Kapitel 8
Kinetische Gastheorie
Die Anfänge der kinetischen Gastheorie gehen auf D ANIEL B ERNOULLI zurück. Er hat bereits
den Gasdruck aus der Impulsänderung der auf die Gefäßwände stoßenden Gasmoleküle abgeleitet. Die weitere Entwicklung ist mit Namen C LAUSIUS , M AXWELL und insbesondere LUD WIG B OLTZMANN verbunden. Er gab dem Maxwellschen Gesetz der Geschwindigkeitsverteilung seine allgemeinste Form. Wir werden in diesem Kapitel berücksichtigen, dass Stoffe aus
Atomen und Molekülen aufgebaut sind. In Verbindung damit muss die Brownsche Molekularbewegung erwähnt werden. Dieses Phänomen ist wohl der beste Beweis für die molekularkinetische These.
8.1
Zustandsgleichung des idealen Gases
Wir betrachten ein kleines Flächestück ∆A des das ideale Gas umschließenden Behälters. Es
erfährt eine ungeheure Anzahl Stöße durch den Aufprall der eingeschlossenen Partikel. Die
auf ein Flächenelement der Berandung wirkende Kraft ist als Funktion der Zeit eine vielzackige Kurve. Der geglättete zeitliche Mittelwert derselben definiert den Druck (Kraft pro Flächeneinheit). Der Beitrag des einzelnen Stoßes ist gleich der Impulsänderung des Partikels
beim Aufprall und der nachfolgenden Reflektion. Wenn der Stoß mit der Geschwindigkeit v
unter dem Winkel θ gegen die Normale des Flächenstückes erfolgt, dann erhält man für die
Impulsänderung den Wert
∆p = 2mv · cos θ.
(8.1)
Hier rührt der Faktor 2 vom Rückstoß her, den die Wand bei der Reflektion erfährt (Reflektionswinkel = Einfallswinkel). Wählen wir das Koordinatensystem so, dass die x-Achse parallel
zur Wandnormalen und nach außen gerichtet ist, dann können wir auch schreiben
∆px = 2mvx ,
105
vx > 0.
(8.2)
8. Kinetische Gastheorie
8.1. Zustandsgleichung des idealen Gases
106
Es sei nun f (x , v ) die Dichte von nicht-wechselwirkenden Teilchen im Orts-und Geschwindigkeitsbereich. Dies bedeutet, dass f (x , v )d3 xd3 v die im Volumenbereich d3 x um x und im
Geschwindigkeitsbereich d3 v um v enthaltenen Teilchen charakterisiert. Die Dichte der Teilchen im Ortsraum ist dann gleich
Z
n(x ) = f (x , v ) d3 v,
(8.3)
und die Dichte der Teilchen im Geschwindigkeitsraum ist
Z
ñ(v ) = f (x , v ) d3 x.
(8.4)
Für ein System von wechselwirkenden Teilchen würde man eine Wahrscheinlichkeitsdichte
F (x1 , v1 ; . . . ; xN , vN )
(8.5)
einführen, die angibt wie wahrscheinlich es ist, das i’te Teilchen am Orte xi mit Geschwindigkeit vi zu finden. Klassisch sind die Teilchen unterscheidbar und können gekennzeichnet
werden. Für nicht-wechselwirkende Teilchen ist die Wahrscheinlichkeit für das Auffinden eines Teilchen unabhängig von den Koordinaten der anderen Teilchen. Dies bedeutet, das die
Dichte F faktorisiert,
F (x1 , v1 ; . . . , xN , vN ) =
N
Y
fi (xi , vi ).
(8.6)
i=1
Handelt es sich um eine Sorte Teilchen, zum Beispiel ein verdünntes Gas von H-Atomen,
dann wird f1 = f2 = . . . = fN gelten. Die obige Funktion f (x , v ) ist dann gerade N f1 (x , v ).
Wir wollen nun annehmen, dass die Teilchen nicht wechselwirken und von der gleichen
Sorte sind. Die Anzahl der das Flächenelement ∆A am Ort x pro Zeiteinheit treffenden Teilchen mit Geschwindigkeit um v ist proportional zur Teilchengeschwindigkeit vx senkrecht
zum Flächenstück, zur Größe des Flächenstück ∆A und zur Anzahl Teilchen f d3 v mit Geschwindigkeit um v :
dν = f (x , v )∆A vx d3 v.
(8.7)
Nach Multiplikation mit (8.2) entsteht der zugehörige Impulsübertrag pro Zeiteinheit der
Teilchen mit Geschwindigkeiten um v ,
2mf (x , v )∆A vx2 d3 v,
(8.8)
und nach Division durch ∆A den Beitrag der betrachteten Teichengruppe zum Druck,
dp = 2mf (x , v )vx2 d3 v,
————————————
A. Wipf, Thermodynamik und Statistische Physik
vx > 0.
(8.9)
8. Kinetische Gastheorie
8.1. Zustandsgleichung des idealen Gases
107
Daraus ergibt sich nach Integration über die Geschwindigkeiten mit vx > 0 als Gesamtdruck
Z
f (x , v )vx2 d3 v.
