WILD UND HUND 24/2015

Wild - Aus aller Welt
WEISSRUSSLAND
Die größte europäische
Hirschart lebt ziemlich heimlich.
In der Brunft verrät sich
der Elchhirsch durch einen
eigentümlichen Ruf. Wie die
Lockjagd auf den Elch funktioniert,
erlebte Heiko Hornung.
Quaken
bis der
Elch
kommt
22
WILD UND HUND | 24/2015
wi ldu n dhu nd .de
wie verdrückt, heimlich, sehnend, verstört und enttäuscht. Es passt so gar nicht zu diesem über 400 Kilogramm wiegenden Hirsch, der in den Wäldern, Flussniederungen und Mooren Weißrusslands eine Heimat
hat. Wie mächtig tritt dagegen der viel kleinere Rothirsch auf. Sein Ruf zeigt Besitz, Wut, Sehnen, Anspruch, Erregung. Der Elch, der sich wie das viel kleinere Reh eine Partnerin sucht und dieser dann folgt,
bleibt zurückhaltend bei einem monotonen, kurzen
„Uuuach“. In seiner ganzen Nasalität klingt das fast ein
bisschen wie ein Frosch. Die heimischen Jäger bezeich-
wild un d hun d .de
nen diesen verhaltenen kurzen Ruf witzigerweise auch
als „Quaken“. Jurij Schumskij beherrscht diese Kunst.
Seit er mit 15 Jahren in einer Jagdzeitschrift einen
Artikel über das Locken der größten Hirschart der
nördlichen Halbkugel las, zog es den Jungen hinaus. Er
schlich in den Sümpfen seiner Heimat umher, lauschte,
versuchte und lernte.
Im September ist der Jäger, der später die Forstlaufbahn ergriff und heute Präsident des weißrussischen
Jagd- und Anglerverbandes ist, jedes Jahr in den riesigen
Revieren von Belarus unterwegs, um als Lockjäger mit
WILD UND HUND | 24/2015
Fotos: Heiko Hornung, Sven-Erik Arndt
Das Stöhnen des Elchhirsches wirkt fremd. Irgend-
23
Wild - Aus aller Welt
Berufsjäger Dimitri und sein Vater (v. l.)
haben einen starken Elchhirsch gefährtet
(unten). Sie erläutern Jurij Schumskij ihren Plan.
Eine Ausnahme – ein elf- bis zwölfjähriger Schaufler
liegt. Wesentlich häufiger sind starke Stangenelche.
Fotos: Heiko Hornung
Freunden oder selbst dem schwarzbraunen, heimlichen Elchhirsch nachzustellen. Jetzt ist es wieder soweit. Diesmal
pirscht der 50-Jährige mit mir in den Wäldern von Bychow, einem kleinen Ort an der russisch-weißrussischen Grenze. In
tiefen Zügen ziehe ich den Duft von Kiefern, Pilzen, Heide und
herbstlich dampfender Torf-Sand-Erde durch die Nase. Kein
anderer Geruch weckt in mir mehr Erinnerungen an die herrlichen Jagdgründe des Ostens. Über dem dunklen Bruchwald
sinkt rot die Sonne. Zusammen mit Jurij sitze ich in der Heide,
habe ein malziges Minsker Bier in der Hand und kaue auf
salzigem Trockenfisch. Wir haben noch etwas Zeit.
Meist beginnt der Elch mit seinem Suchen und Brunften
erst in der Dämmerung. Jurij bespricht mit zwei Berufsjägern
die weitere Strategie der bevorstehenden Pirsch. So viel habe
ich verstanden: Eine starke Elchhirschfährte stand mit der
24
WILD UND HUND | 24/2015
wi ldu n dhu nd .de
Mit einem Abschleppseil wird der gewaltige Hirsch aus dem Graben gezogen,
an Ort und Stelle aus der Decke geschlagen und zerwirkt.
eines Tieres und deren Kalbes über einen Sandweg in einen
sumpfigen Bruchwald hinein, der sich wie eine Halbinsel ins
offene Land hineinschiebt. Die kleine Heide, durch den besagter Sandweg läuft, bildet die Brücke in den Haupteinstand. Um den Bruch herum wird Torf gestochen, der mit
Loren in einem nahen Werk zu Heizbriketts gepresst wird.
Schnell hatten wir diese Enklave umschlagen und abgefährtet. Der Elchhirsch mit dem breiten Trittsiegel müsste noch
stecken. Einziges Problem: Auch wenn es ein pferdsgroßes
Tier ist – auf 300 Hektar kann es leicht darin verschwinden
oder ungesehen in der Dämmerung auswechseln.
