Festvortrag Matinee 3. Oktober 2015 Einigkeit, Respekt und Freiheit Festvortrag von Professor Heribert Prantl anlässlich der Matinee zum Tag der Deutschen Einheit am Samstag, 3. Oktober 2015, 11 Uhr, BadnerHalle - Es gilt das gesprochene Wort Stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch; darin verzeichnet alle Schicksale, alles Leid, alles Elend, alle Hoffnung, alle Zuversicht. Stellen wir uns vor, es gäbe in diesem großen Flüchtlingsbuch eine Seite für jeden Flüchtling, eine Seite für jeden Vertriebenen, eine Seite für jeden, der seine Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen musste. Eine Seite nur für Jeden; für alle Sehnsucht, für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das Leben und für das Sterben und für alles dazwischen. Stellen wir uns vor, wie ein solches großes Buch aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte sechzig Millionen Seiten. So viele Flüchtlinge gibt es derzeit auf der Welt. Nur die allerwenigsten davon kommen nach Europa, nur die allerwenigsten schaffen es dorthin, wo der Reichtum so groß ist wie die Klage über die Flüchtlinge. Aber sie alle wären notiert in diesem Buch: diejenigen, die vor dem Krieg in Syrien fliehen; diejenigen, die dem Terror des „Islamischen Staates“ mit knapper Not entkommen sind; diejenigen, die es nach Europa schaffen und dort von Land zu Land geschickt werden; diejenigen, die im Mittelmeer ertrunken sind; diejenigen, die durch die Wüsten Afrikas gelaufen sind und dann in Ceuta und Melilla, an der Grenze zu Europa, vor einem Stacheldrahtzaun stehen; diejenigen, die zu Millionen in ihrem Nachbarland in Notlagern darauf warten, dass die Zustände im Heimatland besser werden; diejenigen auch, die nach dem Verlassen ihrer Heimat verhungert und verdurstet sind, die verkommen sind in der Fremde; die Kinder wären genauso verzeichnet in diesem Buch wie ihre Mütter und Väter, die Kinder also, für die es keinen Hort und keine Schule gibt. Es stünden in diesem Flüchtlingsbuch auch diejenigen Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat – und wie sie es geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein. Es wäre dies nicht nur ein einzelnes Buch; es wäre ein Buch, bestehend aus vielen Bänden. Wenn jeder dieser Bände fünfhundert Seiten hätte – das Flüchtlingsbuch bestünde . . Postfach 12 63 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 1 von 13 - aus insgesamt 120 000 Bänden. Es wäre dies eine ziemlich große Bibliothek. Wenn man die Bände stapelt, wäre der Bücherturm höher als der höchste Berg der Erde. Es gibt dieses Buch nicht. Es gibt die Menschen, die der Inhalt dieses Buches wären: Flüchtlinge nennen wir sie. Es sind Kriegsflüchtlinge, es sind sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, also solche, die das Leben in ihrer Heimat nicht mehr aushalten können. Nennen wir sie Menschen; es sind entwurzelte, entheimatete Menschen. Warum beginne ich meinen Vortrag mit den Flüchtlingen? Weil das Flüchtlingsproblem nicht nur Problem des Sommers und des Herbstes 2015 ist; es ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Problem, das viel größere Anstrengungen erfordern wird als die Stabilisierung des Euro. Es ist ein Problem, das nur dann gut angepackt werden kann, wenn es möglichst viel Einigkeit gibt, Einigkeit in Deutschland, Einigkeit in Europa, Einigkeit in der Weltgemeinschaft. Es geht hier nicht um das Überleben einer Währung, es geht um das Überleben von Millionen von Menschen. Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, was es getan hat, um Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Gesellschaft ein großes Umdenken verlangt. Das Elend der Flüchtlinge ist so nahe gerückt in den vergangenen Wochen – und es hat so viele Menschen hierzulande ans Herz gefasst. Die Hilfsbereitschaft war und ist überwältigend. Es ist aber auch die Sorge davor groß, dass die Stimmung kippen könnte, dass also Angst die Oberhand gewinnt und sich Luft macht in Abwehr und Ausschreitung. Man spricht von „illegaler Einwanderung“. Wann ist ein Mensch illegal? Ist es illegal, wenn er sich zu retten versucht? In wenigen Wochen feiern wir wieder das Fest des Heiligen Sankt Martin, der einer der europäischen Schutzheiligen ist. Ist Sankt Martin am Bettler vorbei geritten und hat in er nächsten Kaserne gemeldet: Da hinten im Wald ist ein Illegaler? Gewiss – da war damals