(8.10)
p(x ) = 2m
vx >0
R
Dividieren wir nun das letzte Integral durch n+ = vx >0 f (x , v )d3 v, dann ist der resultierende
Ausdruck gleich dem Mittelwert von vx2 . Im Mittel ist die Anzahl Teilchen mit Geschwindigkeiten vx und −vx gleich groß und deshalb ergibt sich für den Wanddruck am Orte x der
Ausdruck
Z
1
p(x ) = mn(x )hvx2 i mit hvx2 i =
d3 vf (x , v ) vx2 .
(8.11)
n R3
In Abwesenheit von elektrischen, magnetischen oder Schwerefeldern ist ein thermodynamischer Gleichgewichtszustand homogen. Deshalb wird weder die Verteilungsfunktion f noch
der Druck p von x abhängen. In Abwesenheit von Feldern ist der Gleichgewichtszustand auch
isotrop und f (v ) wird nicht von der Richtung von v abhängen, f (v ) = f (v) mit v = |v |. Dann
folgt sofort
1
hvx2 i = hvy2 i = hvz2 i = hv 2 i.
3
(8.12)
Somit entsteht der Ausdruck
p=
mn 2
2
hv i = nhEtr i.
3
3
(8.13)
Hier ist Etr die kinetische Energie der Translation eines Teilchens. Diese Gleichung führt auf
eine kinetische Erklärung des Drucks. Sie führt aber auch zu einer kinetischen Erklärung der
Temperatur eines idealen Gases. Um dies zu sehen, setzen wir
n=
N
,
V
(8.14)
wobei N die Gesamtzahl der Teilchen im Volumen V ist. Aus (8.13) wird dann
2
pV = N hEtr i.
3
(8.15)
Spezialisieren wir auf ein Mol eines idealen Gases, so folgt nach dem Vergleich mit dem idealen Gasgesetz
2
pV = NA hEtr i = RT = NA kT,
3
wobei k die früher eingeführte Boltzmannsche Konstante ist, oder aufgelöst nach der mittleren kinetischen Energie,
3
hEtr i = kT.
2
————————————
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(8.16)
8. Kinetische Gastheorie
8.2. Die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung
108
Die Translation hat im dreidimensionalen Raum drei Freiheitsgrade. Wir können daher die
Aussage (8.17) auch folgendermassen ausdrücken: Die mittlere kinetische Energie pro Freiheitsgrad ist
hEfr i =
1
kT.
2
(8.17)
Dieser Ausdruck verknüpft die Temperatur eines einatomigen Gases mit der mittleren kinetischen Energie seiner Moleküle. Eine Erhöhung der Temperatur beschleunigt die Moleküle.
Die Mittelwerte von vx , vy und vz sind wegen der Isotropie des Geschwindigkeitsraumes Null.
Experimentell zugänglich ist uns als Geschwindigkeitsmaß die Größe
hv 2 i1/2 .
(8.18)
Sie ist nur von der Temperatur und nicht vom Druck abhängig. Aus (8.16) folgt
3
m 2
hv i = kT
2
2
oder
NA m 2
3
hv i = RT.
2
2
(8.19)
NA m ist das Gewicht µ des Mols, so dass sich das mittlere Quadrat der Teilchengeschwindigkeit gemäß
hv 2 i =
3RT
µ
(8.20)
aus makroskopischen Daten berechnet. Für Wasserstoff ist µ = 2 kg/kmol. Mit T = 273◦ K
und dem Wert (1.38) für die universelle Gaskonstante erhalten wir
hv 2 i =
3
m2
· 8.31 · 273 · 103 2 .
2
s
Daraus folgt
p
hv 2 i ≈ 1, 85
km
.
s
(8.21)
Die Geschwindigkeiten der Moleküle sind schon bei 0◦ C erstaunlich hoch. Sie wachsen mit
der Wurzel aus der absoluten Temperatur.
8.2
Die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung
Für ein homogenes nicht-wechselwirkendes Gas ist die Verteilungsfunktion ortsunabhängig,
f (x , v ) = f (v ): Greifen wir aus dem Gas willkürlich ein Teilchen heraus, so hat dieses irgendeine Geschwindigkeit v , und wegen der Homogenität spielt es keine Rolle, wo wir das
Teichen herausgreifen. Wir sprechen von der Wahrscheinlichkeit, dass dabei die erste Komponente von v im Bereich zwischen vx und vx +dvx liegt und nennen diese Wahrscheinlichkeit
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A. Wipf, Thermodynamik und Statistische Physik
8. Kinetische Gastheorie
8.2. Die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung
109
g(vx )dvx . Da keine Richtung im Raum bevorzugt ist finden wir für die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten der anderen Geschwindigkeitskomponenten g(vy )dvy und g(vz )dvz . Wir wollen nun mit Maxwell annehmen, dass die Verteilung von vx von den Werten von vy und vz
unabhängig ist. Unter dieser Annahme ist die Wahrscheinlichkeit, die Geschwindigkeit v in
dem Element d3 v = dvx dvy dvz um v zu finden gleich
g(vx )g(vy )g(vz ) d3 v.