Pläne werden eifrig diskutiert, mit Stöcken in den Sand
gemalt und wieder verworfen. Jurij hört zu, blickt den gestikulierenden Jägern mit seinen stechend blauen Augen fest
ins Gesicht. Der Widerspruch in Form eines kurzen „Njet“
(russisch: Nein) verrät, dass gerade ein weiterer Vorschlag
verworfen wurde.
Ein leises „Uuuach“ lässt jeden Diskurs abrupt verstummen. Der ältere der beiden Berufsjäger zeigt mit ausgestrecktem Arm in den dunklen Bruch: „Los (russisch: Elch)!“
Unweit des
Jagdhauses fließt
der Dnjepr ruhig
nach Süden.
WILD UND HUND | 24/2015
25
Wild - Aus aller Welt
Ein junger Elchhirsch hat den Lockruf des Jägers vernommen – er steht bis auf 30 Meter zu, ...
Sofort kramt Jurij sein selbst gebasteltes Lockinstrument,
eine Flasche, deren Boden abgesägt wurde, hervor und antwortet dem Elch mit vier kurzen Stöhnern. Die Tröte ist mit
Kreppklebeband umwickelt und mit einem Filzstift handverziert worden. „Klingt am besten“, sagt er, hält den Kopf dabei
etwas schief und lächelt. Viel weiter als 300 bis 400 Meter ist
auch der echte Elchruf nicht zu hören. Als der Hirsch im
Sumpf Jurij antwortet, bedeutet er mir, schnell meine Waffe
und das Zweibein aufzunehmen und ihm zu folgen. An der
engsten Stelle zwischen Bruch und Kieferneinstand wachsen lückig Haselnussbüsche und niedrige Kiefern. Darin beziehe ich Posten, um auf den Zustehenden zu lauern. Beständig meldet der Elch und erhält postwendend Antwort,
immer vier- bis fünfmal.
Doch so schnell das Hoffnungsbarometer nach oben
Ein handgemachter Elchlocker aus einer alten Flasche
26
WILD UND HUND | 24/2015
schießt, diesen Herrn aus dem dunklen Holz zu holen, sinkt
es auch wieder. Der Hirsch wendete offenbar und zog wieder
tiefer hinein, dorthin, wo nur noch abgestorbene Gerippe von
Moorbirken aus dem dichten Schilf in den Himmel ragen.
Noch ein leises „Uuuah, Uuuah“, und weg ist er. Hatte er ein
Stück Kahlwild bei sich? Dann sei es ähnlich wie beim Rehbock in der Brunft, sagt Jurij. Der Hirsch ließe sich kaum von
der Weiblichkeit wegholen. Auch der Wind oder eine zu tiefe
Stimme können den Elchhirsch abdrehen lassen.
Dies konnte ich während meines Jagdaufenthaltes beobachten. Im letzten Licht hatte Revierleiter Aleksandr Tomkowitsch einen jungen Elch herbeigerufen, der uns neugierig
auf weniger als 20 Schritt umkreiste und versuchte, Wind zu
bekommen. Aleksandr hielt ihn mit seinen Arien im wahrsten Sinne des Wortes bei der Stange.
Als das Licht schwand, mischte sich eine weitere, tiefere
Stimme in die Unterhaltung ein. Als dieser Hirsch ebenfalls
zustand, verschwieg der junge Gabelelch und verdrückte
sich. Interessant ist auch, dass die Elche nicht unbedingt wie
springende Böcke vor den Schirm kommen. Sie nähern sich
wi ldu n dhu nd .de
D
A
RUSSLAND
R U
L O
B E
100
200
K
A
J
A
G
Minsk
NO
345 m
Mogiljow
300 km
Desna
0 km
S S
EN
Sudo
st'
an
m
Ne
YS
r
Dnep
POLEN
R
'A
SMOLENSKAJA VOZV
Pro
tva
LITAUEN
ST
Dnepr
Neman
Bug
P O L E S J
E
Jagen in Weißrussland
r'
Sty
Dnepr
Prip'at
UKRAINE
vorsichtig, halten zunächst Abstand, taxieren, versuchen
Wind zu holen und kühlen ihren Mut an einem Busch oder
Bäumchen. Eine sich bewegende Elchstimme, die mit krachenden Ästen auch den Eindruck schweren Wildes im Unterholz hinterlässt, ist glaubwürdiger als eine, die am Platz
verharrend vor sich hinstöhnt.
