Festvortrag Prof. Heribert Prantl

Festvortrag Matinee
3. Oktober 2015
Einigkeit, Respekt und Freiheit
Festvortrag von Professor Heribert Prantl
anlässlich der Matinee zum Tag der Deutschen Einheit
am Samstag, 3. Oktober 2015, 11 Uhr, BadnerHalle
- Es gilt das gesprochene Wort Stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch; darin verzeichnet alle Schicksale,
alles Leid, alles Elend, alle Hoffnung, alle Zuversicht. Stellen wir uns vor, es gäbe in diesem
großen Flüchtlingsbuch eine Seite für jeden Flüchtling, eine Seite für jeden Vertriebenen,
eine Seite für jeden, der seine Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen musste.
Eine Seite nur für Jeden; für alle Sehnsucht, für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das
Leben und für das Sterben und für alles dazwischen.
Stellen wir uns vor, wie ein solches großes Buch aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte
sechzig Millionen Seiten. So viele Flüchtlinge gibt es derzeit auf der Welt. Nur die
allerwenigsten davon kommen nach Europa, nur die allerwenigsten schaffen es dorthin, wo
der Reichtum so groß ist wie die Klage über die Flüchtlinge. Aber sie alle wären notiert in
diesem Buch: diejenigen, die vor dem Krieg in Syrien fliehen; diejenigen, die dem Terror des
„Islamischen Staates“ mit knapper Not entkommen sind; diejenigen, die es nach Europa
schaffen und dort von Land zu Land geschickt werden; diejenigen, die im Mittelmeer
ertrunken sind; diejenigen, die durch die Wüsten Afrikas gelaufen sind und dann in Ceuta
und Melilla, an der Grenze zu Europa, vor einem Stacheldrahtzaun stehen; diejenigen, die
zu Millionen in ihrem Nachbarland in Notlagern darauf warten, dass die Zustände im
Heimatland besser werden; diejenigen auch, die nach dem Verlassen ihrer Heimat
verhungert und verdurstet sind, die verkommen sind in der Fremde; die Kinder wären
genauso verzeichnet in diesem Buch wie ihre Mütter und Väter, die Kinder also, für die es
keinen Hort und keine Schule gibt. Es stünden in diesem Flüchtlingsbuch auch diejenigen
Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat – und wie sie es
geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein.
Es wäre dies nicht nur ein einzelnes Buch; es wäre ein Buch, bestehend aus vielen
Bänden. Wenn jeder dieser Bände fünfhundert Seiten hätte – das Flüchtlingsbuch bestünde
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aus insgesamt 120 000 Bänden. Es wäre dies eine ziemlich große Bibliothek. Wenn man
die Bände stapelt, wäre der Bücherturm höher als der höchste Berg der Erde. Es gibt
dieses Buch nicht. Es gibt die Menschen, die der Inhalt dieses Buches wären: Flüchtlinge
nennen wir sie. Es sind Kriegsflüchtlinge, es sind sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, also
solche, die das Leben in ihrer Heimat nicht mehr aushalten können. Nennen wir sie
Menschen; es sind entwurzelte, entheimatete Menschen.
Warum beginne ich meinen Vortrag mit den Flüchtlingen? Weil das Flüchtlingsproblem
nicht nur Problem des Sommers und des Herbstes 2015 ist; es ist das Problem des 21.
Jahrhunderts. Es ist ein Problem, das viel größere Anstrengungen erfordern wird als die
Stabilisierung des Euro. Es ist ein Problem, das nur dann gut angepackt werden kann, wenn
es möglichst viel Einigkeit gibt, Einigkeit in Deutschland, Einigkeit in Europa, Einigkeit in der
Weltgemeinschaft. Es geht hier nicht um das Überleben einer Währung, es geht um das
Überleben von Millionen von Menschen. Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran
messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, was
es getan hat, um Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen,
welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat
wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Gesellschaft ein
großes Umdenken verlangt.
Das Elend der Flüchtlinge ist so nahe gerückt in den vergangenen Wochen – und es hat so
viele Menschen hierzulande ans Herz gefasst. Die Hilfsbereitschaft war und ist
überwältigend. Es ist aber auch die Sorge davor groß, dass die Stimmung kippen könnte,
dass also Angst die Oberhand gewinnt und sich Luft macht in Abwehr und Ausschreitung.
Man spricht von „illegaler Einwanderung“. Wann ist ein Mensch illegal? Ist es illegal, wenn
er sich zu retten versucht? In wenigen Wochen feiern wir wieder das Fest des Heiligen
Sankt Martin, der einer der europäischen Schutzheiligen ist. Ist Sankt Martin am Bettler
vorbei geritten und hat in er nächsten Kaserne gemeldet: Da hinten im Wald ist ein
Illegaler? Gewiss – da war damals auch nur ein einziger Armer. Heute gibt es so unendlich
viele Flüchtlinge, auch so unendlich viele, die nach Deutschland wollen. Aber wir sind ja
auch nicht ein einzelner Reiter, so wie Sankt Martin einer war. Wir sind Millionen, die helfen
können, fünfhundert Millionen in der Europäischen Union.
