve verkündet, 1.000 Arbeitsplätze in seiner Braunkohlesparte abbauen zu wollen.42 Dies entspricht ca. 10% der aktuell von RWE im Rheinischen Revier direkt Beschäftigten und könnte bis zu 700 indirekte Arbeitsplätze gefährden, wenn man den erwähnten Beschäftigungsfaktor der Braunkohle von 1,7 zu Grunde legt. Dennoch zeigt die Politik, vor allem auf Bundesebene, keine glaubwürdige und sozial verträgliche Ausstiegsperspektive auf. Politik, Gewerkschaften und Unternehmen tun den fast 22.000 Arbeitskräften im deutschen Braunkohlesektor keinen Gefallen damit, aus wahltaktischen oder unternehmerischen Interessen die Zukunft der Braunkohlewirtschaft auszublenden und eine ehrliche Kohleausstiegsdebatte zu verweigern. Denn die deutsche Braunkohlewirtschaft steuert momentan ungebremst auf einen Kollaps zu, der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders hart treffen wird. Was die betroffenen Arbeitskräfte und Regionen brauchen, ist ein geordneter Strukturwandel, der den Ausstieg so sozialverträglich wie möglich gestaltet und eine tragfähige Zukunftsperspektive jenseits der Braunkohle schafft. Die notwendigen strukturpolitischen Erfahrungen durch den Niedergang des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet sowie des Zusammenbruchs der Braunkohlewirtschaft in Ostdeutschland nach der deutschen Wiedervereinigung sind bereits vorhanden. 40 Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015) Teilausstieg aus der Braunkohle besiegelt 41 Kölnische Rundschau (2015) Aus für fünf Kraftwerksblöcke im rheinischen Revier 42 RP Online (2015) Bei RWE 1000 Braunkohle- Jobs bedrohte 14 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten KAPITEL 3 RWE - DIE GROSSE UNBEKANNTE Ein Dialog über einen geordneten Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier ist nur mit RWE möglich. Denn das Unternehmen ist mit der lokalen Braunkohleindustrie nahezu deckungsgleich und somit arbeitsrechtlich für seine Angestellten verantwortlich. Bislang zeigte sich RWE an einer Diskussion über einen sozial verträglichen Braunkohleausstieg wenig interessiert. Mit der jüngst angekündigten Aufspaltung zwischen dem konventionellen Stromgeschäft einerseits und Stromnetzen, Vertrieb und erneuerbaren Energien andererseits wird allerdings ein konstruktiverer Ton angeschlagen.43 So gesteht RWE-Vizechef Rolf Martin Schmitz mittlerweile ein, dass der „schleichende Ausstieg aus der Braunkohle“ unausweichlich ist und kündigt an, dass „spätestens nach der Bundestagswahl im Jahr 2017“ die „Verhandlungen über einen sozial verträglichen Ausstieg aus der Kohle mit der Bundesregierung“ beginnen müssen.44 Dabei darf allerdings nicht der Grund für die strategische Neuausrichtung des Unternehmens aus den Augen verloren werden. RWE steckt in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Selbst mit dieser Neuorientierung ist nicht sicher, ob RWE wieder auf einen zukunftsfähigen Kurs gelangen kann. Wie es der Chef von RWE Power AG in einem Interview ausdrückte: „Bei uns hat auch der Letzte begriffen […]: Es geht ums Überleben“.45 2013 beendete RWE mit einem Verlust von €2,7 Mrd. das schlechteste Finanzjahr seiner Geschichte. 2014 konnte das Unternehmen nach massiven Sparmaßnahmen und dem Verkauf von Anlagen wieder Profite aufweisen. Die betrieblichen Erträge sind dabei allerdings im Vergleich zu 2013 um 25% gesunken – die Erträge aus dem konventionellen Kraftwerkspark sogar um 29%.46 Der erste Halbjahresbericht für 2015 verzeichnete noch einen weiteren Einbruch des betrieblichen Ergebnisses um 11%.47 Ein Hauptgrund für diese Zahlen sind strategische Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe, die das Unternehmen in den letzten Jahren getätigt hat. So hat RWE allein in Deutschland seit 2012 3,2 GW an Kohlekapazität zugebaut. Es ist nicht davon auszugehen, dass RWE diese Investitionen zurückerwirtschaften kann. Die größten Verluste hatte das Unternehmen allerdings in Geschäftsaktivitäten in den Niederlanden zu verzeichnen. RWE investierte dort massiv in Gaskraftwerke, was sich als kostspieliger Fehler erwies, da sich das Geschäft nicht rechnete. In Folge musste RWE insgesamt €4,4 Mrd. außerplanmäßig für 2011-2013 abschreiben.48 43 Spiegel Online (2015) Neue Ökostrom-Tochter: RWE-Aufsichtsrat stimmt Aufspaltung zu, 11.12.2015 44 WiWo (2015) RWE: Teriums Aufspaltungsplan in das Ende der Braunkohle, 06.12.2015 45 Spiegel Online (2015) RWE streicht rund tausend Jobs 46 RWE AG (2015) Annual reports 47 RWE AG (2015) Report on the first half of 2015 48 Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (2015) Fehlinvestitionen der Energieversorgungsunternehmen E.ON und RWE 15 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Die Aufspaltung ist vor dem Hintergrund des Verlustgeschäfts mit der konventionellen Stromerzeugung nicht überraschend. Aus dem aktuellen Geschäftsbericht geht hervor, dass der konventionelle Kraftwerkspark insgesamt keinen Gewinn mehr erwirtschaftet.49 Laut RWE-Chef Peter Terium sind aktuell 35%-45% dieser Kraftwerke unprofitabel. Dies betrifft auch RWEs Braunkohlesparte. Besonders RWEs 300MW Braunkohleblöcke im Rheinischen Revier, von denen gegenwärtig 11 in Betrieb sind, hatten bereits seit 2013 „massive Schwierigkeiten, ihre Vollkosten zu verdienen“.50 Damals war der Strompreis mit €38/MWh allerdings noch 25% höher als heute. Unter aktuellen Marktbedingungen sollten diese Blöcke nahezu sicher unprofitabel sein. Während der konventionelle Kraftwerkspark keinen Gewinn mehr erwirtschaftet, verzeichnet die Grünstrom-Tochter RWE Innogy steigende Gewinne. In den ersten neun Monaten von 2015 erwirtschaftete die Tochtergesellschaft einen Gewinn von €280 Mio. (gegenüber €250 Mio. im Vorjahreszeitraum). Das entspricht etwa 10% des Gewinns des gesamten Konzerns. 51 Während RWE zunächst die Investitionen in erneuerbare Energien von 2014 auf 2015 auf ein Drittel herunterkürzte,52 will der Konzern diese im kommenden Jahr wieder auf das ursprüngliche Niveau von €1 Mrd. anheben.53 Die Abspaltung des konventionellen Kraftwerksparks und ein Börsengang können hierfür neues Investitionskapital generieren. Dies war bisher aus dem laufenden Geschäft nicht möglich. Während der RWE-Aktienkurs kurz nach der Ankündigung um 15% anstieg, ist er mittlerweile wieder auf das Niveau von vor der Ankündigung der Neuausrichtung gesunken. Dieses liegt bei etwa €11, was 60% niedriger ist als noch zu Beginn des Jahres.54 Eine Finanzierung über den Finanzmarkt wurde außerdem durch die erfolgten Abwertungen durch die Ratingagenturen Standard & Poor‘s und Moody‘s weiter erschwert.55 Ebenso sind Pläne zur zehnprozentigen Beteiligung eines arabischen Investors an RWE mittlerweile gescheitert.56 Zudem sind noch weitere Regulierungskosten für die Braunkohle zu erwarten, und auch die benötigten Rückstellungen für den Atomausstieg könnten höher ausfallen als ursprünglich berechnet.57 Angesichts all dieser Herausforderungen ist das Schicksal des Konzerns und damit der Region weiterhin offen. Es ist davon auszugehen, dass die Kommunen, die 25% der RWE-Aktien halten58 und damit gleichzeitig Konzessionsgeber, Kunden und Anteilseigner sind, sich mehr als bisher in die Debatte um die Zukunft des Konzerns und damit der Braunkohle 49 RWE AG (2015) Paving the way for growth with continued