auch nur ein einziger Armer. Heute gibt es so unendlich viele Flüchtlinge, auch so unendlich viele, die nach Deutschland wollen. Aber wir sind ja auch nicht ein einzelner Reiter, so wie Sankt Martin einer war. Wir sind Millionen, die helfen können, fünfhundert Millionen in der Europäischen Union. „Ultra posse nemo obligatur“ – haben die alten römischen Juristen gesagt. „Niemand kann verpflichtet werden, mehr zu leisten, als man kann“: Auch der der Bundespräsident hat am vergangenen Sonntag so ähnlich formuliert. Gewiss: niemand kann verpflichtet werden, mehr zu leisten als er kann. Aber man sollte dieses Können nicht unterschätzen, man sollte nicht vorschnell sagen, dass man nicht mehr kann. „Not lehrt beten“, hat man früher oft . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 2 von 13 - gesagt. Not lehrt auch helfen. Gewiss: Die anrührende Herzlichkeit, mit der so viele Flüchtlinge in den vergangenen Wochen an den Bahnhöfen empfangen wurden, löst nicht die gewaltigen Probleme, die Staat und Gesellschaft bei der Integration der Flüchtlinge noch bevorstehen. Aber sie hilft, diese Probleme anzupacken – in Rastatt, in Stuttgart, in Berlin, in Brüssel, in den europäischen Haupt- und Provinzstädten. Es ist gut, wenn die Globalisierung der Gleichgültigkeit beendet wird. Mit Mauern und Stacheldraht-Zäunen sind noch keine Probleme gelöst werden. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat ein Drama geschrieben, das „Die chinesische Mauer“ heißt. Der Kaiser von China, Hwang Ti, verkündet an einem Festtag „zur Friedenssicherung“, wie er sagt, den Bau der chinesischen Mauer. Die soll, wie er sagt, den Zweck erfüllen, „die Zeit aufzuhalten“ und die Zukunft zu verhindern. Es ist schon komisch, dass dieser Kaiser noch heute in Europa, in Ungarn vor allem, seine Kommissare hat. Sie haben gewiss die ergreifenden Szenen vom Münchner Hauptbahnhof gesehen; man wird sie so schnell nicht vergessen: Die Menschen, die wochenlang auf der Flucht waren, wurden mit Beifall, Bonbons und Kuscheltieren empfangen wurden; nicht von einigen politischen Aktivisten, sondern von vielen ganz normalen Bürgern. Sie hatten sich, in München und auch in anderen deutschen Städten, auf den Weg zum Bahnhof gemacht, um den Flüchtlingen zu zeigen: Ihr seid keine Aussätzigen; Ihr seid willkommen. Wir haben Respekt vor dem, was ihr gemeistert habt. Was ist passiert? Sehen wir ein Wunder? Hat sich Deutschland über Nacht in ein Paradies der Nächstenliebe verwandelt? Man soll nicht übertreiben. Die Gesellschaft in Deutschland ist – wie die in ganz Europa – hin- und hergerissen zwischen Hilfsbereitschaft, Hilflosigkeit, Abwehr und Hetze. In Deutschland gibt es eine immer giftigere flüchtlingsfeindliche Szene, zu deren Kommunikationsmitteln Unverschämtheiten, Morddrohungen und Brandsätze gehören. Die Drohungen richten sich gegen Flüchtlinge („Wir fackeln euch ab“), neuerdings auch gegen Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Vor ein paar Wochen besuchte die Kanzlerin ein Flüchtlingsheim in Heidenau in der früheren DDR, und bekam dort den Hass dieser ausländerfeindlichen Szene zu spüren. Ihre Entscheidung, die Flüchtlinge aufzunehmen, ist wohl auch im Zusammenhang damit zu sehen. Merkel wollte ein Signal setzen: Deutschland ist kein Neonazi-Land; Deutschland leistet Hilfe; Deutschland geht in Europa mit gutem Beispiel voran. Es gibt zwei Zivilgesellschaften in Deutschland: Erstens eine aufgeklärte, aufgeschlossene Gesellschaft, die weiß, dass eine gute Zukunft von der Inklusion abhängt, davon also, dass . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 3 von 13 - die vier Millionen Muslime in Deutschland wirklich zu Hause sind; diese wohlwollende Zivilgesellschaft weiß auch, dass Europa sich nicht abschotten darf und kann, dass eine Festung Europa ein Unding ist in einer globalisierten Welt. Und daneben existiert eine zweite Zivilgesellschaft, eine unzivile, lärmende, ausländerfeindliche Zivilgesellschaft ist das – die sich zuletzt monatelang bei den sogenannten Pegida-Demonstrationen gezeigt hat. Pegida ist das Kürzel für: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Dort sammeln sich Ressentiments, die von Rechtsaußen bis weit hinein in die bürgerliche Mitte reichen. Die vielen Anschläge auf Flüchtlingsheime (fast dreihundert waren es in diesem Jahr!) haben diese Bewegung aber diskreditiert. Einigkeit, Respekt