„Ultra posse nemo obligatur“ – haben die alten römischen Juristen gesagt. „Niemand kann
verpflichtet werden, mehr zu leisten, als man kann“: Auch der der Bundespräsident hat am
vergangenen Sonntag so ähnlich formuliert. Gewiss: niemand kann verpflichtet werden,
mehr zu leisten als er kann. Aber man sollte dieses Können nicht unterschätzen, man sollte
nicht vorschnell sagen, dass man nicht mehr kann. „Not lehrt beten“, hat man früher oft
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gesagt. Not lehrt auch helfen. Gewiss: Die anrührende Herzlichkeit, mit der so viele
Flüchtlinge in den vergangenen Wochen an den Bahnhöfen empfangen wurden, löst nicht
die gewaltigen Probleme, die Staat und Gesellschaft bei der Integration der Flüchtlinge noch
bevorstehen. Aber sie hilft, diese Probleme anzupacken – in Rastatt, in Stuttgart, in Berlin,
in Brüssel, in den europäischen Haupt- und Provinzstädten. Es ist gut, wenn die
Globalisierung der Gleichgültigkeit beendet wird. Mit Mauern und Stacheldraht-Zäunen sind
noch keine Probleme gelöst werden. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat ein Drama
geschrieben, das „Die chinesische Mauer“ heißt. Der Kaiser von China, Hwang Ti,
verkündet an einem Festtag „zur Friedenssicherung“, wie er sagt, den Bau der chinesischen
Mauer. Die soll, wie er sagt, den Zweck erfüllen, „die Zeit aufzuhalten“ und die Zukunft zu
verhindern. Es ist schon komisch, dass dieser Kaiser noch heute in Europa, in Ungarn vor
allem, seine Kommissare hat.
Sie haben gewiss die ergreifenden Szenen vom Münchner Hauptbahnhof gesehen; man
wird sie so schnell nicht vergessen: Die Menschen, die wochenlang auf der Flucht waren,
wurden mit Beifall, Bonbons und Kuscheltieren empfangen wurden; nicht von einigen
politischen Aktivisten, sondern von vielen ganz normalen Bürgern. Sie hatten sich, in
München und auch in anderen deutschen Städten, auf den Weg zum Bahnhof gemacht, um
den Flüchtlingen zu zeigen: Ihr seid keine Aussätzigen; Ihr seid willkommen. Wir haben
Respekt vor dem, was ihr gemeistert habt.
Was ist passiert? Sehen wir ein Wunder? Hat sich Deutschland über Nacht in ein Paradies
der Nächstenliebe verwandelt?
Man soll nicht übertreiben. Die Gesellschaft in Deutschland ist – wie die in ganz Europa –
hin- und hergerissen zwischen Hilfsbereitschaft, Hilflosigkeit, Abwehr und Hetze. In
Deutschland gibt es eine immer giftigere flüchtlingsfeindliche Szene, zu deren
Kommunikationsmitteln Unverschämtheiten, Morddrohungen und Brandsätze gehören. Die
Drohungen richten sich gegen Flüchtlinge („Wir fackeln euch ab“), neuerdings auch gegen
Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Vor ein paar Wochen besuchte die Kanzlerin ein
Flüchtlingsheim in Heidenau in der früheren DDR, und bekam dort den Hass dieser
ausländerfeindlichen Szene zu spüren. Ihre Entscheidung, die Flüchtlinge aufzunehmen, ist
wohl auch im Zusammenhang damit zu sehen. Merkel wollte ein Signal setzen: Deutschland
ist kein Neonazi-Land; Deutschland leistet Hilfe; Deutschland geht in Europa mit gutem
Beispiel voran.
Es gibt zwei Zivilgesellschaften in Deutschland: Erstens eine aufgeklärte, aufgeschlossene
Gesellschaft, die weiß, dass eine gute Zukunft von der Inklusion abhängt, davon also, dass
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die vier Millionen Muslime in Deutschland wirklich zu Hause sind; diese wohlwollende
Zivilgesellschaft weiß auch, dass Europa sich nicht abschotten darf und kann, dass eine
Festung Europa ein Unding ist in einer globalisierten Welt. Und daneben existiert eine
zweite Zivilgesellschaft, eine unzivile, lärmende, ausländerfeindliche Zivilgesellschaft ist
das – die sich zuletzt monatelang bei den sogenannten Pegida-Demonstrationen gezeigt
hat. Pegida ist das Kürzel für: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des
Abendlandes“. Dort sammeln sich Ressentiments, die von Rechtsaußen bis weit hinein in
die bürgerliche Mitte reichen. Die vielen Anschläge auf Flüchtlingsheime (fast dreihundert
waren es in diesem Jahr!) haben diese Bewegung aber diskreditiert.