focus on financial discipline 50 Ingenieur.de (2013) Unrentabel: RWE überprüft jedes Kraftwerk 51 Klimaretter (2015) Ein Zehntel des RWE-Gewinns erneuerbar, 12.11.2015 52 The Wall Street Journal (2015) RWE Plans Further Cost Cuts 53 WiWo (2015) RWE: Teriums Aufspaltungsplan in das Ende der Braunkohle, 06.12.2015 54 http://www.finanzen.net/aktien/RWE-Aktie 55 Standard & Poor's Ratings Services (2015) RWE AG 56 Bloomberg L.P. (2015) RWE Won't Pursue Talks With Potential Partner on Stake Sale 57 Spiegel Online (2015) Vorläufiges Gutachten zu Rückstellungen: Aktienkurse von RWE und E.on brechen ein 58 Lobbypedia (2015) RWE 16 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten einmischen werden. Nicht zuletzt liegt das daran, dass sie rund €190 Mio. Umsatzsteuer von RWE beziehen 59 und auf weitere Steuereinnahmen über die gesamte betroffene Wertschöpfungskette angewiesen sind. 60 Zudem würde der Wegfall jedes einzelnen Arbeitsplatzes eine direkte Kaufkraftminderung von €15.000 jährlich sowie steigende Sozialausgaben bedeuten.61 Auch wenn RWE nun eine längst überfällige Kurskorrektur vornimmt, ist angesichts der fortlaufenden Gewinneinbrüche, hohen Schulden und Zukunftslasten sowie der starken Abhängigkeit von der Kohle ungewiss, ob die Strategie erfolgreich sein wird. Wenn das Unternehmen auf einen zukunftsfähigen Kurs kommen soll, bedeutet das den Ausstieg aus der Braunkohle, wie RWE jetzt selbst eingesteht. Falls es jedoch zu einer Insolvenz des Unternehmens oder einer abrupten Schließung von Braukohlekraftwerken kommt, droht dem Rheinischen Revier ein wirtschaftlicher Schock. So oder so besteht hohe Dringlichkeit, sich mit den Zukunftsperspektiven des Rheinischen Reviers jenseits der Braunkohle auseinanderzusetzen und den Strukturwandel frühzeitig aktiv zu gestalten. KAPITEL 4 EIN FAIRER DEAL FÜR DAS RHEINISCHE BRAUNKOHLEREVIER Das Rheinische Revier im politischen Spannungsfeld Ein detaillierter Blick auf die heutigen lokalen Wirtschaftsstrukturen zeigt, dass sich das Rheinische Revier, sowie ganz Nordrhein-Westfalen, bereits in einem Wandlungsprozess befinden. Insbesondere die lokale Industriepolitik steht vor dem Dilemma, alte Strukturen bewahren und gleichzeitig moderne Sektoren etablieren zu wollen. Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch in den aktuellen politischen Entscheidungen und der Gesetzeslage. Denn Nordrhein-Westfalen ist eines der wenigen Bundesländer, die bereits ein Klimaschutzgesetz und einen Klimaschutzplan verabschiedet haben,62 um die nationalen und sub-nationalen Klimaschutzziele zu erreichen. In diesem Zusammenhang wird erstmals von der Prüfung von Mindestwirkungsgraden für Braunkohlekraftwerke gesprochen und anerkannt, dass deren Emissionen zur Einhaltung der nationalen Klimaschutzziele kontinuierlich reduziert werden müssen. Auch die am 22. September 2015 veröffentlichte 59 Kosma (2012) Die Zukunft des Rheinischen Braunkohlereviers 60 Das bezieht sich auf Einkommenssteuer sowie bei sinkender Unternehmenswirtschaftlichkeit auch Umsatz- und Gewerbesteuer. 61 EEFA (2010) Bedeutung der Braunkohleindustrie in Deutschland- sektorale Produktions- und Beschäftigungseffekte 62 Der Klimaschutzplan ist bereits am 16.06.2015 vom Kabinett beschlossen worden. Der finale Beschluss durch den Landtag Nordrhein-Westfalens wird Mitte Dezember 2015 erwartet 17 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten landespolitische Leitentscheidung zur Verkleinerung des bereits genehmigten Tagebaus „Garzweiler II“ beinhaltet ein klares politisches Bekenntnis zur sinkenden Wichtigkeit der Braunkohle im Rheinischen Revier.63 Dies wird begleitet durch die von der Landesregierung beschlossene Gründung der „Innovationsregion Rheinisches Revier“ und das Einholen von Gutachten, wie der aktuelle Strukturwandel politisch begleitet werden könnte.64 Auch beim Blick auf die parlamentarische Arbeit im Düsseldorfer Landtag wird deutlich, dass die sich wandelnde Rolle der lokalen Braunkohleindustrie zunehmend strukturpolitisch analysiert wird.65 Dies stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer nachhaltigen und dekarbonisierten Wirtschaftsweise dar. In der Landespolitik scheint grundsätzlich Einigkeit über die Notwendigkeit eines Braunkohleausstiegs zu bestehen. Der Vorstoß von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks, die im Vorfeld der Klimaverhandlungen in Paris einen Kohleausstieg innerhalb von 20 bis 25 Jahren forderte, hat jedoch gezeigt, dass die Frage des Zeitrahmens noch äußerst kontrovers diskutiert wird. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sowie NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin kritisierten die Initiative ihrer Parteikollegin scharf. 66 Die NRW-Grünen, Koalitionspartner der SPD in der Landeregierung, forderten dagegen sogar einen noch schnelleren Kohleausstieg in nur 15 Jahren.67 Die Landesregierung ist in der Kohlefrage intern gespalten. Gerade die SPD ist angesichts der wahrgenommenen politischen Kosten eines Kohleausstiegs handlungsunfähig. Folglich fehlt es bisher an konkreten gesetzlichen Umsetzungsmaßnahmen und klaren politischen Bekenntnissen für einen geordneten Kohleausstieg. So wurde beispielsweise in der Konzeptionsphase des Klimaschutzplans von der bearbeitenden Arbeitsgruppe aus Industrie und Verbänden abgelehnt, dass das Land sich auf Bundesebene für ein „Gesetz über die geordnete Beendigung der CO2-intensiven Steinkohle- und Braunkohleförderung“ (Kohle-Ausstiegsgesetz) sowie für die Anpassung des Bundesimmissionsschutzgesetzes im Bundesrat einsetzt. Der entsprechende Vorschlag wurde dann nicht in den finalen Entwurf des Klimaschutzplanes aufgenommen. 68 Auch der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister positioniert sich klar für die Braunkohle, da diese noch lange für eine sichere Stromversorgung benötigt werde.69 63 Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen (2015) Leitentscheidung zum Rheinischen Revier 64 Beispielsweise das Gutachten des Instituts für Arbeit und Technik zum Thema "Präventiver Strukturwandel" an den Landtag Nordrhein-Westfalen 65 Landtag NRW (2015) Suchergebnis nach Landtagsaktivitäten zu den Themen "Braunkohle" und "Strukturwandel" 66 Die Welt (2015) NRW legt sich bei Ausstieg zeitlich nicht fest, 3.12.2015 67 Rheinische Post (2015) NRW-Grüne fordern Braunkohle-Ausstieg innerhalb von 15 Jahren, 28.11.2015 68 Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (2015) Maßnahmenentwurf Anhang 3.1 69 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2015) NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin auf der zweiten Revierkonferenz: Unterstützung für vorrausschauenden Strukturwandel im Rheinischen Revier 18 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Diese Spannung zwischen ambitionierter Klimapolitik einerseits und dem Festhalten an kohlenstoffintensiven Wertschöpfungsketten andererseits sendet widersprüchliche Signale und verunsichert Investoren sowie Unternehmer. Um Investitionen in zukunftsfähigen Bereichen wie Erneuerbare Energien, Energiesysteme oder dem IKTSektor zu mobilisieren, braucht es Planungssicherheit und eine klare Zukunftsvision für das Rheinischen Revier und Nordrhein-Westfalen in einer kohlenstoffarmen Wirtschaft. Es gilt darüber hinaus, die bereits erfolgten Fortschritte hin zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Wirtschaftsstruktur zu nutzen und neue Dynamiken zu generieren, um Nordrhein-Westfalen samt dem Rheinischen Revier aus diesem Spannungsverhältnis zu befreien. Die lokale Wirtschaft im Umbruch Ein Strukturwandel ist nötig, um die Wirtschaft des Rheinischen Reviers in Einklang mit der voranschreitenden Energiewende zu bringen. Dieser Wandel wird durch die demographische Entwicklung begünstigt. So arbeiteten in dem früher wichtigen, jedoch heute stark schrumpfenden, sekundären Wirtschaftssektor70 in NordrheinWestfalen überdurchschnittlich viele ältere Menschen. 