Jurij zuckt enttäuscht mit den Schultern. Vergeblich ruft
er dem Davonziehenden nach. Wir packen ein, stapfen durch
das Heidekraut zurück zu unseren Rucksäcken, um unser
Glück woanders zu versuchen. Gerade haben wir Jacken,
Brotzeit und Flaschen verstaut, erklingt, zwar noch weit entfernt, aber doch deutlich näher als zuletzt, das elektrisierende „Uuuah“. Unser Hirsch kommt zurück. Schnell Büchse
und Zielstock zur Hand und wieder auf den soeben verlassenen Platz. Jurij gibt alles, läuft neben mir, setzt einige Rufe ab,
deutet auf meinen Platz und macht mir klar, dass er ins rück-
Fotos: Heiko Hornung
Goryn
... bekommt Wind und trollt davon.
Das Revier Bychow liegt circa drei Stunden Autofahrt
östlich von Minsk nahe der Stadt Mogiljow. Im Jahr
werden zehn Elchhirsche und 20 Stück Elch-Kahlwild
erlegt. Neben einem guten Elchwildbestand gab es
vor der Afrikanischen Schweinepest auch viele Sauen mit starken Keilern. Rund 1 000 Sauen fielen bis
dahin jährlich. Selten, aber beachtenswert sind auch
die Rehgehörne: Die 26 Böcke im Jahr erreichen im
Reifealter im Schnitt 400 Gramm. 2015 fiel ein Bock
mit sagenhaften 750 Gramm Trophäengewicht. Pro
Jahr werden auch zehn Wölfe bei der Lock- und
Lappjagd erlegt.
Den Jägern stehen 127 000 Hektar Fläche zur
Verfügung. Davon sind 72 000 Feld, 6 000 Sumpf
und Wasser sowie 48 000 Hektar Wald. Gastjäger
schlafen in einem kleinen Jagdhaus mit zwei
Schlafzimmern, zwei Bädern, einer Küche, einem
Speisezimmer. Wegen eines Embargos dürfen weder Jagdwaffen ein- noch ausgeführt werden.
Leihwaffen stehen vor Ort zur Verfügung.
Weitere Informationen zur Jagd in Weißrussland unter www.rgooboor.by und unter E-Mail:
[email protected]
wärtige Holz ziehen wird, um den vor uns meldenden Hirsch
zu verleiten, dem vermeintlichen Kontrahenten zu folgen
und damit für mich vielleicht sichtbar zu werden. Bald darauf
taucht er ästebrechend hinter mir in den Bestand, fegt kurz
Auenlandschaften mit Wassergräben, Schilf und Weiden beherbergen
interessantes Wild, wie Biber, Elche, Sauen und allerlei Entenvögel.
wild un d hun d .de
WILD UND HUND | 24/2015
27
Fotos: Heiko Hornung
Wild - Aus aller Welt
darauf, schlägt rauschend in einen Busch und tut ganz aufgeregt. Gut 100 bis 200 Meter habe ich Sichtfeld. An der Waldkante ziehen sich Wassergräben entlang, deren Böschungen
mit hohem, teilweise schon gelbem Adlerfarn bewachsen
sind. Dahinter dunkler Fichten- und Erlenwald, der in der
einsetzenden Dämmerung immer mehr Kontur verliert.
Als der Ersehnte kurz darauf deutlich näher meldet, wer-
Trophäenpräparation mit eigenem Topf und Ofen.
Foto: Stefan Meyers
Suchender Elch: Steht er bei einem Tier,
lässt er sich nur schwer mit dem Ruf heranholen.
den die Handflächen feucht, und das Jägerherz beginnt, heftiger zu schlagen. Dort irgendwo im Finsteren zieht er. Wo
wird er sichtbar? Wird er überhaupt sichtbar? Jurij entfernt
sich noch etwas von mir, markiert aber mit seinem Fegen
immer noch Erregung. Prompt antwortet der Geweihte
schon so nah, dass man meint, er müsse jeden Moment vor
einem auftauchen. Äste knacken in den Fichten. Er ist da.
„Himmel, wird das Licht reichen?“, denke ich.
Die letzten gelben Streifen am Horizont sind längst verschwunden, die blaue Stunde ist gleich vorüber. Wieder
knackt es im Holz. Heftiger atmend schiebe ich mich hinter
das Zielfernrohr, taste den Waldrand ab – nichts. Neben mir
im Gebüsch hockt noch Dimitri. Auch er hält die Luft an.
