Alles war gut«: Zur Konzeption von Person, Familie und

Bestseller des 21. Jahrhunderts
»Alles war gut«:
Zur Konzeption von Person, Familie und Erzählen in
J.K. Rowlings Harry Potter und die Heiligtümer des
Todes (2007)
Jan-Oliver Decker
1. Vorbemerkungen
Die weltweite Verbreitung der Romane J.K. Rowlings und ihre multimediale
Rezeption durch ihre Verfilmung und im Internet in zahlreichen Blogs, Lexika,
Fansites und Fanfictions sprechen ebenso wie die zahllosen Events bei Erscheinen
der Bücher dafür, dass das von Rowling entworfene Universum Harry Potter
gesellschaftlich relevante Werte und Normen vermittelt.1 Seien es nun einfach nur
1 Vgl. zur Erfolgsgeschichte der Heptalogie einführend Melissa Anelli: Das Phänomen Harry Potter. Alles über einen jungen Zauberer, seine Fans und eine magische
Erfolgsgeschichte. Mit einem Vorwort von J. K. Rowling. Aus dem Amerikanischen von
Gaby Wurster. Hamburg 2009, die als ehemalige Webmasterin des größten Fan-basierten
Internetlexikons (www.thw-leaky-cauldron.org) den optimalen Stand des kulturellen
Wissens über das Harry Potter-Universum zusammenfasst. Vgl. aus einer marketingorientierten Bestseller-Forschung Sandra Bak: Harry Potter. Auf den Spuren eines zauberhaften Bestsellers. Frankfurt am Main 2004. Immer noch grundlegend aus einer traditionellen Perspektive (Autorenintention) sei zur Einführung im Überblick auf Paul
Bürvenich: Der Zauber des Harry Potter. Analyse eines literarischen Welterfolgs. Frankfurt am Main 2001, verwiesen. Ein Resümee der populärkulturellen Nachhaltigkeit
versucht eklektizistisch der Sammelband von Olaf Kutzmutz (Hg.): Harry, hol schon mal
den Besen! Ein Kehraus nach zehn Potter-Jahren. Wolfenbüttel 2009, der schon zuvor mit
Olaf Kutzmutz (Hg.): Harry Potter oder Warum wir Zauberer brauchen (Wolfenbütteler
Akademie-Texte Band 5).Wolfenbüttel 2001, aus einer interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Perspektive den ersten Tagungs-Sammelband im deutschsprachigen Raum
vorlegte. Die Relevanz der Harry Potter-Romane im Rahmen kultureller Werte- und
Normenvermittlung zeigt sich auch an der Flut der Unterrichtsentwürfe und der didaktischen Literatur; vgl. beispielsweise sowohl Corinna Cornelius: Harry Potter – geretteter
Retter im Kampf gegen dunkle Mächte? Religionspädagogischer Blick auf religiöse Implikationen, archaisch-mythologische Motive und supranaturale Elemente (Religion und
Biographie Band 8). Münster 2003, als auch die Diskussion lange bestimmend Jörg
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ökonomische Interessen, seien es subversive Aneignungsformen oder seien es
karnevaleske Heterotopien2 : Dass die Gesellschaft Rowlings in den Büchern
fundierte Bedeutungsangebote medial und lebenspraktisch adaptiert, transformiert und umkodiert und diese kulturell und sozial vielfältig zirkulieren lässt,
eröffnet den Fragehorizont i) nach den gesellschaftlich relevanten Werten und
Normen in den Romanen, welche die multimediale Rezeption fundieren und ii)
nach den mentalitätsgeschichtlichen Funktionen, die diese unterschiedlichen
medialen Verarbeitungen des Universums Harry Potter übernehmen. Der Erfolg
der Reihe liegt dabei sicher auch in einem konsequenten Marketing des Konzerns
Warner Brothers.3 Das jedoch, was vermarktet wird, muss trotz aller oberflächlichen Realitätsferne der vorgeführten magischen Fantasy-Welt4 repräsentative
Werte und Normen einer Kultur vermitteln und die Rezipienten (wenn auch nicht
voll bewusst) affizieren und in ihren kulturellen Wissenshorizont eingebunden
Knobloch (Hg.): Harry Potter in der Schule. Didaktische Annäherungen an ein Phänomen. Mühlheim an der Ruhr 2001, sowie Katrin Nothdorf: Kopiervorlagen und Materialien zu Harry Potter und der Stein der Weisen. Deutsch 5. – 7. Schuljahr. Berlin 2001.
