Eine Frage an den Bischof Zeitung Die Kirche Ausgabe vom 27. September 2015 Ist die Bibel „Wort Gottes“ oder „überliefertes Wort Gottes“? Wo liegen die Unterschiede? Wenn es heißt, dass die Bibel „Wort Gottes“ ist, dann führt das manchmal zu dem Missverständnis, als habe Gott die ganze Bibel diktiert und man müsste jeden Vers wörtlich nehmen. Wer das versucht, wird bald an seine Grenzen stoßen. Denn an vielen Stellen widerspricht sich die Bibel selbst. Das bekannteste Beispiel ist die Aussage, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen (1. Korinther 14,34). Wer die Bibel kennt, weiß, dass viele Frauen in den ersten christlichen Gemeinden mitgeredet haben. Sie waren sogar die ersten Zeugen der Auferstehung Jesu. Hat die Bibel also geirrt? Andere Aussagen widersprechen klar dem Liebesgebot: Ein Mann darf seine Tochter verkaufen (Exodus 21,7). Ehebrecher sollen getötet werden (Deuteronomium 22,22). Jesus hat keines dieser Worte abgeschafft, aber er hat das Wort Gottes von seinem Wesenszentrum ausgehend interpretiert. Und dieses Wesenszentrum hat er klar bestimmt: das Doppelgebot der Liebe (Mt. 22,37-40). Luther hat daran angeknüpft und diese „Mitte“ neu beschrieben: Wir müssen in der Bibel nach dem suchen, „was Christum treibet“. Viel Widersprüchliches und kulturell Zeitgebundenes dürfen und müssen wir dann auch innerhalb der biblischen Überlieferung kritisieren und offen und ehrlich als für uns nicht maßgeblich kenntlich machen. Das macht den Unterschied zwischen einem jesuszentrierten reformatorischen und einem sogenannten „biblizistischen“ Bibelverständnis aus. „Biblizistisch“ ist ein Bibelverständnis, das den vergeblichen Versuch unternimmt, die Bibel im Wortlaut und vollständig als unhinterfragbares Gotteswort zu behaupten. Leider wird eine solche Haltung dann manchmal als besonders fromm, klar oder bekenntnistreu dargestellt, obwohl dieser Biblizismus dem Zeugnis Jesu Christi oft mehr schadet als nützt. Die Bibel wird uns zum lebendigen, befreienden Wort Gottes, wenn wir sie im Sinne Jesu und in der Tradition der Reformation von ihrem Wesenskern, ihrer „Mitte“, her interpretieren. Auf diese Weise machen Menschen bis heute die beglückende Erfahrung, dass Gott durch die biblischen Texte, so kompliziert und manchmal widersprüchlich ihre Überlieferungsgeschichte auch sein mag, zu uns spricht. Paulus bringt es auf den Punkt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Korinther 3,6b). Evangelische Bibellese zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen mit dem eigenen Verstand die Bibel lesen, deuten und verstehen, nicht beliebig, sondern im Geiste Jesu Christi. Wer auf diese Weise die Bibel liest, dem wird sie zum lebendigen Wort Gottes. (2.617 Zeichen)
© Copyright 2024 ExpyDoc