und Freiheit: Ich rede von den Bürgertugenden in einem Integrationsland. Deutschland ist, lange bevor die Flüchtlinge kamen, ein Integrationsland geworden. Vor 54 Jahren, im Herbst 1961, ist das deutsch-türkische Anwerbeabkommen geschlossen worden. Dieser Tag ist einer der ganz wichtigen Tage in der jüngeren deutschen Geschichte. Dieser Tag hat die Geschichte von Hunderttausenden von Familien und Großfamilien verändert. Wer hätte damals gedacht, dass fünfzig Jahre später ein Bundespräsident und eine Bundeskanzlerin sagen werden, dass der Islam zu Deutschland gehört? Wer hätte gedacht, dass in deutschen Klein-, Mittel- und Großstädten Moscheen stehen werden, an die 150 Moscheen sind es heute, die Laden- und Hinterhof-Moscheen nicht mitgezählt. Verändert wurden die Geschichte und das Gesicht Deutschlands, der Türkei und Europas. Das deutsch-türkische Anwerbeankommen kann man in seiner Bedeutung und seinen Folgewirkungen gar nicht überschätzen. Es ist das bedeutendste der Anwerbeabkommen – die anderen kommen dazu: das erste war das mit Italien, dann kamen die mit Spanien und Griechenland, dann das mit der Türkei, dann mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Diese Abkommen haben Geschichte und Geschichten geschrieben, Lebensgeschichte, Staatengeschichte. Die Haupt-Geschichte begann am letzten Montag im Oktober 1961, nach einem viel zu warmen Herbst. Sie begann so, dass es damals niemand merkte, sie begann irgendwie mickrig, ohne Trara, ohne Staatsbesuch, ohne Nationalhymnen, ohne feierliche Reden, ohne Händedruck. Als staatsrechtlich bedeutsamen Akt verstand es niemand, dass da ein paar Seiten Papier hin- und hergeschickt wurden. Im Text dieser zwei Seiten ging es ja nur um eine Art Liefervertrag: Das Auswärtige Amt in Bonn gab, weil die bundesdeutsche Wirtschaft drängte, in einem kurzen Schreiben an die türkische Botschaft eine Bestellung auf - und die Botschaft beehrte sich mitzuteilen, dass sie gerne liefern werde. Es handelte sich nicht um die Lieferung von Haselnüssen für bundesdeutsche Kantinen, sondern um die . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 4 von 13 - Lieferung von billigen Arbeitern für die bundesdeutsche Wirtschaft. Die Arbeiter, die man „Gastarbeiter“ nannte, gestalteten das Wirtschaftswunder mit. Heute, 54 Jahre später, gibt es deutsche Spitzenpolitiker, die türkische und sonstige ausländische Namen tragen, noch immer nicht sehr viele, aber immerhin. Es gibt AllianzManager, IT-Spezialisten, Feuerwehrkommandanten und Tennisvereinskassierer mit vielen Ö und Ü im Namen. Ein migrantischer Unternehmertypus ist gewachsen - ziemlich fleißig, ziemlich zuverlässig und sehr dienstleistungsstark. Wie gesagt: Deutschland hat sich verändert, mindestens so sehr wie das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, als dort die polnischen Einwanderer kamen und blieben. Deutschland ist, ob man das Wort mag oder nicht, multikulturell geworden, multireligiös - und bisweilen auch multiverstört; es gab auch furchtbare Ausschreitungen. Die Deutschen mit fremden Namen bringen andere Traditionen, andere Denkweisen und Erfahrungen mit als diejenigen Deutschen, die als Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen, Thomas de Maiziere, Horst Seehofer oder Markus Söder amtlich registriert sind. Diese anderen Erfahrungen kann man nicht sterilisieren und nicht homogenisieren. Solche Verfahren nutzen der Milch und verlängern deren Haltbarkeit – aber sie nutzen nicht der deutschen Gesellschaft; diese Gesellschaft lebt von der Vielfalt, die aber ein gemeinsames Fundament braucht, nämlich die Grundrechte des Grundgesetzes. Darüber muss sich die Gesellschaft einig sein. Dann kann der Respekt voreinander wachsen, dann gedeiht die Freiheit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, als ich, es ist schon längere Zeit her, Student der Rechtswissenschaften war, diskutierten wir im strafrechtlichen Seminar über die Eigentumsdelikte und über die Probleme, die sich ergeben, wenn ein Dieb Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt. In diesem Zusammenhang sagte der Strafrechtsprofessor den schönen Satz: „Die Insichnahme ist die intensivste Form der Ansichnahme.