2 Vgl. zum Begriff der Heterotopie als kulturell legitimierter Frei- und Gegenraum
zum bestehenden Werte- und Normensystem bekanntermaßen Michel Foucault: Die
HeACHTUNGREteACHTUNGREroACHTUNGREtopien/Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe.
Frankfurt am Main 2005 [zuerst 1967]; vgl. zur Funktion des Karnevals als temporärer
Heterotopie Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und
Lachkultur. Frankfurt am Main 1985.
3 Vgl. zu den Marketingstrategien des Konzerns WB für das Harry Potter-Universum
aus der (Meta-) Perspektive der Bestsellerforschung auf das Gesamtphänomen Harry
Potter zuerst Ingrid Tomkowiak: »Vom Weltbürger zum Global Player. ›Harry Potter‹ als
kulturübergreifendes Phänomen«, in: Fabula 44, 1/2 (2003) S. 79 – 97, und zuletzt Ina
Karg/Iris Mende: Kulturphänomen Harry Potter. Multiadressiertheit und Internationalität
eines nationalen Literatur- und Medienevents. Göttingen 2010. Vgl. einführend Ursula
Bergenthal: Des Zauberlehrlings Künste. »Harry Potter« als Beispiel für literarische
Massenkommunikation in der modernen Mediengesellschaft. Göttingen 2008. Vgl. für die
ersten vier Romane Sylvia Derra: Die Rezeption der Harry-Potter-Bücher. Beschreibungen, Analysen, Erklärungsansätze. Saarbrücken 2009. Vgl. die aus Sicht des Hochschullehrers bemerkenswert große Fülle an Haus-, Diplom- und Abschlussarbeiten, für
die hier nur exemplarisch Stephanie Preiser: »Zauberhaftes Kassenklingeln«. Die Vermarktung von J. K. Rowlings Harry Potter – Eine Untersuchung der Wandlung eines
literarischen Produkts zur gesellschaftlichen Einflußgröße. Diplomarbeit im Studiengang
Sprachen- Wirtschafts- und Kulturraumstudien zur Vorlage am Lehrstuhl für Englische
Literatur und Kultur bei Herrn Prof. Dr. Jürgen Kamm. Universität Passau 2002, genannt
sei.
4 Vgl. zum Terminus Fantasy einführend Hans Krah: »Phantastisch«, in: Reallexikon
der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar/Harald Fricke/Jan-Dirk
Müller. Berlin/New York 32003, Band III, S. 68 – 71, sowie Marianne Wünsch: »Phantastische Literatur«, in: Ebd., S. 71 – 74.
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Zur Konzeption von Person, Familie und Erzählen bei Harry Potter
werden können. Als semiotisches Konstrukt modelliert Literatur wie jeder mediale Text eine zwar eigene virtuelle Welt mit eigenen Wert- und Normvorstellungen und eigenen Grenzsetzungen und Unterscheidungen, die von den kulturell vorhandenen Realitätskonstruktionen abweichen können. Die Leistung solcher im Sinne Jurij M. Lotmans sekundärer semiotischer Systeme5 liegt in einem
rhetorisch-metaphorischen Sinne aber darin, dass konkrete Sachverhalte in der
dargestellten Welt über semiotische Operationen als Träger für nicht-konkrete
Sachverhalte, für Tiefenthemen, fungieren können.6 Die medial dargestellte Welt
ist semantisiert und in diesem Sinne ein Projektionsraum für andere kulturelle
Sachverhalte. Auf diese Weise leisten Medien als kulturelle Selbstreproduktionen
mit Hilfe medial inszenierter Welten, kulturelle Gemeinschaft zu stiften und
damit im weitesten Sinne ordnungsstiftend und damit sinnstiftend der Selbstverständigung einer Kultur über sich selbst zu dienen.