Einigkeit, Respekt und Freiheit: Ich rede von den Bürgertugenden in einem Integrationsland.
Deutschland ist, lange bevor die Flüchtlinge kamen, ein Integrationsland geworden. Vor 54
Jahren, im Herbst 1961, ist das deutsch-türkische Anwerbeabkommen geschlossen
worden. Dieser Tag ist einer der ganz wichtigen Tage in der jüngeren deutschen
Geschichte. Dieser Tag hat die Geschichte von Hunderttausenden von Familien und
Großfamilien verändert. Wer hätte damals gedacht, dass fünfzig Jahre später ein
Bundespräsident und eine Bundeskanzlerin sagen werden, dass der Islam zu Deutschland
gehört? Wer hätte gedacht, dass in deutschen Klein-, Mittel- und Großstädten Moscheen
stehen werden, an die 150 Moscheen sind es heute, die Laden- und Hinterhof-Moscheen
nicht mitgezählt. Verändert wurden die Geschichte und das Gesicht Deutschlands, der
Türkei und Europas.
Das deutsch-türkische Anwerbeankommen kann man in seiner Bedeutung und seinen
Folgewirkungen gar nicht überschätzen. Es ist das bedeutendste der Anwerbeabkommen –
die anderen kommen dazu: das erste war das mit Italien, dann kamen die mit Spanien und
Griechenland, dann das mit der Türkei, dann mit Marokko, Portugal, Tunesien und
Jugoslawien. Diese Abkommen haben Geschichte und Geschichten geschrieben,
Lebensgeschichte, Staatengeschichte.
Die Haupt-Geschichte begann am letzten Montag im Oktober 1961, nach einem viel zu
warmen Herbst. Sie begann so, dass es damals niemand merkte, sie begann irgendwie
mickrig, ohne Trara, ohne Staatsbesuch, ohne Nationalhymnen, ohne feierliche Reden,
ohne Händedruck. Als staatsrechtlich bedeutsamen Akt verstand es niemand, dass da ein
paar Seiten Papier hin- und hergeschickt wurden. Im Text dieser zwei Seiten ging es ja nur
um eine Art Liefervertrag: Das Auswärtige Amt in Bonn gab, weil die bundesdeutsche
Wirtschaft drängte, in einem kurzen Schreiben an die türkische Botschaft eine Bestellung
auf - und die Botschaft beehrte sich mitzuteilen, dass sie gerne liefern werde. Es handelte
sich nicht um die Lieferung von Haselnüssen für bundesdeutsche Kantinen, sondern um die
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Lieferung von billigen Arbeitern für die bundesdeutsche Wirtschaft. Die Arbeiter, die man
„Gastarbeiter“ nannte, gestalteten das Wirtschaftswunder mit.
Heute, 54 Jahre später, gibt es deutsche Spitzenpolitiker, die türkische und sonstige
ausländische Namen tragen, noch immer nicht sehr viele, aber immerhin. Es gibt AllianzManager, IT-Spezialisten, Feuerwehrkommandanten und Tennisvereinskassierer mit vielen
Ö und Ü im Namen. Ein migrantischer Unternehmertypus ist gewachsen - ziemlich fleißig,
ziemlich zuverlässig und sehr dienstleistungsstark. Wie gesagt: Deutschland hat sich
verändert, mindestens so sehr wie das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, als dort die
polnischen Einwanderer kamen und blieben. Deutschland ist, ob man das Wort mag oder
nicht, multikulturell geworden, multireligiös - und bisweilen auch multiverstört; es gab auch
furchtbare Ausschreitungen.
Die Deutschen mit fremden Namen bringen andere Traditionen, andere Denkweisen und
Erfahrungen mit als diejenigen Deutschen, die als Wolfgang Schäuble, Ursula von der
Leyen, Thomas de Maiziere, Horst Seehofer oder Markus Söder amtlich registriert sind.
Diese anderen Erfahrungen kann man nicht sterilisieren und nicht homogenisieren. Solche
Verfahren nutzen der Milch und verlängern deren Haltbarkeit – aber sie nutzen nicht der
deutschen Gesellschaft; diese Gesellschaft lebt von der Vielfalt, die aber ein gemeinsames
Fundament braucht, nämlich die Grundrechte des Grundgesetzes. Darüber muss sich die
Gesellschaft einig sein. Dann kann der Respekt voreinander wachsen, dann gedeiht die
Freiheit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
als ich, es ist schon längere Zeit her, Student der Rechtswissenschaften war, diskutierten
wir im strafrechtlichen Seminar über die Eigentumsdelikte und über die Probleme, die sich
ergeben, wenn ein Dieb Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt. In diesem
Zusammenhang sagte der Strafrechtsprofessor den schönen Satz: „Die Insichnahme ist die
intensivste Form der Ansichnahme.“ Es ist schade, dass dieser schöne Satz nur im
Strafrecht gilt. Wäre nämlich der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein
Indikator für Integration in Deutschland – es könnte kaum bessere Werte geben. Aber
Integration ist sehr viel mehr als die Addition der Dönerbuden in den deutschen
Fußgängerzonen. Integration ist mehr als das In-sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem
schmecken, und sie ist mehr als die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht.