“ Es ist schade, dass dieser schöne Satz nur im Strafrecht gilt. Wäre nämlich der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein Indikator für Integration in Deutschland – es könnte kaum bessere Werte geben. Aber Integration ist sehr viel mehr als die Addition der Dönerbuden in den deutschen Fußgängerzonen. Integration ist mehr als das In-sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem schmecken, und sie ist mehr als die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht. Multikultur schmeckt allen, solange man sie essen kann. Wenn es nicht ums Essen geht, sondern darum, den Neubürgern in diesem Land Rechte zu gewähren, tat man sich lange sehr schwer. Das hat sich geändert, das ändert sich. . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 5 von 13 - Integration verlangt ja nicht nur von den Neubürgern viel, sondern auch einiges von den Altbürgern. Integration stellt alte Gewissheiten in Frage. Einwanderung verändert die Gesellschaft: Die meisten Deutschen haben es sich lange bewusst gemacht, wie tief diese Änderung geht. Wir Altbürger haben, als uns klar geworden ist, dass die meisten Einwanderer nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren, viele Jahre lang mehr oder weniger fordernd auf deren Integration gewartet und geglaubt, wir erbrächten unsere eigene Integrationsleistung schon damit, dass wir Dönerkebab essen. Aber, wie gesagt: der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ist kein Gradmesser für Integration. Integration ist viel mehr als die Addition der Dönerbuden in den deutschen Fußgängerzonen. Integration ist mehr als das In-sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem schmecken, und sie ist mehr als die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht. Integration ist auch positive Diskriminierung, positive Diskriminierung bedeutet Förderung: Kinder im Berliner Problemquartier Neukölln-Nord müssen viel mehr gefördert werden als die im feinen Zehlendorf, Schulklassen im Münchner Hasenbergl müssen erheblich kleiner sein als die in München-Grünwald. Und das sind die nächsten Schritte auf dem Weg der Integration: Problemschulen brauchen bessere Ausstattung als andere und sie brauchen die besten Lehrer. Das kostet Geld. Ein beitragsfreier Kindergarten kostet Geld, Sprachförderung kostet Geld, Ganztagsschulen kosten Geld. Wenn „Du Christ“ ein gängiges Schimpfwort geworden ist an den Schulen, dann müssen Lehrer auch Sozialarbeiter sein in den Milieus, die gegen Integration wirken und in denen die Religion Abgrenzungsmerkmal ist. Integration heißt Schule, Schule und nochmals Schule: Die Schule ist nämlich der Ort, an dem die Welten aufeinandertreffen, mit verbaler und auch körperlicher Gewalt. Die Verwandlung des deutschen Bildungssystems in ein System der Schicksalskorrektur und in ein System der Förderung spezieller Talente ist teuer. Aber es ist noch viel teurer, dies alles nicht zu tun. Wer das Geld nicht phantasievoll in Integration investiert, wird es phantasielos in Hartz IV und in Gefängnisse investieren müssen. Einigkeit, Respekt und Freiheit: Immer wieder ist in Deutschland über „Leitkultur“ gestritten worden. Leitkultur hat nichts mit Heimatabend, Sauerkraut, nationalen Überlegenheitsgefühlen oder Deutschtümeleien zu tun. Leitkultur ist eine bürgerliche Kultur des Zusammenlebens: Leitkultur sind Demokratie und Rechtsstaat, Leitkultur sind die Grundrechte. Das klingt simpel. Der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese Leitkultur fordert viel, nämlich Toleranz von beiden Seiten, von den Alt- und Neubürgern – und führt dann zur Integration. Toleranz nimmt niemandem seine Religion, sein Kopftuch, . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 6 von 13 - seine Lebensgewohnheiten weg. Toleranz setzt aber voraus, dass die heiligen Bücher, wie immer sie heißen, nicht über oder gegen die Leitkultur gestellt werden. Auch der Koran steht nicht über dem Grundgesetz. Das ist das Fundament für die Einwanderungsgesellschaft. Vielleicht ist ein anderes Wort besser als das Wort Toleranz: Respekt. Toleranz hat manchmal etwas Unentschiedenes, etwas Gleichgültiges auch. Respekt ist daher besser, darin stecken Beachtung und Achtung. Dieser Respekt ist die wichtigste Tugend für das neue Deutschland. Integration basiert auf dem Respekt voreinander. Altbürger und Neubürger, Christen und Muslime, gläubige und nichtgläubige Menschen, die Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichsten Herkommens, müssen Respekt voreinander und füreinander haben. Das neue