71 Dagegen ziehen das Dienstleistungsgewerbe und der IT-Sektor zunehmend jüngere Beschäftigte an.72 Speziell unter dem Gesichtspunkt des langfristigen Abwärtstrends der lokalen Braunkohlebeschäftigung stellt das starke Wachstum des tertiären Sektors eine wichtige Möglichkeit dar, besonders für junge Berufseinsteiger auch zukünftig sichere Arbeitsperspektiven zu schaffen. Zudem fördern die günstigen Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie verhältnismäßig niedrige Grundstückspreise, den Zuzug von jungen Angestellten, Unternehmensgründern und Investoren.73 Hinzu kommt, dass das Rheinische Revier heute bereits als eine „Pendlerregion“ mit Verknüpfungen in die umliegenden Wirtschaftsregionen, zum Beispiel dem Ruhrgebiet, gilt.13 Durch einen verstärkten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur könnte die gesamte Region zu einem noch stärkeren wirtschaftlichen Ballungsraum werden.74 Dies ist vor allem für die zunehmend an lokaler Bedeutung gewinnende Logistikbranche, aber auch für den Ausbau der Erneuerbare Energien relevant. Beide bieten ein großes Ausbildungs- und Wirtschaftspotential.75 Im Logistikbereich lässt sich eine zunehmende Ausrichtung auf die Rheinschiene beobachten, die wichtige Umschlagseinrichtungen in und um das Rheinische Revier miteinander verbindet. Im nördlichen Teil des Rheinischen Reviers entwickelt sich 70 Der sekundären Wirtschaftssektoren beinhaltet das produzierende Gewerbe, inklusive beispielsweise Bergbau und Metallund Elektroindustrie. Die Beschäftigung in dem sekundären Wirtschaftssektor sank zwischen 1999 und 2009 um 16% 71 Statista (2015) Durchschnittsalter der Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Deutschland im Jahresvergleich 2001 und 2012 72 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2012) Arbeitsmärkte im Wandel. Der tertiäre Sektor in Nordrhein-Westfalen wuchs zwischen 1999 und 2009 um 14%. 73 Hans Böckler Stiftung (2008) Mitbestimmung Strukturwandel 74 Industrie- und Handelskammer Aachen (2011) Pendleratlas Region Aachen: Analyse der Pendlerströme und deren wirtschaftliche Relevanz im Kammerbezirk Aachen 75 IÖW (2012) Kommunale Wertschöpfung und Beschäftigung durch Erneuerbare Energien in zwei Modellkommunen in NRW 19 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten ergänzend hierzu eine Ost-West-Achse von Düsseldorf in Richtung Venlo/Rotterdam, die künftig bei der Realisierung des sogenannten Eisernen Rheins76 noch an Bedeutung gewinnen kann.77 Zudem wurden in 2013 nur etwa 8% des in Nordrhein-Westfalen produzierten Stroms aus Erneuerbaren Energien und Biomasse gewonnen. Damit hinkt das Bundesland deutlich dem deutschlandweiten Ausbau der Erneuerbare Energien hinterher. 78 Ebenso bei der Beschäftigung: Das Land hat den bundesweit geringsten Anteil an Unternehmen und die dritt-niedrigste Beschäftigungsquote in diese Erneuerbare Energien-Branche. Auch die Zahl der entsprechenden Studiengänge ist noch vergleichsweise gering. Als eine Hauptursache wird das Fehlen einer konkreten Ansiedlungsstrategie für Erneuerbare Energien gesehen. 79 Laut dem nordrheinwestfälischen Klimaschutzplan soll der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strommix bis 2025 auf mehr als 30% angehoben werden. Trotz dem bisher nur mäßigen Erfolg beim Ausbau der Erneuerbaren Energien sichert die Branche in Nordrhein-Westfalen bereits mehr als 50.000 Arbeitsplätze.80 Das sind mehr als die Braun- und Steinkohleindustrie zusammen. Das Beschäftigungspotenzial im „grünen“ Sektor ist also enorm, auch wenn nicht alle der zukünftigen Arbeitsplätze unmittelbar im Rheinischen Revier entstehen werden. Aus Sicht von Arbeitnehmern und Auszubildenden scheinen diese Arbeitsplätze in der Erneuerbaren Energien-Branche im Vergleich zu den bislang sicheren und gut bezahlten Arbeitsplätzen in der Braunkohleindustrie im Rheinischen Revier allerdings keine attraktive Alternative zu sein. Als Hauptgründe werden vor allem eine geringere Arbeitsplatzsicherheit und schlechtere Arbeitsbedingungen genannt. Unbestritten ist, dass das durchschnittliche Brutto-Jahresgehalt in der Erneuerbare-Branche mit €31.800 weit unter dem in der Braunkohleindustrie liegt.81 Dennoch sollte die Arbeitsplatzsituation in der Braunkohleindustrie differenzierter betrachtet werden. Denn während bei direkten Arbeitsplätzen das durchschnittliche Bruttojahresgehalt eines Arbeitnehmers im Jahr 2013 in der nordrheinwestphälischen Energieversorgung bei €60.137 und im Bergbausektor bei €47.501 lag,82 sah die Situation bei den indirekten Arbeitsplätzen deutlich schlechter aus. Hier übt die Braunkohleindustrie einen starken Kostendruck auf die Zulieferbetriebe aus. So stellte die IG Metall 2013 bezüglich Zulieferbetrieben in der Metall- und 76 Güterbahnlinie zwischen dem Ruhrgebiet und Antwerpen 77 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2013) Potentialanalyse zur intelligenten Spezialisierung in der Innovationsregion Rheinisches Revier (IRR) 78 In 2013 produzierten Erneuerbare Energiequellen 20% des deutschen Strommixes; in 2015 bereits 33% 79 Agentur für Erneuerbare Energien (2014) Länderzusammenfassung zur Bundesländer- Vergleichsstudie Erneuerbare Energien 2014 80 GWS (2014) Erneuerbar beschäftigt in den Bundesländern: Bericht zur aktualisierten Abschätzung der Bruttobeschäftigung 2013 in den Bundesländern, beispielsweise in der Windenergie-Branche; ohne Beschäftigung aus öffentlich geförderter Forschung und Verwaltung; Studie im Auftrag des BMWi 81 IG Metall (2014) Nachhaltig – aber auch sozial? Arbeitsbedingungen und Einkommen in den Erneuerbaren Energien 82 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2014) Länderergebnisse für Deutschland 20 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Elektrobranche fest, „dass nur knapp ein Drittel der Belegschaften nach Flächentarif oder daran angelehnten Vereinbarungen bezahlt wurde.