Multikultur schmeckt allen, solange man sie essen kann. Wenn es nicht ums Essen geht,
sondern darum, den Neubürgern in diesem Land Rechte zu gewähren, tat man sich lange
sehr schwer. Das hat sich geändert, das ändert sich.
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Integration verlangt ja nicht nur von den Neubürgern viel, sondern auch einiges von den
Altbürgern. Integration stellt alte Gewissheiten in Frage. Einwanderung verändert die
Gesellschaft: Die meisten Deutschen haben es sich lange bewusst gemacht, wie tief diese
Änderung geht. Wir Altbürger haben, als uns klar geworden ist, dass die meisten
Einwanderer nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren, viele Jahre lang mehr oder
weniger fordernd auf deren Integration gewartet und geglaubt, wir erbrächten unsere eigene
Integrationsleistung schon damit, dass wir Dönerkebab essen. Aber, wie gesagt: der
Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ist kein Gradmesser für Integration.
Integration ist viel mehr als die Addition der Dönerbuden in den deutschen
Fußgängerzonen. Integration ist mehr als das In-sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem
schmecken, und sie ist mehr als die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht.
Integration ist auch positive Diskriminierung, positive Diskriminierung bedeutet Förderung:
Kinder im Berliner Problemquartier Neukölln-Nord müssen viel mehr gefördert werden als
die im feinen Zehlendorf, Schulklassen im Münchner Hasenbergl müssen erheblich kleiner
sein als die in München-Grünwald. Und das sind die nächsten Schritte auf dem Weg der
Integration: Problemschulen brauchen bessere Ausstattung als andere und sie brauchen die
besten Lehrer. Das kostet Geld. Ein beitragsfreier Kindergarten kostet Geld,
Sprachförderung kostet Geld, Ganztagsschulen kosten Geld. Wenn „Du Christ“ ein
gängiges Schimpfwort geworden ist an den Schulen, dann müssen Lehrer auch
Sozialarbeiter sein in den Milieus, die gegen Integration wirken und in denen die Religion
Abgrenzungsmerkmal ist.
Integration heißt Schule, Schule und nochmals Schule: Die Schule ist nämlich der Ort, an
dem die Welten aufeinandertreffen, mit verbaler und auch körperlicher Gewalt. Die
Verwandlung des deutschen Bildungssystems in ein System der Schicksalskorrektur
und in ein System der Förderung spezieller Talente ist teuer. Aber es ist noch viel teurer,
dies alles nicht zu tun. Wer das Geld nicht phantasievoll in Integration investiert, wird es
phantasielos in Hartz IV und in Gefängnisse investieren müssen.
Einigkeit, Respekt und Freiheit: Immer wieder ist in Deutschland über „Leitkultur“ gestritten
worden. Leitkultur hat nichts mit Heimatabend, Sauerkraut, nationalen
Überlegenheitsgefühlen oder Deutschtümeleien zu tun. Leitkultur ist eine bürgerliche
Kultur des Zusammenlebens: Leitkultur sind Demokratie und Rechtsstaat, Leitkultur sind
die Grundrechte. Das klingt simpel. Der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese
Leitkultur fordert viel, nämlich Toleranz von beiden Seiten, von den Alt- und Neubürgern –
und führt dann zur Integration. Toleranz nimmt niemandem seine Religion, sein Kopftuch,
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seine Lebensgewohnheiten weg. Toleranz setzt aber voraus, dass die heiligen Bücher, wie
immer sie heißen, nicht über oder gegen die Leitkultur gestellt werden. Auch der Koran
steht nicht über dem Grundgesetz. Das ist das Fundament für die
Einwanderungsgesellschaft.
Vielleicht ist ein anderes Wort besser als das Wort Toleranz: Respekt. Toleranz hat
manchmal etwas Unentschiedenes, etwas Gleichgültiges auch. Respekt ist daher besser,
darin stecken Beachtung und Achtung. Dieser Respekt ist die wichtigste Tugend für das
neue Deutschland. Integration basiert auf dem Respekt voreinander. Altbürger und
Neubürger, Christen und Muslime, gläubige und nichtgläubige Menschen, die Bürgerinnen
und Bürger unterschiedlichsten Herkommens, müssen Respekt voreinander und
füreinander haben. Das neue deutsche Motto lautet: Einigkeit, Respekt und Freiheit –
gebettet auf ein gutes Recht.