Jurij stimmt noch einmal an, ist von uns jetzt vielleicht 200
Meter weit weg. Wieder knackt es im Dämmerholz. Zunächst
ist es nur ein heller Fleck, dann zwei. Und dann schaukeln
zwei helle Bretter auf mich zu. „Mein Gott – da kommt er!“
Rufend schält sich ein großes Haupt mit starken Schaufeln
aus dem Schwarz des Bruchs. Zunächst der massige Träger
28
WILD UND HUND | 24/2015
wi ldu n dhu nd .de
Der junge Elchhirsch steht auf das Locken des Jägers
bis auf wenige Meter zu. Aleksandr Tomkowitsch
simuliert mit den ausgestreckten Armen ein Elchgeweih.
Im letzten Licht taucht wenig später ein starker
Schaufler auf.
mit der großen Glocke (Kehlsack). Anschließend schiebt
sich der gesamte Riese auf die Grabenkante. In meinen Ohren pfeift das Blut. Im helleren Farn hat der Hirsch mit dem
Höcker über den Blättern und den weißen Läufen plötzlich
klare Umrisse. Schon die Statur verrät Reife. Er steht dort für
Sekunden wie eine Sagengestalt aus einem germanischen
Heldenepos. Ein Auswuchs von Größe und vor allem riesiger,
als ich ihn mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Das Absehen ist gerade noch auf der dunkelbraunen Decke auszumachen. 80 Schritt ist er entfernt, vielleicht 90. Er sichert. Wenn er
die offene Heide zügig durchquert, müsste ich im Ziehen auf
ihn schießen.
Leicht kippt das Haupt mit den Schaufeln nach vorn, um
die Böschung zu nehmen, als der feine Faden hochblatt
steht. Peitschend bricht der Schuss ins Dunkle. Der Hirsch
reißt für den Bruchteil einer Sekunde das Haupt hoch, und
mit steifen Vorderläufen kippt er einfach donnernd in den
Graben. Ich repetiere, schnaufe wie ein Gaul. Aus dem
Dickicht hinter mir stürzt Jurij hervor, blickt mir erwartungsvoll ins Gesicht. Ich mache ein Handbewegung, die signalisiert: Er liegt. Mein Jagdführer fällt mir vor Freude das erste
Mal um den Hals. Dimitri in der Hecke ist noch immer
sprachlos. „Boaahh!“, ist das Einzige, was er im ersten Moment hervorbringt, bis er wieder Worte findet und sprudelnd
seinem Landsmann das soeben Erlebte schildert.
Zwei-, dreimal sehen wir den Elch noch mit den Schaufeln schlagen. Flott queren wir die Fläche, bis wir bei ihm
sind und einen Fangschuss setzen.
Ich bin benommen. Was für ein Urtier. Die Gratulationen
und Umarmungen sind heftig. Die Erlegung eines Elches ist
für alle Beteiligten etwas Besonderes, egal ob Schütze, Fährtensucher oder Lockjäger. Ein Rothirsch ist imposant, wenn
er liegt. Auch die Antilopen Afrikas sind von beeindruckender
Größe. Doch sie alle sind nichts gegen den nordischen Elch.
Immer wieder fasse ich in die Schaufeln, streiche ihm über
die Decke und möchte den Moment, in dem wir mit dem
Aufbrechen beginnen, so weit wie möglich hinauszögern, um
ihn in seiner ganzen sagenhaften Erhabenheit zu erhalten.
Irgendwann ist klar, wir müssen ihn hier rausschaffen. Das
gelingt nur zerwirkt. Knapp drei Stunden dauert es, bis der
riesige Hirsch im Kofferraum des UAZ verstaut ist.
Bis tief in die Nacht sitzen wir nach dem Liefern unserer
Beute im Jagdhaus, schmoren aus dem kopfgroßen Herz
und reichlich Leber ein köstliches Elchragout, heben immer
wieder die Gläser, imitieren Tierlaute, erzählen, lachen.
Draußen an der Wand lehnt die gewaltige Trophäe. Beim
Rauch einer Zigarette taste ich mit den Fingern über die vielendigen Schaufeln. Lächelnd formt mein Mund ein „Uuuah“,
diesen seltsamen Laut, der diesen Heimlichen heute aus
dem Sumpf lockte.
e
WILD UND HUND | 24/2015
29