“ 83 Der Einsatz von Subunternehmern und Leiharbeitern drücke die Löhne noch zusätzlich. So zahlte Vattenfall-Zulieferer Emis Elektrics, ein auf Kraftwerke spezialisierter Elektronikdienstleister, seinen über 400 Beschäftigten in 2011 beispielsweise durchschnittlich €30.625 brutto, was weit unter dem Branchentarif von €35.200 liegt.84 Speziell die Frage der Arbeitsplatzunsicherheit in der Braunkohleindustrie muss genauer betrachtet werden. Zwar werden auch die Erneuerbaren Energien oft mit unsicheren Berufsperspektiven in Verbindung gebracht. Dies geht jedoch vor allem auf die weiterhin zentrale Rolle des Anlagenzubaus (Produktion und Installation) zurück, der die treibende Kraft hinter der hohen Gesamtbeschäftigung in dieser Branche ist. Im bundesweiten Durchschnitt entfallen 64% der Beschäftigung auf diesen Bereich, und nur 21% auf den Bereich Wartung und Betrieb.85 Der Zubau von Erneuerbaren Energien-Anlagen kann somit als umfangreiches Infrastrukturprojekt in kurzer Zeit große Beschäftigungseffekte erzielen – wenn auch meist nur an zentralisierten Produktionsstätten. Diese Arbeitsplätze im Anlagenbau müssen jedoch durch ein stetig hohes Zubauniveau aufrecht erhalten werden. Das bringt eine gewisse Volatilität mit sich: sinkt der Zubau, dann nimmt auch der Beschäftigungseffekt ab. Der Einbruch der Solarbranche in den letzten Jahren hat dies schmerzhaft verdeutlicht. Weitaus beständiger gestalten sich hingegen die Arbeitsplätze im Bereich Wartung und Betrieb, der über die gesamte Lebensdauer der Anlage eine Beschäftigungswirkung entfaltet. Durch den wachsenden Bestand an Anlagen werden Wartung und Betrieb immer weiter an Bedeutung gewinnen. Außerdem führen diese Bereiche nahezu immer zu lokaler Wertschöpfung und Beschäftigungseffekten, da sie größtenteils als Dienstleitungen vor Ort erbracht werden. Der Anlagenzubau ist also aus zweierlei Gründen entscheidend: Einerseits bestimmt er die Größe des anfänglichen temporären Beschäftigungseffekts, andererseits bestimmt er langfristig die Höhe der permanenten Beschäftigung im Bereich Wartung und Betrieb. Die Volatilität der Arbeitsplätze im Bereich Neuinstallationen ist also kein Argument gegen den weiteren Ausbau der Erneuerbaren speziell unter Gesichtspunkten der regionalen Wertschöpfung. Eine lokale Ansiedlung von Erneuerbaren Energien-Unternehmen stellt folglich eine gute Möglichkeit dar, die regionale Wertschöpfung zu diversifizieren, den Forschungsund Entwicklungsbereich zu stärken 86 und neue Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die ansässige, aber auch für die zuziehende 83 Lausitzer Rundschau (2013) IG Metall: Vattenfall-Dienstleister zahlen zu wenig, 28. Juni 2013 84 Ibid. 85 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014) Bruttobeschäftigung durch erneuerbare Energien in Deutschland im Jahr 2013. Die verbleibenden 15% fallen im Biomasse-Sektor an, der in der erwähnten Studie separat behandelt wird 86 Alleine am Forschungszentrum Jülich forschen 1.000 Mitarbeiter zu Erneuerbare Energien und der Energiewende 21 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Bevölkerung zu schaffen, was letztlich auch die Kommunen vor Ort unterstützt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Neuausrichtung von RWE wichtig, deren Erfolg nicht garantiert ist. Der verabschiedete Klimaschutzplan bietet durch spartenspezifische Ausbaupläne hierzu konkrete erste Schritte, um die Erneuerbaren Energien-Ansiedlung voranzutreiben.38 Während die Landesregierung bezüglich der nötigen strukturpolitischen Weichenstellungen noch zögert, haben Regionen und Unternehmen bereits begonnen sich zusammenzuschließen, um durch neue Geschäftsmodelle und -konzepte auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben. Beispiele stellen die „LEADER Regionen“ oder die „Innovationsregion Rheinisches Revier“ dar. Die LEADER Regionen bestehen aus 28 Zusammenschlüssen von Dörfern und Gemeinden der ländlichen Regionen in Nordrhein-Westfalen. Die ausgewählten Regionen haben sich in einem Förderwettbewerb des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums durchgesetzt. Ihnen stehen nun bis 2020 zusammen rund €75 Mio. zur Verfügung, um regionale Entwicklungsstrategien zu realisieren. Hauptschwerpunkte dieser Strategien sollen beispielsweise Lösungsansätze für den lokalen Fachkräftemangel oder den demographischen Wandel entwickeln, oder Investoren für neue Arbeits- und Einkommensquellen identifizieren.87 Eine dieser Regionen ist die Region Rheinisches Revier an Inde und Rur, der nun €3,1 Mio. für die Umsetzung einer für die Bewerbung entwickelten regionale Entwicklungsstrategie zur Verfügung stehen. Weitere bereits geförderte LEADER Regionen im Rheinischen Revier sind die Regionen Zülpicher Börde und Eifel. In der Innovationsregion Rheinisches Revier bearbeiten zahlreiche regionale Vertreter verschiedener Institutionen mögliche Entwicklungsschwerpunkte für das Revier. Die Eckpunkte des Programms „Innovationsregion Rheinisches Revier“ wurden von der Landesregierung in Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen beschlossen.88 Seit 2014 werden die operativen Geschäfte und die Vernetzung über eine Geschäftsstelle in Jülich (IRR GmbH) geleitet. Ziel ist es, die Region aus sich selbst heraus zukunftsfähig aufzustellen.89 Als Teil dieser neuen Standortstrategien werden heutige CO2-intensive industrielle Infrastrukturen erhalten und anderweitig verwendet. So können diese, wenn sie beispielsweise marketingtechnisch aufbereitet werden, speziell in gut angebundenen Gebieten touristisch weitergenutzt werden. Ein Beispiel stellt die Rheinische Straße der Braunkohle dar, die 550 wichtige Objekte der Themenbereiche Baudenkmale, Spitzentechnik, Rekultivierung, Umsiedlung und Archäologie im Braunkohlerevier zum Beispiel durch Touren und Betriebsanlagenbesichtigungen öffentlichkeitswirksam nutzt.90 87 Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (2015) Heimat.Land.NRW- LEADER-Regionen ausgewählt 88 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2012) IRR Innovationsprogramm 1.0 89 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2015) Engagement aus der Region für die Region 90 AG Dr. Gilson (2005) Rheinische Straße der Braunkohle - Grobkonzept 22 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Neben all diesen Möglichkeiten kann sich aber auch die Präsenz von Grundstoffindustrien im Zuge des Übergangs zu einer emissionsarmen, nachhaltigen Wirtschaft als Standortvorteil beweisen. Denn die steigende Nachfrage nach Erneuerbaren Energien und umweltschonenden Infrastrukturlösungen wird den Bedarf an Aluminium, Stahl, Zement und chemischen Grundstoffen weiter wachsen lassen. 91 , 92 Zwar wird es in Zukunft darauf ankommen, gerade in diesen energieintensiven Industriezweigen eine tiefgreifende Dekarbonisierung vorzunehmen – dies kann allerdings Teil einer kohlenstoffarmen und nachhaltigen regionalen Entwicklungsstrategie werden. Nicht zuletzt deswegen sollten die entsprechenden Unternehmen in der Region gehalten werden. Desweiteren muss insbesondere bei der Aluminiumproduktion das Potential von demand side management eruiert werden, da die Aluminiumelektrolyse flexibel steuerbar ist. Auch eine stoffliche Nutzung der Braunkohle – so sehr sie unter Experten und Klimapolitikern umstritten sein mag – ist als weitere zukünftige lokale Wertschöpfungs- und Beschäftigungsmöglichkeit im Gespräch. Speziell in der Chemie wurde eine alternative Nutzung der Braunkohle im Abschlussbericht der ChemieEnquetekommission des Landtags Nordrhein-Westfalens als Ersatz für Rohölimporte angeführt. Um die stoffliche Nutzung im großen Stil zu etablieren, wären allerdings hohe Investitionen nötig. Angesichts der derzeit niedrigen Erdölpreise, der hohen Reinigungskosten der Verfahren und einem absehbaren Kostenanstieg der CO2Zertifikate stellt dies jedoch ein beachtliches finanzielles Risiko dar.93 Aufgrund der vielen Hindernisse spielt die stoffliche Nutzung der Braunkohle in Deutschland eine untergeordnete Rolle- lediglich 2% der