Vielleicht muss man, um diese neuen Zeiten anzukurbeln, einmal an ganz alte Zeiten
erinnern. Es gab nämlich einmal eine Zeit, da waren die Deutschen die Türken der
USA. Das ist gut 150 Jahre her. New York war damals, nach Berlin und Wien, die Stadt mit
den meisten deutschsprachigen Menschen. Damals wanderten Jahr für Jahr gut
hunderttausend Deutsche in die USA ein, 1854 waren es 215 000. Sie taten sich sehr
schwer mit der Integration, blieben am liebsten unter sich: Die Deutschen bauten sich ihre
eigenen Kirchen, kauften in deutschen Geschäften, lebten in deutschen Vereinen, gingen in
deutsche Theater, trugen deutsche Trachten, kochten deutsches Essen und setzten sich
gern in den Biergarten, zumal am Sonntag. Den eingesessenen amerikanischen Puritanern,
die den Tag des Herrn fromm und leise zum Bibellesen nutzten, gefiel das überhaupt nicht.
Sie erklärten die Biertrinkerei zu unamerikanischen Umtrieben und zogen in Wort und Tat
gegen das deutsche Laster zu Felde. Die ausländerfeindliche, genauer gesagt die
deutschfeindliche Stimmung wuchs zum Deutschenhass. Das deutsche Theater in New
York wurde angezündet.
Die Deutschen waren, wie gesagt, die Türken der USA. Die Streitpunkte damals waren
natürlich nicht das Kopftuch, das Schächten, die Scharia und der Dschihad. Aber der
Sammelvorwurf gegen die Deutschen lautete genauso wie der heute gegen Türken in
Deutschland oder gegen Flüchtlinge: „Die integrieren sich nicht, die bleiben unter sich.“ In
Chicago heizte eine ultra-konservative politische Partei namens „Americans only“ Ausländer raus - den Konflikt an, ihr Kandidat Dr. Levi Boone wurde Bürgermeister. Der
neue Bürgermeister erhöhte die Alkoholsteuer um sechshundert Prozent und verbot den
Bierausschank am Sonntag. Am ersten Sonntag nach dem Verbot, es war der 21. April
1855, schickte er die Polizei zur Kontrolle in die Wirtschaften. Als an die zweihundert
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deutsche Gäste und etliche Wirte wegen Zuwiderhandlung verhaftet und eingesperrt
wurden, kam es zum deutschen Aufstand. „Beer Riots“ heißt das in den Archiven. Das klingt
lustiger, als es war. Die Polizei schoss in die aufgebrachte Menge, aus der Menge wurde
zurückgeschossen.
Um ihre Interessen zu wahren, beteiligten sich die Einwanderer zunehmend an der Politik,
Bürgermeister Boone wurde ein Jahr nach den Unruhen abgewählt, die Prohibition wieder
aufgehoben. Aber Integration blieb eine mühsame Geschichte. Im Jahr 1859, als die
deutschen Immigranten zum hundertsten Geburtstag von Friedrich Schiller im ganzen Land
große Feste feierten, wurde in Chicago erstmals ein Deutscher zum Sheriff gewählt - ein
Aufschrei bei den eingesessenen Amerikanern war die Antwort. „Wie schändlich wird es
sein“, schrieb die Chicago Times, „wenn im vorkommenden Falle ein Deutscher einen
Amerikaner hängen wird!“.
Diese Geschichten sind, diese Geschichte ist kaum bekannt hierzulande. Es gibt keine
Erinnerung. Die Auswanderung kommt im kollektiven deutschen Gedächtnis nicht vor,
sie ist nicht Teil der erinnerten nationalen Geschichte. Wäre in Deutschland die eigene
Auswanderungsgeschichte präsent, hätten die Probleme der Einwanderung und Integration
wohl nicht so lange brachliegen können. Vielleicht hätten die Deutschen, ihre eigene
Migrationsgeschichte vor Augen, nicht diese Heidenangst vor der Einwanderung gehabt und
davor, das Kind beim Namen zu nennen; vielleicht hätten sie, statt den jahrelangen
Glaubensstreit um das Wort „Einwanderungsland“ zu führen, sich der Probleme
angenommen, die sich daraus für Deutschland ergeben; vielleicht wären sie einerseits
gelassener, andererseits sensibler für die Erfordernisse der Integration gewesen - und
vielleicht nicht so anfällig für einen deutschen Levi Boone, der im Jahr 2010 Thilo Sarrazin
hieß; er prognostizierte, dass sich Deutschland „abschafft“, weil es zu viele angeblich
integrationsunfähige Türken hat.
In Deutschland wird viel über die Probleme der Einwanderung geredet, aber viel zu wenig
über die Reichtümer und Schätze, die das Land dabei gewonnen hat. Private Initiativen und
Stiftungen haben damit begonnen, die Lebensgeschichten der Einwanderer zu sammeln.