(8.22)
Anderseits ist im isotropen Medium keine Richtung ausgezeichnet und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, die Geschwindigkeit v in dem Element d3 v = dvx dvy dvz um v zu finden auch
f (v)d3 v,
v = |v |.
(8.23)
Wir schließen, dass
f (v) = g(vx )g(vy )g(vz )
(8.24)
gilt. Wir leiten diese Identität nach vx ab und dividieren durch f . Wegen ∂v/∂vx = vx /v führt
dies auf die Gleichung
f 0 (v)
g 0 (vx )
=
.
v f (v)
vx g(vx )
Die rechte Seite hängt weder von vy noch von vz ab. Deshalb muss die linke (und damit auch
die rechte) Seite konstant sein, f 0 (v) = −γ vf (v). Die Lösung dieser Differentialgleichung ist
eine Gaußsche Verteilung
f (v) =
γ 1/2
γ 3/2
2
2
· e−γv /2 ⇐⇒ g(vx ) =
· e−γvx /2
2π
2π
(8.25)
Der multiplikative Faktor ist eine Integrationskonstante und wurde so gewählt, dass f und g
Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind. Um die freie Konstante γ festzulegen, berechnen wir
die mittlere kinetische Energie des Freiheitsgrades vx :
γ 1/2 Z ∞
m 2
m
2
vx2 e−γvx /2 dvx =
hvx i =
.
(8.26)
2
2π
2γ
−∞
Setzen wir dies nach (8.17) gleich kT /2, so ergibt sich γ = m/kT . Eingesetzt in (8.25) gewinnen wir folgende Verteilungsfunktion für jede kartesische Komponenten der Geschwindigkeit,
g(vx ) =
m 1/2
2
e−mvx /2kT ,
2πkT
(8.27)
beziehungsweise für das Quadrat der Geschwindigkeit,
f (v) =
m 3/2
e−E/kT ,
2πkT
————————————
A. Wipf, Thermodynamik und Statistische Physik
E=
m 2
v .
2
(8.28)
8. Kinetische Gastheorie
8.2. Die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung
110
Hier ist E gerade die kinetische Energie des sich mit der Geschwindigkeit v bewegenden
Teilchens. Dies ist das Maxwell-Boltzmannsche Verteilungsgesetz für Geschwindigkeiten. Die
Geschwindigkeiten sind nach einer Gaußschen Glockenkurve verteilt. Bei Erhöhung der Temperatur verbreitert sich die Kurve und wird flacher. Folglich wächst mit der Temperatur die
Wahrscheinlichkeit, Moleküle mit hoher Geschwindigkeit zu finden.
Um die Verteilung des Betrags der Geschwindigkeit v festzulegen betrachten wir den Mittelwert für eine beliebige Funktion h(v). Benutzen wir Kugelkoordiaten im Geschwindigkeitsraum, so ergibt sich nach Integration über die Winkel
Z ∞
Z
Z ∞
2
3
dv h(v)ϕ(v).
dvv h(v) f (v) ≡
hh(v)i = d v h(v)f (v) = 4π
0
0
Offensichtlich ist die Funktion
ϕ(v) = 4πv 2
m 3/2
e−E/kT
2πkT
(8.29)
genau die gesuchte Wahrscheinlichkeitdichte für v. Im Gegensatz zur Verteilungsfunktion
g(vx ) ist sie keine reine Glockenkurve mehr.
g(vx )
ϕ(v)
vx
v
Sie fällt zwar wie die Gaußsche Glockenkurve für große v exponentiell ab, für kleine v verschwindet sie aber nur quadratisch. Das Maximum der Verteilung ϕ berechnet sich aus der
Gleichung ϕ0 (v) = 0 nach
vw =
2kT
m
1/2
(wahrscheinlichste Geschwindigkeit).
(8.30)
Sie ist verschieden vom Mittelwert der Geschwindigkeit
∞
Z
hvi =
dv vϕ(v) =
0
8kT
πm
1/2
(8.31)
aber auch verschieden vom Geschwindigkeitsmaß
2 1/2
hv i
=
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A. Wipf, Thermodynamik und Statistische Physik
3kT
m
1/2
.
(8.32)
8. Kinetische Gastheorie
8.2. Die Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung
111
Das Verhältnis der drei Erwartungswerte ist
vw : hvi : hv 2 i1/2 = 1 : 1, 13 : 1, 22.
(8.33)
Eine experimentelle Bestätigung der Maxwell-Verteilung findet man in der mit der Temperatur zunehmenden Breite der Spektrallinien eines leuchtenden Gases. Sie rührt vom Dopplereffekt, hervorgerufen durch die thermischen Bewegung der Leuchtatome. Neben dem Dopplereffekt kommt noch die Verbreiterung der Spektrallinien durch Druck in Betracht. Bei nicht
allzu tiefen Temperaturen ist die natürliche Linienbreite vernachlässigbar.
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A. Wipf, Thermodynamik und Statistische Physik