kohlenstoffbasierten Produkte der Chemieindustrie stammen daher.94 Auch die Beschäftigungspotenziale sind gering.95 Deutschlandweit wird die direkte Beschäftigung durch stoffliche Nutzung auf 1.000 geschätzt, mit einem Wachstumspotenzial von lediglich 250-300 Arbeitsplätzen.96 Insgesamt stellt der zukünftige Braunkohleausstieg das Rheinische Revier zweifellos vor große Herausforderungen. Dabei ist die Region aber gut aufgestellt, um den Übergang zu einer dekarbonisierten Wirtschaft zu bewältigen. Sowohl die ausgeprägten Wachstumspotentiale im Bereich sauberer und intelligenter Technologien sowie im Logistiksektor, aber auch die starke Aufstellung in weiterhin essentiellen Grundstoffindustrien stellen Zukunftsperspektiven dar. Der Wandel zu einer zukunftsfähigen Wirtschaftsstruktur ist teils schon im Gange, und die 91 Vidal et al. (2013) Metals for a low-carbon society 92 Der Landtag NRW (2015) Enquetekommission zur Zukunft der Chemischen Industrie in Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf nachhaltige Rohstoffbasen, Produkte und Produktionsverfahren 93 Bimboes (2015) Braunkohlevergasung ohne Zukunft 94 DGMK; Dechema (2009) Positionspapier Kohlenveredlung 95 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2014) Braunkohleausstieg- Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende 96 Brezinski, Horst (2009) Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer erweiterten stofflichen Nutzung von Braunkohle 23 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten demografische Entwicklung wird den sozial verträglichen Kohleausstieg zusätzlich erleichtern. Zudem wird der sukzessive Rückbau der Kohlewirtschaft zu verbesserten Umwelt- und Lebensbedingungen führen. So werden beispielsweise keine Umsiedlungen für die Erschließung neuer Tagebaue mehr nötig sein. Denn seit 1952 sind mehr als 40.000 Menschen im Rheinischen Revier umgesiedelt worden; die Mehrzahl gegen ihren Willen. Rechnet man bereits genehmigte Abbaugebiete ein, würde sich diese Zahl bis zum Jahr 2045 auf bis zu 45.000 Menschen erhöhen, wenn nicht vorher ein Kohleausstiegspfad festgelegt wird. 97 , 98 Gleichzeitig führt der Tagebau zu großflächigen Änderungen des natürlichen Landschaftsbilds 99 und des Wasserhaushalts100,101 sowie zu erheblichen gesundheitlichen Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung. So lassen sich alleine in Deutschland jährlich etwa 2.700 Todesfälle und 1.300 Fälle von chronischer Bronchitis auf Schadstoffe aus der Kohleverstromung zurückführen.102 Darüber hinaus ist die Zukunft der rheinischen Braunkohle nicht nur mit den lokalen Wirtschafts- und Lebensbedingungen verknüpft, sondern auch mit dem Erfolg der Energiewende als Ganzes. Auch international blicken bereits heute viele Akteure auf Nordrhein-Westfalen und das Rheinische Revier, weil ihnen selbst der Übergang von einer auf Kohle und Schwerindustrie basierenden lokalen Wirtschaft zu einer nachhaltigen Industrieregion bevorsteht. Im Rheinischen Revier besteht die Chance, die lokale Wirtschaft auf neue Branchen wie Erneuerbare Energien, verlässliche Energiesysteme 103 oder auch den Dienstleistungs- 104 und Tourismussektor 105 umzustellen. Eine gesteigerte positive Außenwirkung kann hierbei helfen, Investoren anzuziehen und regionalen Geschäftskonzepten zu größerer Beachtung zu verhelfen. Wenn es gelingt, für die Menschen in der Region eine echte Perspektive in einer dekarbonisierten Wirtschaftsweise zu schaffen, kann das Rheinische Revier zu einem Vorzeigemodell für viele Regionen in Europa und weltweit werden. Umsetzung eines gerechten und geordneten Strukturwandels Lehren aus dem Niedergang des lokalen Steinkohlebergbaus Es ist nicht das erste Mal, dass ein Strukturwandel in der Region vollzogen wird. In dem räumlich, wie auch wirtschaftlich nahen Ruhrgebiet wird seit dem 18. Jahrhundert Steinkohle gefördert. Die im 19. Jahrhundert einsetzende 97 Aktionsbündnis Zukunft statt Braunkohle (2015) Rheinland 98 BUND Landesverband Nordrhein-Westfalen (2015) Verheizte Heimat 99 BUND Landesverband Nordrhein-Westfalen (2015) Energiegewinnung contra Naturerbe – Wie die Braunkohle eine ganze Region zerstört 100 BUND, LNU, NABU (2012) Stellungnahme zu den Zulassungsanträgen der RWE Power AG 101 Zentis (2013) Unterwegs im rheinischen Revier - Unsere INFO-Tour 2013 102 Die Welt (2013) Studie beziffert Schäden durch Kohlekraftwerke 103 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2015) Energiewende-Studie zeigt Chancen für die Innovationsregion Rheinisches Revier 104 Entwicklungsgesellschaft indeland mbH (2014) Schichtwechsel. Regionale Entwicklungsstrategie. LEADER-Bewerbung für die Förderperiode 2014-2020 105 24 Innovationsregion Rheinisches Revier GmbH (2013) IRR-Studie belegt touristisches Potenzial der Braunkohleregion Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Industrialisierung und die damit verbundene hohe Nachfrage nach Stahl, Kohle und Energie führten zu einer starken Montanindustrie. Speziell die Kriegs- und direkten Nachkriegsjahre des 2. Weltkriegs förderten diese Entwicklung. Ende der 1950er Jahre sanken jedoch auf einmal die Kohlepreise, und die Nachfrage für Ruhrkohle brach ein, da in vielen Industriebetrieben und Haushalten Kohle zunehmend durch Erdöl und billigere Importkohle ersetzt wurde, beispielsweise aus China, Kanada und den USA. Zudem machten technologische Fortschritte eine geringeren Einsatz von Koks zur Stahlherstellung notwendig.106 Es folgten die Stilllegung vieler Zechen und Massenentlassungen. Das Wirtschaftswachstum kam völlig zum Erliegen. So verloren zwischen 1955 und 1970 beinahe 58% aller Steinkohlebeschäftigten im Ruhrgebiet ihre Arbeit.107 Dies hatte einschneidende Folgen für die lokale Bevölkerung, die sich ihres wirtschaftlichen Selbstbewusstseins der letzten 150 Jahre beraubt sah, aber auch für die Kommunen, die auf die Steuereinnahmen angewiesen waren. Die Politik reagierte zunächst defensiv. Dies beruhte auf der Annahme der Unentbehrlichkeit der im internationalen Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähigen lokalen Steinkohleförderung.108 Das Beharren auf alten Strukturen verhinderte einen frühzeitigen strukturellen Wandel. 109 Statt fortschrittliche strukturpolitische Maßnahmen einzuleiten, forderte die Politik die Sicherung der Kohlemärkte durch Importrestriktionen, wie Quoten und Zölle für Importkohle und -öl, sowie durch Verträge mit einheimischen Elektrizitätswerken. Gleichzeitig führte die strikte Fokussierung auf die Montanindustrie dazu, dass das Bildungs- und Forschungswesen bis zum Bau der Ruhr-Universität in Bochum im Jahr 1965 in der Region stark vernachlässigt wurde.102 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es daher keinerlei innovative Impulse aus der Forschung, die die wirtschaftliche Entwicklung hätten fördern können.102 Auch das lokale Nahverkehrssystem und die Gestaltung von Landschaftsund Freizeitbereichen wurden stark vernachlässigt.102 Erst 1968 verabschiedete die Landesregierung Nordrhein-Westfalens das „Entwicklungsprogramm Ruhr 1968-1973“ mit dem Ziel, die Entwicklung und Modernisierung der lokalen Wirtschaft unter staatlicher Regie durchzuführen und gleichzeitig vielfältige regionale und gut erreichbare Erholungseinrichtungen zu etablieren.110 Es sollte insgesamt ein „höherer Wohnwert“ im Ruhrgebiet geschaffen und Schulen und Universitäten aus- und aufgebaut werden.111 Zudem sollte das Ruhrgebiet durch die Ansiedlung von Wachstumsindustrien und Rationalisierungsmaßnahmen (wie die Zusammenführung des bisher zersplitterten Bergbaubesitzes in die „Ruhrkohle AG“) grundlegend umgestaltet werden. 