Das hat wenig mit Sentimentalität zu tun; es geht vielmehr darum, sich die Quellen der
jüngsten Geschichte zu sichern. Deshalb sind die Bemühungen um ein Migrationsmuseum
in Deutschland kultur- und gesellschaftspolitisch so wichtig. Es gibt so viele kleine
Geschichten, die auch davon erzählen, wie sich der Alltag in unserem europäischen
Deutschland in wenigen Jahrzehnten verändert hat.
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Nicht nur die Einwanderer, nicht nur die Neubürger, sondern auch fast alle Altbürger haben
ihre eigenen kleinen und großen Erlebnisse mit Migration. In meinem Leben gibt es eine
Geschichte, die mir die deutsche Auswanderung nach Amerika, nahegebracht hat. Sie ist
zugleich mein journalistisches Urerlebnis: Ich war ein Bub von acht Jahren und saß neben
meiner Großmutter am großen Küchentisch. Sie schrieb Briefe, mit Feder und Tinte, viele
Briefe, und ich legte immer wieder das Löschblatt auf die Bögen. Großmutter also schrieb
Brief um Brief in die Vereinigten Staaten, an alle, die irgendwann aus unserem
oberpfälzischen Dorf ausgewandert waren. Sie suchte das Grab ihres Sohnes, der als
Oberbootsmannsmaat der Kriegsmarine der Stolz des Dorfes gewesen war. Sein
Unterseeboot U 85 war im Jahr 1942 vor der US-Küste torpediert worden, und sein
Leichnam war, davon ging sie aus, aus dem Wasser gefischt worden. Sie schrieb also, viele
Tage lang. Und Briefe kamen zurück in schon etwas ungelenkem Deutsch, von Leuten, die
sich für Oma auf den Soldatenfriedhöfen umgeschaut hatten. Und eines Tages traf ein
dickes Couvert mit Fotos ein, und Großmutter sagte lang nichts und streichelte nur die
Kanten der Bilder. Man sah darauf einen weißen Grabstein und darauf steht: „Oskar Prantl“.
Der Fotograf hatte eigens Urlaub genommen, war 800 Meilen weit gereist, hatte das Grab
gefunden und einen Blumenstock hingestellt. Das war, im Dabeisitzen, meine erste
journalistische Recherche.
Einigkeit, Respekt und Freiheit. Es geht um das gute Miteinander der Kulturen und der
Religionen in unserer Gesellschaft. Darf ich Ihnen auch dazu eine Geschichte erzählen, es
ist eine Geschichte die Sie kennen, es ist die Dreikönigs-Geschichte; ich erzähle Sie in
meiner Interpretation – weil sie dann zu einer Lehrgeschichte wird, zu Lehrgeschichte des
Miteinanders in unserem Land.
Die Dreikönigs-Geschichte macht mir seit Kindheits-Zeiten Freude - weil ich mir immer
vorgesellt habe, wie die Könige vor dem Stall ankommen. Man muss sich das vorstellen:
Wie der König Balthasar von seinem Elefanten herunterklettert, König Melchior von seinem
Kamel, König Caspar von seinem Pferd – und wie die drei dann auf dem Weg zur Krippe
ihre prächtigen langen Mäntel durch den Schafscheiß schleifen. Als Kind hat mir diese
Vorstellung stets Vergnügen gemacht: Es liegt nun einmal viel Dreck auf einer Schafweide,
auch dann, wenn ein geschweifter Leitstern den Weg dorthin gewiesen hat und soeben
noch der Engel des Herrn bei den Hirten seinen glanzvollen Auftritt hatte.
Die drei Könige kommen also ein wenig verdreckt an beim Jesuskind, und das gefiel mir
eigentlich ganz gut; weil somit erstens bewiesen war, dass Sauberkeit selbst bei den
allerheiligsten Angelegenheiten nicht das Wichtigste ist; zweitens weil die Könige nicht nur
im echten, sondern auch im übertragenen Sinn herunterkommen mussten vom hohen Ross.
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Man steht nicht prunkend und protzend vor seinem Gott, auch wenn der derzeit in Windeln
liegt.
Heute wäre der Stall zu Bethlehem vielleicht ein Flüchtlingskahn auf dem Mittelmeer – und
die Könige kämen in Rettungsbooten. Vielleicht stünde die Krippe auch in einem
Erstaufnahmelager in Bayern oder in Baden. Die Geschichte von den Heiligen Drei
Königen gehört zu den großen Erzählungen der Christenheit. Für das Volk waren die drei
Könige mit ihrer phantastischen Menagerie jahrhundertelang so etwas wie ein religiöser
Zirkus Krone: Das exotisch Fremde hielt seinen Einzug in die Frömmigkeit, und das
zauberhaft Andere lagerte in der ansonsten vertrauten, weil ins Heimische transportierten
biblischen Szenerie. Die Krippenschnitzer, die Fassmaler und Vergolder haben sich seit
jeher mit den drei Königen am meisten Arbeit gemacht. Eine große biblische Basis hat
dieser schöne Dreikönigskult nicht. Die Geschichte steht nur in einem der vier Evangelien,
bei Matthäus, und auch dort ist nicht die Rede von Königen, sondern, je nach Übersetzung,
von persischen Priestern, Magiern oder Sterndeutern. Aber aus den knappen Sätzen beim
Evangelisten Matthäus haben Phantasie, Volksglaube und christlicher Symbolismus viel
gemacht. Die drei Könige verkörpern, so steht es in der Heiligenlegende, die drei
Lebensalter und die drei in der alten Zeit bekannten Kontinente.