In diesem Sinne möchte ich mich in meine Ausführungen vor allem auf die
Werte und Normen in der dargestellten Welt der Romane von J.K. Rowling und
hier besonders auf den letzten Band Harry Potter und die Heiligtümer des Todes
(Harry Potter and the Deathly Hallows) konzentrieren. Davon ausgehend möchte
ich die mentalitätsgeschichtliche Funktion der Romane skizzieren und diese abschließend im Feld ausgewählter medialer Verarbeitungen Harry Potters situieren. Im Folgenden betrachte ich das Harry Potter-Universum dabei als Metapher
für einen modellhaften Sozialisationsverlauf: Die Romane führen vor, wie Harry
seine soziale Identität gewinnt, indem er in der Auseinandersetzung mit Familie,
Freunden und Institutionen Werte und Normen verinnerlicht und auf diese Weise
in einer massiv mit Konflikten aufgeladenen Sozialordnung in eine modellhafte
Wertewelt hineinwächst. Dabei verhandeln die Harry Potter-Romane mittels des
Erzählten i) die Frage nach der Autonomie und Identität der Person oder ihrer
Heteronomie und Abhängigkeit. Die Romane vermitteln damit verbunden ii) ein
traditionelles Familienmodell als universalen moralischen Wert; iii) wird –
durchaus selbstreflexiv – das Erzählen und der Umgang mit Sprache genau dafür
funktionalisiert, diese Universalisierung des Wertes biologischer Familie zu verschleiern; auf diese Weise übernimmt iv) das literarische Medium innerhalb der
verschiedenen Medien, welche die Welt von Harry Potter aufgreifen, eine eigenständige mentalitätsgeschichtliche Funktion, von der sich die anderen Medien
(v. a. Internet und Spielfilm) abgrenzen.
5 Vgl. zur Klasse der sekundären Modell bildenden semiotischen Systeme Jurij M.
Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 41993 [zuerst 1972].
6 Vgl. methodisch dazu einführend Michael Titzmann: »Semiotische Aspekte der
Literaturwissenschaft«, in: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hg.):
Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur
und Kultur, Bd. 13.3. Berlin/New York 2003, S. 3028 – 3103 und Hans Krah: Einführung in
die Literaturwissenschaft/Textanalyse. Kiel 2006.
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2. Autonomie vs. Heteronomie und die Konzeption der Person
Wenn man sich mit der erzählten Fantasy-Welt der Harry Potter-Romane beschäftigt, muss man sich auch mit den idiosynkratischen Sprachschöpfungen und
Terminologien Rowlings konfrontieren, die wesentlich dazu beitragen, die magische Welt Harry Potters als betont eigenständige, fiktionale Welt von Roman zu
Roman auszubauen.7 Dabei ist die von Rowling entwickelte fiktionale Welt nur in
ihrer begrifflichen Auskleidung zunächst fremd. Die vorgeführten Inhalte stellen
sich dagegen als bekannte Erzählmuster und vertraute Wertewelten heraus.8
Der böse Magier Voldemort, der Antagonist Harrys, repräsentiert den Anspruch eines Subjekts auf eine absolute, totale Autonomie: Unabhängig von jeder
familiären oder einer anderen sozialen und emotionalen Bindung strebt Voldemort die Herrschaft über die Zaubererwelt und die Welt der nicht magischen
Menschen an, der so genannten Muggel. Dabei steht besonders Voldemorts Bemühen um Unsterblichkeit für sein Streben nach absoluter Autonomie. Seine