deutsche Motto lautet: Einigkeit, Respekt und Freiheit – gebettet auf ein gutes Recht. Vielleicht muss man, um diese neuen Zeiten anzukurbeln, einmal an ganz alte Zeiten erinnern. Es gab nämlich einmal eine Zeit, da waren die Deutschen die Türken der USA. Das ist gut 150 Jahre her. New York war damals, nach Berlin und Wien, die Stadt mit den meisten deutschsprachigen Menschen. Damals wanderten Jahr für Jahr gut hunderttausend Deutsche in die USA ein, 1854 waren es 215 000. Sie taten sich sehr schwer mit der Integration, blieben am liebsten unter sich: Die Deutschen bauten sich ihre eigenen Kirchen, kauften in deutschen Geschäften, lebten in deutschen Vereinen, gingen in deutsche Theater, trugen deutsche Trachten, kochten deutsches Essen und setzten sich gern in den Biergarten, zumal am Sonntag. Den eingesessenen amerikanischen Puritanern, die den Tag des Herrn fromm und leise zum Bibellesen nutzten, gefiel das überhaupt nicht. Sie erklärten die Biertrinkerei zu unamerikanischen Umtrieben und zogen in Wort und Tat gegen das deutsche Laster zu Felde. Die ausländerfeindliche, genauer gesagt die deutschfeindliche Stimmung wuchs zum Deutschenhass. Das deutsche Theater in New York wurde angezündet. Die Deutschen waren, wie gesagt, die Türken der USA. Die Streitpunkte damals waren natürlich nicht das Kopftuch, das Schächten, die Scharia und der Dschihad. Aber der Sammelvorwurf gegen die Deutschen lautete genauso wie der heute gegen Türken in Deutschland oder gegen Flüchtlinge: „Die integrieren sich nicht, die bleiben unter sich.“ In Chicago heizte eine ultra-konservative politische Partei namens „Americans only“ Ausländer raus - den Konflikt an, ihr Kandidat Dr. Levi Boone wurde Bürgermeister. Der neue Bürgermeister erhöhte die Alkoholsteuer um sechshundert Prozent und verbot den Bierausschank am Sonntag. Am ersten Sonntag nach dem Verbot, es war der 21. April 1855, schickte er die Polizei zur Kontrolle in die Wirtschaften. Als an die zweihundert . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 7 von 13 - deutsche Gäste und etliche Wirte wegen Zuwiderhandlung verhaftet und eingesperrt wurden, kam es zum deutschen Aufstand. „Beer Riots“ heißt das in den Archiven. Das klingt lustiger, als es war. Die Polizei schoss in die aufgebrachte Menge, aus der Menge wurde zurückgeschossen. Um ihre Interessen zu wahren, beteiligten sich die Einwanderer zunehmend an der Politik, Bürgermeister Boone wurde ein Jahr nach den Unruhen abgewählt, die Prohibition wieder aufgehoben. Aber Integration blieb eine mühsame Geschichte. Im Jahr 1859, als die deutschen Immigranten zum hundertsten Geburtstag von Friedrich Schiller im ganzen Land große Feste feierten, wurde in Chicago erstmals ein Deutscher zum Sheriff gewählt - ein Aufschrei bei den eingesessenen Amerikanern war die Antwort. „Wie schändlich wird es sein“, schrieb die Chicago Times, „wenn im vorkommenden Falle ein Deutscher einen Amerikaner hängen wird!“. Diese Geschichten sind, diese Geschichte ist kaum bekannt hierzulande. Es gibt keine Erinnerung. Die Auswanderung kommt im kollektiven deutschen Gedächtnis nicht vor, sie ist nicht Teil der erinnerten nationalen Geschichte. Wäre in Deutschland die eigene Auswanderungsgeschichte präsent, hätten die Probleme der Einwanderung und Integration wohl nicht so lange brachliegen können. Vielleicht hätten die Deutschen, ihre eigene Migrationsgeschichte vor Augen, nicht diese Heidenangst vor der Einwanderung gehabt und davor, das Kind beim Namen zu nennen; vielleicht hätten sie, statt den jahrelangen Glaubensstreit um das Wort „Einwanderungsland“ zu führen, sich der Probleme angenommen, die sich daraus für Deutschland ergeben; vielleicht wären sie einerseits gelassener, andererseits sensibler für die Erfordernisse der Integration gewesen - und vielleicht nicht so anfällig für einen deutschen Levi Boone, der im Jahr 2010 Thilo Sarrazin hieß; er prognostizierte, dass sich Deutschland „abschafft“, weil es zu viele angeblich integrationsunfähige Türken hat. In Deutschland wird viel über die Probleme der Einwanderung geredet, aber viel zu wenig über die Reichtümer und Schätze, die das Land dabei gewonnen hat. Private Initiativen und Stiftungen haben damit begonnen, die Lebensgeschichten der Einwanderer zu sammeln. Das hat wenig mit Sentimentalität zu tun; es geht vielmehr darum, sich die Quellen der jüngsten Geschichte zu sichern. Deshalb sind die Bemühungen um ein Migrationsmuseum in Deutschland kultur- und gesellschaftspolitisch so wichtig. Es gibt so viele kleine Geschichten, die auch davon erzählen, wie sich der Alltag in unserem europäischen Deutschland in wenigen Jahrzehnten verändert hat. . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 8 von 13 - Nicht nur die Einwanderer, nicht nur die Neubürger, sondern auch fast alle Altbürger haben ihre eigenen kleinen und großen Erlebnisse mit Migration. In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die mir die deutsche Auswanderung nach Amerika, nahegebracht hat. Sie ist zugleich mein journalistisches Urerlebnis: Ich war ein Bub von acht Jahren und saß neben meiner Großmutter am großen Küchentisch. Sie schrieb Briefe, mit Feder und Tinte, viele Briefe, und ich legte immer wieder das Löschblatt auf die Bögen. Großmutter also schrieb Brief um Brief in die Vereinigten Staaten, an alle, die irgendwann aus unserem oberpfälzischen Dorf ausgewandert waren. Sie suchte das Grab ihres Sohnes, der als Oberbootsmannsmaat der Kriegsmarine der Stolz des Dorfes gewesen war. Sein Unterseeboot U 85 war im Jahr 1942 vor der US-Küste torpediert worden, und sein Leichnam war, davon ging sie aus, aus dem Wasser gefischt worden. Sie schrieb also, viele Tage lang. Und Briefe kamen zurück in schon etwas ungelenkem Deutsch, von Leuten, die sich für Oma auf den Soldatenfriedhöfen umgeschaut hatten. Und eines Tages traf ein dickes Couvert mit Fotos ein, und Großmutter sagte lang nichts und streichelte nur die Kanten der Bilder. Man sah darauf einen weißen Grabstein und darauf steht: „Oskar Prantl“. Der Fotograf hatte eigens Urlaub genommen, war 800 Meilen weit gereist, hatte das Grab gefunden und einen Blumenstock hingestellt. Das war, im Dabeisitzen, meine erste journalistische Recherche. Einigkeit, Respekt und Freiheit. Es geht um das gute Miteinander der Kulturen und der Religionen in unserer Gesellschaft. Darf ich Ihnen auch dazu eine Geschichte erzählen, es ist eine Geschichte die Sie kennen, es ist die Dreikönigs-Geschichte; ich erzähle Sie in meiner Interpretation – weil sie dann zu einer Lehrgeschichte wird, zu Lehrgeschichte des Miteinanders in unserem Land. Die Dreikönigs-Geschichte macht mir seit Kindheits-Zeiten Freude - weil ich mir immer vorgesellt habe, wie die Könige vor dem Stall ankommen. Man muss sich das vorstellen: Wie der König Balthasar von seinem Elefanten herunterklettert, König Melchior von seinem Kamel, König Caspar von seinem Pferd – und wie die drei dann auf dem Weg zur Krippe ihre prächtigen langen Mäntel durch den Schafscheiß schleifen. Als Kind hat mir diese Vorstellung stets Vergnügen gemacht: Es liegt nun einmal viel Dreck auf einer Schafweide, auch dann, wenn ein geschweifter Leitstern den Weg dorthin gewiesen hat und soeben noch der Engel des Herrn bei den Hirten seinen glanzvollen Auftritt hatte. Die drei Könige kommen also ein wenig verdreckt an beim Jesuskind, und das gefiel mir eigentlich ganz gut; weil somit erstens bewiesen war, dass Sauberkeit selbst bei den allerheiligsten Angelegenheiten nicht das Wichtigste ist; zweitens weil die Könige nicht nur im echten, sondern auch im übertragenen Sinn herunterkommen mussten vom hohen Ross. . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 9 von 13 - Man steht nicht prunkend und protzend vor seinem Gott, auch wenn der derzeit in Windeln liegt. Heute wäre der Stall zu Bethlehem vielleicht ein Flüchtlingskahn auf dem Mittelmeer – und die Könige kämen in Rettungsbooten. Vielleicht stünde die Krippe auch in einem Erstaufnahmelager in Bayern oder in Baden. Die Geschichte von den Heiligen Drei Königen gehört zu den großen Erzählungen der Christenheit. Für das Volk waren die drei Könige mit ihrer phantastischen Menagerie jahrhundertelang so etwas wie ein religiöser Zirkus Krone: Das exotisch Fremde hielt seinen Einzug in die Frömmigkeit, und das zauberhaft Andere lagerte in der ansonsten vertrauten, weil ins Heimische transportierten biblischen Szenerie. Die Krippenschnitzer, die Fassmaler und Vergolder haben sich seit jeher mit den drei Königen am meisten Arbeit gemacht. Eine große biblische Basis hat dieser schöne Dreikönigskult nicht. Die Geschichte steht nur in einem der vier Evangelien, bei Matthäus, und auch dort ist nicht die Rede von Königen, sondern, je nach Übersetzung, von