Ich bin nun kein Theologe, sondern Jurist … lassen Sie mich trotzdem eine neue Deutung
versuchen, eine Deutung im Geiste der guten Bürgertugenden. Da machen sich drei Könige
auf den Weg, auf die Suche nach Gott. Weil sie miteinander an der Krippe eintreffen,
müssen sie sich irgendwo getroffen, verabredet und auch darüber gesprochen haben, wer
was wie sucht und warum, was man schenkt und in welcher Haltung und Reihenfolge man
sich dem Gesuchten nähert. Das ist der Dialog, der Trialog der Religionen – und dann sind
Caspar, Melchior und Balthasar nicht, wie in der Legende, Vertreter von Erdteilen, sondern
heute Repräsentanten der drei abrahamitischen Weltreligionen Christentum, Judentum und
Islam. Ich weiß: Das Christentum war vor zwei Jahrtausenden erst im Entstehen; den Islam
gab es noch nicht; es gab den Zoroastrismus, dem die „Weisen aus dem Morgenland” in der
klassischen Exegese zugewiesen werden. In Konkurrenz zum Christentum stand in den
ersten Jahrhunderten der zoroastrische Mithras-Kult und der Manichäismus; heute ist es der
Islam.
Gleichwohl. Die neue Interpretation der Dreikönigs-Geschichte könnte also sein: Man findet
Gott nicht im Wettlauf, nicht im religiösen Wettkampf; man findet ihn miteinander. Gott findet
der, der sich auf den Weg macht, sich ins Unbekannte führen lässt. Er findet ihn im Reden
mit den Anderen und in der gemeinsamen Suche; manchmal muss dabei auch einer auf
den anderen warten. Jeder König hat sein Schicksal hinter sich. Jeder kennt den
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Fundamentalismus in sich, den Glauben, die alleinige Wahrheit gepachtet zu haben.
Jeder weiß, wie aus Monotheismus heiliger Nationalismus wird, der schlimmer war und ist
als der politische. Gott wurde und Allah wird immer wieder zum Motiv einer angeblich um
des Heils willen gerechtfertigten Gewalttätigkeit. Die Könige treffen also in prekärem
Zustand aufeinander.
Die Christen und auch die, die es einmal gewesen sind, tun sich schwer mit dem IslamDialog, oft auch deswegen, weil sie dem muslimischen Glaubensstolz und der Inbrunst
vieler Muslime nicht viel entgegenzusetzen haben. Sie fürchten, dass die Zukunft der
christlichen Vergangenheit verlorengeht. Die Auseinandersetzung mit den
glaubensbewussten Muslimen macht vielen Westlern, ob gläubig oder nicht, ihre eigene
Unkenntnis über die Grundlagen des Christentums klar. Die Angst vor dem Verlust der
„christlichen Werte” ist ja hierzulande paradoxerweise gerade in jenen Milieus
ausgeprägt, die von eben diesen Werten sonst wenig wissen wollen – während viele
praktizierende Christen den interreligiösen Dialog suchen und pflegen.
Ich meine: Gott ist der Gott, den auch der andere verehrt, aber jeder nennt ihn anders und
jeder erkennt ihn anders, jeder preist ihn anders. Der eine baut ihm einen Glockenturm, der
andere ein Minarett. Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden. Das ist ein bisher
gescheitertes Jahrtausendprojekt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Wir haben es uns angewöhnt, über Europa zu mäkeln, wie es Schüler über die Schule tun.
Wir haben es uns angewöhnt, über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die
Demokratiedefizite, über die Kosten, über den Wirrwarr der Richtlinien, über den Euro und
die Rettungsschirme. Die Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu
sehen. Europa ist ein Wunder. Dieses Europa der Europäischen Union ist das Beste, was
Europa in seiner langen Geschichte passiert ist.