106 Metropoleruhr (2015) Technische Entwicklung der Stahlerzeugung 107 Statista (2015) Gesamte Belegschaft im Steinkohlenbergbau im Ruhrgebiet in den Jahren von 1945 bis 2014 108 RWI (2005) Strukturwandel ohne Ende? - Aktuelle Vorschläge zur Revitalisierung des Ruhrgebiets und ihre Bewertung 109 Ernst Klett (2012) Infoblatt Strukturwandel im Ruhrgebiet 110 Metropoleruhr (2010) Entwicklungsprogramm Ruhr 1968-1973 111 Ruhr-Guide (2015) Das Ruhrgebiet - Die Entwicklung und der Strukturwandel 25 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Dies alles ermöglichte einen Strukturwandel, zeigte jedoch erst in den 1980er und 1990er Jahren Erfolge. Beispiele sind die Ansiedlung von Umwelt- und Biotechnologieunternehmen sowie IT-Firmen in Folge des Internet-Booms. Dies wurde auch durch innovative Lösungen unterstützt, die alte Industrieanlagen wie die „IBA Emscher Park“ und „Zeche Zollverein“ in Essen4 für Dienstleistungsunternehmen nutzbar gemacht oder sozial und kulturell umgestaltet haben. Die heutige Wirtschaft im Ruhrgebiet wird vor allem durch eine starke und zukunftsfähige Dienstleistungsgesellschaft (73% aller sozialversicherten Beschäftigen), aber auch durch eine moderne Industrielandschaft (27%) bestimmt.112 So nehmen neben Maschinenbau und energieintensiver Grundstoffindustrie (Chemie, Stahl- und Aluminiumproduktion und -verarbeitung), vor allem die Logistik und die Gesundheits-, Dienstleistungswirtschaft eine immer bedeutendere Rolle ein.113,114,115 Auch wenn der Wandel von der Montanindustrie zu einer diversifizierten Wirtschaft heute weitestgehend abgeschlossen ist, wurde er vielfach durch hohe Subventionen zum Erhalt alter Wirtschaftsstrukturen gebremst beziehungsweise verteuert. Zudem führte die zögerliche Politik zu Strukturbrüchen, die noch immer spürbar sind: Teile des Ruhrgebiets zählen bis heute als strukturschwach und hinken der bundesdeutschen wirtschaftlichen Entwicklung hinterher.116 Ebenso konnten längst nicht alle Arbeitsplätze der historischen Steinkohleindustrie ersetzt werden, was auch zu überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenquoten in Ruhrstädten wie beispielsweise Duisburg oder Dortmund geführt hat. Die Finanzlage der Ruhrgebietskommunen gilt gemeinhin als schwierig und finanzielle Gestaltungsspielräume sind eng. Erst mit dem Beschluss, 2018 aus der Förderung des Steinkohlebergbaus auszusteigen, konnte eine Debatte begonnen darüber begonnen werden, wie auf den betroffenen Flächen neue Arbeitsplätze entstehen können, und wie die regionale Wirtschaft diversifizierter aufgestellt werden kann.117,118 Aus dem Niedergang der Steinkohleförderung lassen sich somit einige Schlüsse für einen Strukturwandel im Rheinischen Revier ziehen. Es braucht vor allem eine vorrausschauende Politik, die die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen der lokalen Wertschöpfung realistisch bewertet und die proaktiv eine industrielle Anpassung vorantreibt. Der Niedergang des Steinkohlebergbaus zeigt, dass ein zu langes Festhalten an nicht mehr wettbewerbsfähigen Strukturen zu Gunsten kurzfristiger politischer Erfolge zu langfristigen wirtschaftlichen Schäden und Strukturbrüchen führen kann. Erst mit dem 112 Metropoleruhr (2013) Metropole Ruhr - das neue Ruhrgebiet Beschäftigung und Arbeitsmarkt 113 RWI (2014) NRW-Wirtschaft wächst auch 2015 schwächer als der Bund 114 Ruhr-Guide (2015) Das Ruhrgebiet - Vom Industriestandort zum Kulturstandort 115 Industrie- und Handelskammern in Nordrhein-Westfalen (2009) Nordrhein-Westfalen: Raum für Wirtschaft 116 Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (2014) NRW-Wirtschaft wächst auch 2015 schwächer als der Bund 117 GRÜNEN Fraktion im Landtag NRW (2015) Klimaschutz, Energiewende und Strukturwandel im Rheinischen Revier nachhaltig steuern 118 26 Metropoleruhr (2015) Wandel als Chance Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten klaren Bekenntnis der Bundes- und Landespolitik, die lokale Wertschöpfung zu diversifizieren und auf zukünftige Wirtschaftspotentiale auszurichten, gelang die strukturpolitische Wende im Ruhrgebiet. Dies muss auch die Prämisse eines transparent geführten und frühzeitig durch die Politik eingeläuteten Strukturwandelprozesses im Rheinischen Revier sein. Die heutigen Rahmenbedingungen sind dabei deutlich günstiger als zu Zeiten des kollabierenden Steinkohlebergbaus. Neben einem geringeren zeitlichen Druck spielt vor allem die Größe der noch vorhandenen Wirtschaft eine entscheidende Rolle. Denn im Gegensatz zu den im Jahr 1955 noch mehr als 600.000 Steinkohlebeschäftigten,119 sind heute lediglich rund 10.000 Beschäftigte in der rheinischen Braunkohleindustrie tätig. Zählt man die indirekten Arbeitsplätze hinzu, sind maximal ca. 27.000 Arbeitsplätze potenziell betroffen. Zudem herrschte im Ruhrgebiet eine enge Verknüpfung der Stahlproduktion mit der Steinkohleförderung. Im Gegensatz dazu sind die wirtschaftlichen Prozesse im Rheinischen Revier weitaus weniger abhängig von der Braunkohleförderung. Auch vor diesem Hintergrund erscheint ein sozial verträgliches Strukturwandelprogramm für die Region realisierbar. Ein fairer Deal für das Rheinische Revier Mit dem sukzessiven Rückgang der Braunkohleförderung und -verstromung wird ein derzeit noch wichtiger und strukturprägender Wirtschaftszweig in NordrheinWestfalen wegfallen. Angesichts dieser Lage ist eine entschlossene landes- und bundespolitische Flankierung unerlässlich, um einen Übergang in eine moderne Produktions- und Dienstleistungsgesellschaft sozial verträglich zu gestalten.120 Hier kann der dringend benötigte Ausbau der lokalen Verkehrsinfrastruktur bzw. des ÖPNV121 ebenso wie die Ansiedlung von Unternehmen der Erneuerbaren-Branche die lokale Wertschöpfung steigern und neue Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Auch die lokale Forschungs- und Entwicklungslandschaft würde durch einen modernen Produktionsstandort weiter gestärkt werden.122 Dies braucht jedoch eine nachhaltige und moderne Industrie- und Wirtschaftspolitik, die einen lokal bisher wenig vorhandenen Wirtschaftsbereich stärkt. Da der Bevölkerungsschwund und der damit einhergehende Fachkräftemangel ein großes Problem für das Rheinisches Revier und Nordrhein-Westfalen als Ganzes darstellen, könnten Fortbildungen nicht nur im Bereich der Erneuerbaren Energien, sondern auch in der stark vertretenen Grundstoffindustrie für die Braunkohlebeschäftigten interessant sein.123 Denn speziell in diesen Sektoren werden in Zukunft verstärkt Fachkräfte gebraucht.124 Zudem ist mit steigender Nachfrage 119 Statistik der Kohlewirtschaft: Steinkohle im Überblick 1957-2014 120 Handelsblatt (2010) Region mit zwei Gesichtern 121 Entwicklungsgesellschaft indeland mbH (2014) Projekte 122 GVST (2006) Wer ist Schuld an der Forschungslücke in NRW 123 David (2011) Regionale Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung und-sicherung 124 Industrie- und Handelskammern in Nordrhein- Westfalen (2015) Fachkräftemonitor. Fachkräfteangebot und -nachfrage 27 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten durch neue Wertschöpfungsketten zu rechnen, insbesondere im Bereich der Erneuerbaren Energien. Insgesamt bedeuten bessere Ausbildungsmöglichkeiten und die Stärkung der lokalen Forschungs- und Entwicklungslandschaft attraktivere Standortfaktoren und eine gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Region. Dies hilft, der Abwanderung entgegenzuwirken, gezielt neue Wirtschaftsbereiche anzusiedeln und die Dienstleistungs- und Tourismusindustrie zu stärken. Speziell der Digital- und Technologiesektor bietet hier große Potentiale, beispielsweise im Informations- und Kommunikationsbereich und im Anlagenbau. So beschäftigen derzeit rund 1.600 Unternehmen in dieser Branche in der Aachener Region mehr als 33.000 Mitarbeiter und erwirtschafteten 2014 rund €5,8 Mrd.125 Zudem kann auch der Kulturbereich eine wichtige Rolle spielen, was noch nicht wirklich beachtet, jedoch durch die positiven Effekte der Ernennung des Ruhrgebiets zur „Kulturhauptstadt Europas“ in 2010 eindrucksvoll belegt wird.99 Für konkrete strukturpolitische Maßnahmen kann zudem auf Erfahrungen aus dem lokalen Steinkohleausstieg zurückgegriffen werden. Unter Beachtung der vorherrschenden demographischen Situation und einem zu erwartenden sukzessiven Herunterfahren der Rheinischen Braunkohleindustrie in den nächsten 20 bis 25 Jahren kann eine erste mögliche Maßnahme die Zahlung eines Anpassungsgeldes nach Ausscheiden aus dem Beruf sein. Eine solche Regelung gibt es bereits für Steinkohlearbeiter, die ab dem 50. Lebensjahr nach Arbeitsplatzverlust durch Stillegungs- oder Rationalisierungsmaßnahmen eine finanzielle Unterstützung für 5 Jahre beantragen können. Durchschnittlich beläuft sich das Anpassungsgeld auf €13.500 pro Jahr.126 Dies soll dazu dienen, den Steinkohlebergbau sozialverträglich zu beenden.127 Eine ähnliche Maßnahme wäre eine flächendeckende Frühverrentung, etwa ab 55 Jahren, wie sie Braunkohlebeschäftigten in Ostdeutschland nach dem Mauerfall angeboten wurde. Zudem sind aktuell etwa 70% der in der deutschen Braunkohlewirtschaft Beschäftigten bereits älter als 45 Jahre. 26% sind über 55 Jahre alt. Somit könnten in den kommenden 10 Jahren mehr als ein Drittel der Beschäftigten alleine aufgrund der üblichen Altersfluktuation ausscheiden.128 Auch flankierende Sozialpläne sind wichtig, um den verbleibenden Beschäftigten einen schrittweisen Übergang zu ermöglichen. Durch Kurzarbeits- und Teilzeitlösungen könnte beispielsweise sichergestellt werden, dass ein großer Teil der Arbeitnehmer übergangsweise weniger arbeitet, anstatt abrupt auszuscheiden. Dies ist natürlich nur unter Beteiligung des betreibenden Unternehmens sowie der Betriebsräte möglich. 125 Innovationsregion Rheinisches Revier (2015) Technologie-Gründungen schaffen 33.500 Arbeitsplätze in Aachener Region 126 Bundesfinanzministerium (2015) 25. Subventionsbericht 127 Der Steinkohlebergbau ist in Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig und wird nur noch durch hohe Subventionen am Leben gehalten, die 2018 auslaufen. 128 28 Brehms (2015) Persönliche eMail Kommunikation Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Auch wenn die aufgeführten Maßnahmen einen wesentlichen Beitrag zur Abfederung des zu erwartenden Beschäftigungsverlustes leisten können, können sie selbstverständlich nicht dazu dienen, die sozialen und im Einzelfall auch psychologischen Folgen eines Arbeitsplatzverlustes abzumildern. Dennoch wären sie der Alternative eines Strukturbruchs mit erheblich schwereren Konsequenzen vorzuziehen. Gleichzeitig sollte insbesondere den jüngeren Braunkohlebeschäftigten durch hochqualitative Fortbildungen und Vermittlungsdienstleistungen die Möglichkeit geboten werden, in andere Berufsfelder zu wechseln. Ein solches Weiterbildungsangebot würde auch einem Fachkräftemangel entgegenwirken. Hier ist eine entsprechende Förderung durch die Arbeitsagenturen gefragt, um in kurzer Zeit die von potentiellen Standortschließungen hervorgerufenen Beschäftigungseinbrüche abzufangen. Um all diese Maßnahmen zu finanzieren, bedarf es der Bereitstellung neuer öffentlicher Mittel, wie auch der Ausschöpfung bestehender Instrumente. Eine mögliche, 2015 eingeführte Finanzierungsmöglichkeit stellt das „Regionale Wirtschaftsförderungsprogramm“ des Landes Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) sowie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) dar. Hier stehen bis 2020 finanzielle Mittel für gewerbliche und kommunale Investitionen, beispielsweise in die wirtschaftsnahe Infrastruktur und für den flächendeckenden Ausbau des Kommunikations- und IT- Netzwerkes zur Verfügung. Projekte werden in Form von Zuschüssen bis zu 80% und über einen maximalen Durchführungszeitraum von drei Jahren gefördert.129 Auch der Europäische Fonds für Strategische Investitionen (EFSI), der von der Europäischen Kommission unter Jean-Claude Juncker aufgesetzt wurde, bietet eine Chance auf zusätzliche Mittel. Der EFSI soll europaweit über die nächsten drei Jahre €315 Mrd. an Investitionen mobilisieren. Hierzu werden Fördermittel in Form von durch EU-Bürgschaft gedeckte Darlehen vergeben. Besonders interessant ist, dass sich Kommunen direkt bei der Europäischen Investitionsbank für Infrastrukturprojekte und beim Europäischen Investitionsfonds für KMU-Förderung bewerben können, und somit nicht auf die Landesregierungen angewiesen sind. Die Bundesregierung stellt über den Klima- und Energiefonds ab 2016 jährlich €4 Mio. zur Verfügung, um die betroffenen Regionen beim Übergang in eine Zeit nach der Kohle zu unterstützen. Dieses Programm zur Begleitung des Strukturwandels ist ein erster wichtiger, aber bei weitem nicht ausreichender Schritt. Gefördert werden sollen Potential- und Bedarfsstudien, Forschungs- und Demonstrationsvorhaben durch regionale Hochschulen sowie technologieoffene Innovationen. Die betroffenen Akteure in den Ländern und Kommunen sollen explizit einbezogen werden, um 129 29 Breitband.NRW (2015) Regionales Wirtschaftsförderungsprogramm (RWP) / GRW / EFRE Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten gemeinsam strukturelle Potentiale der Regionen herauszuarbeiten. 