persischen Priestern, Magiern oder Sterndeutern. Aber aus den knappen Sätzen beim Evangelisten Matthäus haben Phantasie, Volksglaube und christlicher Symbolismus viel gemacht. Die drei Könige verkörpern, so steht es in der Heiligenlegende, die drei Lebensalter und die drei in der alten Zeit bekannten Kontinente. Ich bin nun kein Theologe, sondern Jurist … lassen Sie mich trotzdem eine neue Deutung versuchen, eine Deutung im Geiste der guten Bürgertugenden. Da machen sich drei Könige auf den Weg, auf die Suche nach Gott. Weil sie miteinander an der Krippe eintreffen, müssen sie sich irgendwo getroffen, verabredet und auch darüber gesprochen haben, wer was wie sucht und warum, was man schenkt und in welcher Haltung und Reihenfolge man sich dem Gesuchten nähert. Das ist der Dialog, der Trialog der Religionen – und dann sind Caspar, Melchior und Balthasar nicht, wie in der Legende, Vertreter von Erdteilen, sondern heute Repräsentanten der drei abrahamitischen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam. Ich weiß: Das Christentum war vor zwei Jahrtausenden erst im Entstehen; den Islam gab es noch nicht; es gab den Zoroastrismus, dem die „Weisen aus dem Morgenland” in der klassischen Exegese zugewiesen werden. In Konkurrenz zum Christentum stand in den ersten Jahrhunderten der zoroastrische Mithras-Kult und der Manichäismus; heute ist es der Islam. Gleichwohl. Die neue Interpretation der Dreikönigs-Geschichte könnte also sein: Man findet Gott nicht im Wettlauf, nicht im religiösen Wettkampf; man findet ihn miteinander. Gott findet der, der sich auf den Weg macht, sich ins Unbekannte führen lässt. Er findet ihn im Reden mit den Anderen und in der gemeinsamen Suche; manchmal muss dabei auch einer auf den anderen warten. Jeder König hat sein Schicksal hinter sich. Jeder kennt den . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 10 von 13 - Fundamentalismus in sich, den Glauben, die alleinige Wahrheit gepachtet zu haben. Jeder weiß, wie aus Monotheismus heiliger Nationalismus wird, der schlimmer war und ist als der politische. Gott wurde und Allah wird immer wieder zum Motiv einer angeblich um des Heils willen gerechtfertigten Gewalttätigkeit. Die Könige treffen also in prekärem Zustand aufeinander. Die Christen und auch die, die es einmal gewesen sind, tun sich schwer mit dem IslamDialog, oft auch deswegen, weil sie dem muslimischen Glaubensstolz und der Inbrunst vieler Muslime nicht viel entgegenzusetzen haben. Sie fürchten, dass die Zukunft der christlichen Vergangenheit verlorengeht. Die Auseinandersetzung mit den glaubensbewussten Muslimen macht vielen Westlern, ob gläubig oder nicht, ihre eigene Unkenntnis über die Grundlagen des Christentums klar. Die Angst vor dem Verlust der „christlichen Werte” ist ja hierzulande paradoxerweise gerade in jenen Milieus ausgeprägt, die von eben diesen Werten sonst wenig wissen wollen – während viele praktizierende Christen den interreligiösen Dialog suchen und pflegen. Ich meine: Gott ist der Gott, den auch der andere verehrt, aber jeder nennt ihn anders und jeder erkennt ihn anders, jeder preist ihn anders. Der eine baut ihm einen Glockenturm, der andere ein Minarett. Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden. Das ist ein bisher gescheitertes Jahrtausendprojekt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Wir haben es uns angewöhnt, über Europa zu mäkeln, wie es Schüler über die Schule tun. Wir haben es uns angewöhnt, über die Bürokratie von Brüssel zu klagen, über die Demokratiedefizite, über die Kosten, über den Wirrwarr der Richtlinien, über den Euro und die Rettungsschirme. Die Klagen sind berechtigt. Aber: Wir haben verlernt, das Wunder zu sehen. Europa ist ein Wunder. Dieses Europa der Europäischen Union ist das Beste, was Europa in seiner langen Geschichte passiert ist. Zuletzt in den Wochen der Ukraine-Krise und jüngst, in den Tagen des Gedenkens und Erinnerns an das Ende des Zweiten Weltkriegs, ist mir eine Kiste, eine Holztruhe eingefallen. An diese Truhe hatte ich schon lang nicht mehr gedacht. Sie stand einst im Zimmer meiner Großmutter – einer resoluten oberpfälzischen Bauersfrau, die 15 Kinder geboren hatte, also einige Kinder mehr, als die Europäische Union in den ersten dreißig Jahren ihrer Existenz Mitgliedsstaaten zählte. Großmutters wichtigste Erinnerungen waren in dieser Holztruhe verwahrt, auf welcher in Sütterlin-Schrift „Der Krieg“ stand. Darin befanden sich Briefe, die ihre Söhne und Schwiegersöhne von allen Fronten des Zweiten Weltkriegs nach Hause geschrieben hatten. . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 11 von 13 - Einer der vielen Briefschreiber war Soldat war in der deutschen 11. Armee unter General Erich von Manstein, die 1941/42 versuchte, Sewastopol auf der Krim zu erobern. Was würde Großmutter sagen, wenn sie noch lebte? „Schreib was, Bub“, würde sie sagen, „schreib was, dass es nicht wieder Krieg gibt“. Sie würde mir dann, wie so oft, nicht nur vom Zweiten, sondern auch vom Ersten Weltkrieg erzählen: Wie der Krieg auf einmal da war, vor hundert Jahren, mitten im schönsten August. Und dann würde sie vom großen „Wunder“ reden, das sie kaum glauben könne, wenn sie in die alte Kiste schaue. Man müsse dies’ Wunder hüten wie ein rohes Ei: das Wunder Europa nämlich. Im Altertum gab es sieben Weltwunder: Die hängenden Gärten der Semiramis; den Koloss von Rhodos; das Grab des Königs Mausolos; den Leuchtturm auf der Insel Pharos; die Pyramiden von Gizeh; den Tempel der Artemis in Ephesos und die Zeusstatue von Oympia. Heute gibt es das Europäische Parlament. es ist die weltweit einzige direkt gewählte supranationale Institution. Die demokratische Versammlung der Europäer ist ein Weltwunder. Dieses Europaparlament ist aber zugleich das einzige demokratische Parlament weltweit, das unablässig an Zustimmung verliert. Es ist ein makabres Wunder: Seit der ersten Europawahl vor 35 Jahren nimmt die Wahlbeteiligung ständig ab, in Deutschland war es 2014 zum ersten Mal wieder anders – vielleicht deswegen, weil die Sozialdemokraten und Sozialisten einen deutschen Spitzenkandidaten hatten und dieser Spitzenkandidat im Wahlkampf auch besonders herausgestellt wurde. Es ist schon ein europäisches Paradoxon: Je wichtiger dieses Parlament geworden ist, und es ist wirklich wichtiger geworden (wenn auch noch immer nicht wichtig genug) - umso weniger wird es von Europäern wichtig genommen. In dem Maß, in dem das Parlament an Einfluss gewonnen hat, hat es seine Basis verloren. Deshalb ist die Mobilisierung von Vertrauen in eine bessere, in eine geläuterte EU so wichtig: Europa muss sozial, bürgernah, menschlich werden. Europa muss Heimat werden für die Menschen. Europa darf nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft sein, es muss Bürgergemeinschaft sein. Es darf nicht nur Nutzgemeinschaft für Industrie und Banken sein, es muss Schutzgemeinschaft für die Menschen werden. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester sozialer Politik. Eine solche handfeste soziale Politik brauchen wir. Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden, einen gemeinsamen Weg gehen. Das sind deutsche, das müssen europäische Bürgertugenden sein, ob man nur religiös ist oder nicht. . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 12 von 13 - Mit fällt dazu ein Gespräch ein, das ich vor zwanzig Jahren mit dem alten und weisen, bald darauf verstorbenen Wiener Kardinal Franz König geführt habe: Er hat damals – es wurde gerade in Österreich ein sehr anti-islamischer Wahlkampf geführt - betont, wie tief die Türkei und der Islam hineinragen „in die Geschichte dessen, was wir Europa nennen”- so dass wir das „unmöglich ausschließen können ”. Der alte Kardinal warb schlicht und eindringlich für die Aufnahme der Türkei in die EU: „Christentum und Islam, Europa und Türkei müssen miteinander leben, nicht nebeneinander.” Der alte weise Mann formulierte einen europäisch-programmatischen Satz: „Wir haben so viele verschiedene Kulturen auf heimatlichem Boden. Dieser Reichtum darf nicht nivelliert werden; er muss das vereinte Europa prägen“. Bisweilen hat auch ein Kardinal vollkommen und unbedingt und ohne jede Abstriche recht. Genau so ist es. Der Reichtum der Sprachen, der Kulturen, der Traditionen, der Religionen er muss hineingenommen werden in unser Deutschland und in die Europäische Union. Das ist Willkommenskultur. Das ist moderne Demokratie. Das ist Europa. Das bringt Frieden. Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter der Redaktion Innenpolitik . . 76402 Rastatt Pressestelle der Stadt Rastatt Postfach 12 63 Fax: 07222/972-1399 [email protected] Telefon: 07222/972-1300, -1301 . . Seite 13 von 13 -
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