Zuletzt in den Wochen der Ukraine-Krise und jüngst, in den Tagen des Gedenkens und
Erinnerns an das Ende des Zweiten Weltkriegs, ist mir eine Kiste, eine Holztruhe
eingefallen. An diese Truhe hatte ich schon lang nicht mehr gedacht. Sie stand einst im
Zimmer meiner Großmutter – einer resoluten oberpfälzischen Bauersfrau, die 15 Kinder
geboren hatte, also einige Kinder mehr, als die Europäische Union in den ersten dreißig
Jahren ihrer Existenz Mitgliedsstaaten zählte. Großmutters wichtigste Erinnerungen waren
in dieser Holztruhe verwahrt, auf welcher in Sütterlin-Schrift „Der Krieg“ stand. Darin
befanden sich Briefe, die ihre Söhne und Schwiegersöhne von allen Fronten des Zweiten
Weltkriegs nach Hause geschrieben hatten.
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Einer der vielen Briefschreiber war Soldat war in der deutschen 11. Armee unter General
Erich von Manstein, die 1941/42 versuchte, Sewastopol auf der Krim zu erobern. Was
würde Großmutter sagen, wenn sie noch lebte? „Schreib was, Bub“, würde sie sagen,
„schreib was, dass es nicht wieder Krieg gibt“. Sie würde mir dann, wie so oft, nicht nur vom
Zweiten, sondern auch vom Ersten Weltkrieg erzählen: Wie der Krieg auf einmal da war, vor
hundert Jahren, mitten im schönsten August. Und dann würde sie vom großen „Wunder“
reden, das sie kaum glauben könne, wenn sie in die alte Kiste schaue. Man müsse dies’
Wunder hüten wie ein rohes Ei: das Wunder Europa nämlich.
Im Altertum gab es sieben Weltwunder: Die hängenden Gärten der Semiramis; den Koloss
von Rhodos; das Grab des Königs Mausolos; den Leuchtturm auf der Insel Pharos; die
Pyramiden von Gizeh; den Tempel der Artemis in Ephesos und die Zeusstatue von
Oympia. Heute gibt es das Europäische Parlament. es ist die weltweit einzige direkt
gewählte supranationale Institution. Die demokratische Versammlung der Europäer ist ein
Weltwunder.
Dieses Europaparlament ist aber zugleich das einzige demokratische Parlament weltweit,
das unablässig an Zustimmung verliert. Es ist ein makabres Wunder: Seit der ersten
Europawahl vor 35 Jahren nimmt die Wahlbeteiligung ständig ab, in Deutschland war es
2014 zum ersten Mal wieder anders – vielleicht deswegen, weil die Sozialdemokraten und
Sozialisten einen deutschen Spitzenkandidaten hatten und dieser Spitzenkandidat im
Wahlkampf auch besonders herausgestellt wurde. Es ist schon ein europäisches
Paradoxon: Je wichtiger dieses Parlament geworden ist, und es ist wirklich wichtiger
geworden (wenn auch noch immer nicht wichtig genug) - umso weniger wird es von
Europäern wichtig genommen. In dem Maß, in dem das Parlament an Einfluss gewonnen
hat, hat es seine Basis verloren.
Deshalb ist die Mobilisierung von Vertrauen in eine bessere, in eine geläuterte EU so
wichtig: Europa muss sozial, bürgernah, menschlich werden. Europa muss Heimat werden
für die Menschen. Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, es muss
Bürgergemeinschaft sein. Es darf nicht nur Nutzgemeinschaft für Industrie und Banken sein,
es muss Schutzgemeinschaft für die Menschen werden. Das geht nicht mit Geschwurbel,
das geht nur mit handfester sozialer Politik. Eine solche handfeste soziale Politik brauchen
wir.
Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden, einen gemeinsamen Weg gehen. Das sind
deutsche, das müssen europäische Bürgertugenden sein, ob man nur religiös ist oder nicht.
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Mit fällt dazu ein Gespräch ein, das ich vor zwanzig Jahren mit dem alten und weisen, bald
darauf verstorbenen Wiener Kardinal Franz König geführt habe: Er hat damals – es wurde
gerade in Österreich ein sehr anti-islamischer Wahlkampf geführt - betont, wie tief die Türkei
und der Islam hineinragen „in die Geschichte dessen, was wir Europa nennen”- so dass wir
das „unmöglich ausschließen können ”.
Der alte Kardinal warb schlicht und eindringlich für die Aufnahme der Türkei in die EU:
„Christentum und Islam, Europa und Türkei müssen miteinander leben, nicht
nebeneinander.” Der alte weise Mann formulierte einen europäisch-programmatischen
Satz: „Wir haben so viele verschiedene Kulturen auf heimatlichem Boden. Dieser Reichtum
darf nicht nivelliert werden; er muss das vereinte Europa prägen“. Bisweilen hat auch ein
Kardinal vollkommen und unbedingt und ohne jede Abstriche recht.
Genau so ist es. Der Reichtum der Sprachen, der Kulturen, der Traditionen, der Religionen er muss hineingenommen werden in unser Deutschland und in die Europäische Union. Das
ist Willkommenskultur. Das ist moderne Demokratie. Das ist Europa. Das bringt Frieden.
Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter
der Redaktion Innenpolitik
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