130 Diese Entwicklung ist zu begrüßen, zumal sie ausdrücklich zur Analyse von Zukunftsperspektiven jenseits der Braunkohle beiträgt. Ein umfassendes soziales und wirtschaftliches Programm zur Abfederung des Strukturwandels stellt das jedoch noch nicht dar. Dies stellt eine bedeutende Wende der Kohlepolitik der Bundesregierng dar, die erkennen lässt, dass auch die Regierung beginnt, aktiv über eine Zeit nach der deutschen Kohleindustrie nachzudenken. Dennoch werden die vorhandenen Fördermittel insgesamt noch nicht ausreichen. Es werden zusätzliche finanzielle Anstrengungen der Landes-, aber auch der Bundesebene nötig sein, um die regionale Wirtschaft und Infrastruktur im Wandel weg von der Braunkohle zu unterstützen. Da die Energiewende ein Projekt der Bundesregierung ist, sich jedoch verstärkt auf Braunkohleregionen wie das Rheinische Revier auswirkt, muss sich auch die Bundespolitik proaktiv an einer Abfederung der drohenden Strukturbrüche beteiligen. Die kann beispielsweise durch die Einrichtung eines öffentlichen Fonds im Zuge eines Kohlekonsenses auf Bundesebene geschehen. All dies unterstreicht die Notwendigkeit eines inklusiven und transparenten Transformationsprozesses, der auch die Möglichkeiten und Chancen eines geordneten und fairen Strukturwandels erörtert. Hierzu muss besonders mit Blick auf den angeschlagenen Großkonzern RWE eine von allen Stakeholdern getragene und von bundespolitischer Seite unterstützte Strategie entwickelt werden, um den Beschäftigen und den kommunalen Aktionären eine auch zukünftig sichere Lösung für den sukzessiven Ausstieg aus der Kohle zu bieten.131 Insgesamt bedarf es von Seiten der Bundes- und Landespolitik einer zukunftsgerichteten Wirtschafts- und Strukturpolitik, die sowohl den Mittelstand, als auch die kommunalen Haushalte stärkt. Auch wenn die nordrhein-westfälische Politik durch die Verabschiedung eines Klimaschutzgesetzes und -plans vergleichsweise fortschrittlich auftritt, ist die Aufteilung der relevanten Politikfelder auf das Umweltund Wirtschaftsministerium kontraproduktiv. So ist das SPD-geführte Wirtschaftsministerium federführend für die lokale Industrieund Wirtschaftsstandortpolitik, sowie für energiewirtschaftliche Grundsatzangelegenheiten verantwortlich. Das von den Grünen geführte Umweltministerium hingegen verwaltet die „Energieagentur NRW“ und zeichnet für klimaschutzrelevante Themen sowie Fragen rund um den zukünftigen Kraftwerkspark verantwortlich. Eine stärkere Bündelung dieser Kompetenzen unter einheitlicher politischer Führung könnte es erleichtern, einen geordneten Strukturwandel zu meistern. Andernfalls behindern unter anderem bürokratische Abläufe und unterschiedliche parteiinterne Ansichten den Prozess. Speziell um lokalen Ängsten zu begegnen, können bereits etablierte Bündnisse wie die „Innovationregion Rheinisches Revier“ helfen, positive Transformationsbeispiele zu 130 Jurk (2015) Umbau der Energieversorgung 131 Bloomberg L.P. (2015) RWE Booted Out of Euro Stoxx 50 as Biggest Benchmark Loser 30 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten generieren und zuverlässige Informationen zu kommunizieren. Eine finanzielle Förderung dieser Initiativen durch das Land Nordrhein-Westfalen über das ursprünglich geplante Endjahr 2018 hinaus, könnte folglich eine sinnvolle Möglichkeit darstellen, einen konstruktiven gesellschaftlichen Prozess zu generieren.132 Die Gestaltung des Übergangs zu einer nachhaltigen Wirtschaftsstruktur ist letztlich eine Frage des politischen Willens. Die kürzlich veröffentlichte Leitentscheidung der Landesregierung Nordrhein-Westfalens zum Rheinischen Revier ist ein erstes positives politisches Signal. Nun ist die Bundespolitik gefragt, dem Rheinischen Revier einen fairen Deal anzubieten, der den Strukturwandel abfedert und zukunftsfähige Wirtschaftsbereiche fördert. KAPITEL 5 DAS RHEINISCHE REVIER BRAUCHT EINEN KOHLEKONSENS Wenn die regionalen und nationalen Energie- und Klimaschutzziele erreicht werden sollen, führt kein Weg an einem sukzessiven Ausstieg aus der Braunkohle im Rheinischen Revier vorbei. Der Einstieg in den Ausstieg wurde bereits durch die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingeläutet. Speziell die Bundespolitik darf die Region und die Braunkohlearbeiter jetzt allerdings nicht alleine lassen, sondern muss Landes- und Kommunalpolitiker dabei unterstützen, den anstehenden Strukturwandel proaktiv und transparent über alle Ebenen hinweg zu planen und sozialverträglich umzusetzen. Dies muss ein essentieller Bestandteil einer neuen lokalen Wirtschaftsstrategie sein. Denn die nun konkreter werdende Abkehr von der lokalen Braunkohleindustrie weckt negative Erinnerungen an das Ausscheiden der heimischen Steinkohleförderung, das von zu zögerlicher und rückwärtsgewandter Struktur- und Wirtschaftspolitik begleitet wurde und zu strukturellen Brüchen geführt hat, die noch heute im Ruhrgebiet spürbar sind.133 Die damit verbundene Angst vor einer lokalen Deindustrialisierung wird in der Bevölkerung auch durch irreführende oder unzureichende Informationspolitik, nicht zuletzt von RWE134 oder Landespolitikern 135 , geschürt. Dies führt dazu, dass die Debatte über eine Zeit nach der Braunkohle politisch überhöht und sehr emotional geführt wird, was nicht zu einer nüchternen Einschätzung der tatsächlichen Lage beiträgt. Die Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern in der Landesregierung und insbesondere die zögerliche Haltung der NRW-SPD zum Strukturwandel tragen ihr Übriges zur schwierigen Natur der Debatte bei. 132 Rhein-Erft Rundschau (2015) Land sicher Finanzen für IRR bis 2018 133 Metropoleruhr (2015) Strukturpolitik für das Ruhrgebiet (Phase 1 und 2) 134 RWE AG (2015) Matthias Hartung: „Braunkohle und Beschäftigte tragen zu Klimaschutz und Versorgungssicherheit bei“ 135 Die Welt (2015) Aus für Braunkohle- Revier bangt um 3000 Jobs 31 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten Gleichzeitig zeigt das ausgeprägte lokale gesellschaftliche Engagement, ob nun für oder gegen die Braunkohle, dass sich durch Nordrhein-Westfalens wirtschaftliche Historie ein starkes Gemeinschaftsgefühl etabliert hat. So haben viele der heutigen Bewohner entweder gemeinsam in der Kohleindustrie gearbeitet, oder mit deren Folgen, wie beispielsweise Umsiedlungen samt Verlust historischer Gebäude, Umweltund Luftverschmutzung, oder Arbeitsplatzverlusten zu kämpfen gehabt. Es ist daher von grundlegender Bedeutung, dass ein Strukturwandelprozess frühzeitig eingeleitet und von einem transparenten, durch Fakten gestützten Dialog mit allen beteiligten und betroffenen Gruppen flankiert wird. Hierbei müssen sowohl die zukünftige Bedeutung der lokalen Kohlewirtschaft, aber auch mögliche Alternativen offen und ehrlich besprochen werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass emotionale Grabenkämpfe zwischen Kohlebefürwortern und -Gegnern eine sachliche Diskussionen über einen geregelten Kohleausstieg unmöglich machen. Im Gegensatz zu anderen Braunkohlerevieren verfügt Nordrhein-Westfalen und speziell das Rheinische Revier über die strukturpolitischen Erfahrungen, diese Transformation zu bewältigen und die lokale Wirtschaft zukunftsfähiger auszurichten. Hierzu bieten sich viele wirtschaftliche Potentiale, um die Folgen eines Braunkohleausstiegs zu kompensieren. Speziell die Erneuerbaren Energien, sowie die IT- und Kommunikationsbranche bieten sehr gute Wachstumsmöglichkeiten, ebenso wie der gesamte Dienstleistungssektor. Darüber hinaus können heutige energieintensive Unternehmen, aber auch die Forschungsund Entwicklungslandschaft eine tragende Rolle in einer modernen Wirtschaft von morgen spielen. Die bereits stattfindende wirtschaftliche Transformation im Rheinischen Revier genießt bereits heute nationale und internationale Aufmerksamkeit. Wenn es gelingt, die Neuausrichtung der lokalen Wirtschaft gemeinsam mit der Gesellschaft konsequent fortzusetzen, könnten andere Regionen in Europa und international daraus lernen und darauf aufbauen. Die lokale Bevölkerung hat die Stärken, die Erfahrungen und den Gemeinschaftsgeist, diesen Wandel durchzuführen. Es liegt jetzt am politischen Willen, dies proaktiv zu begleiten. 32 Das Rheinische Revier von Morgen - den Strukturwandel gestalten
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