Ziele nach Allmächtigkeit und Unsterblichkeit lassen sich leicht als Streben nach
Gottgleichheit lesen. Auch wenn Voldemort sich selbst dabei immer wieder als
Person präsentiert, die am weitesten in die Geheimnisse der Magie vorgedrungen
ist und sich als dritte göttliche Eigenschaft Allwissenheit zuweist, inszenieren die
Romane auf dem Fundament der Wissensmengen und der Informationsvergabe
gleichzeitig auch die Hybris von Voldemorts Autonomiestreben, die durch Harry
schließlich bestraft wird. In seiner Verblendung, alles Wichtige über Magie zu
wissen, weiß Voldemort eben nicht alles:
i) Voldemort weiß bis fast zuletzt nicht, dass Harry weiß, dass Voldemort
zwecks angestrebter Unsterblichkeit seine Seele in sieben Teile aufgespalten und
sechs Teile davon in sechs Gegenständen, so genannten »Horkruxen«, aufbewahrt, die Harry nacheinander zerstört; ii) Voldemort weiß nicht, dass sein ihm
angeblich treu ergebener Todesser Snape ein Doppelagent für die gute Seite ist;
iii) Voldemort weiß nicht, dass der mächtigste aller Zauberstäbe, den er aus dem
Grab Dumbledores gestohlen hat, nur eines von drei Heiligtümern des Todes ist,
deren Verfügungsgewalt sich Harry im Verlauf des siebten Bandes aneignet. Nur
mit Wissensvorsprung kann Harry Voldemort schließlich im siebten und letzten
Band der Heptalogie besiegen.
7 Vgl. einführend die Erklärungen von Rowlings Welt durch Michael Maar: Hilfe für
die Hufflepuffs. Kleines Handbuch zu Harry Potter. München 2008; vgl. außerdem die
ungeheure Produktivität der Fans zur Erklärung der literarischen Welt Rowlings, bspw.
die Internet-Lexika www.the-leaky-cauldron.org, www.harrypotter-xperts.de, www.harrypotterwiki.de/wiki/Hauptseite.
8 Vgl. zur Verschmelzung verschiedener Erzählmodelle, Sagenstoffe und Mythen bei
Harry Potter einführend Claudia Fenske: Muggles, Monsters and Magicians. A Literary
Analysis of the Harry Potter Series. (Kulturelle Identitäten. Studien zur Entwicklung der
europäischen Kulturen der Neuzeit 2). Frankfurt am Main 2008.
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Zur Konzeption von Person, Familie und Erzählen bei Harry Potter
Wissen ist in den Harry Potter-Romanen ein elitäres Gut, welches durch die
Adaption des Erzählmodells der Detektivgeschichte geschickt auf der Oberfläche
der Handlung inszeniert wird.9 Die Elitarisierung von Wissen und ihre Bedeutung
für Autonomie und Identität der Person zeigt insbesondere die Person Harry
Potter selbst: Die Wissensmengen, die Harry im Kampf gegen Voldemort helfen,
müssen von ihm – wie in der Detektivgeschichte üblich – mühevoll dekodiert und
schließlich von ihm internalisiert werden. Die Hereinnahme der relevanten
Wissensmengen in Harrys Person geht dabei mit einer Tilgung der Vermittler
dieses Wissens einher.
Dies zeigt sich vor allem an Harrys Mentor, dem Zaubermeister Albus
Dumbledore und an Harrys fiesem Lehrer für Zaubertränke Severus Snape.
Bevor Snape im siebten Band durch Voldemorts Hand stirbt, hinterlässt er Harry
auf magische Weise seine Substanz gewordenen Erinnerungen, in die Harry
eintaucht. Diese Erinnerungen decken vor allem auf, dass Harrys vermeintlicher
Feind Snape aus Liebe zu Harrys Mutter Lily, die von Voldemort in der Vorgeschichte getötet wurde, sein ihm immer treuer Freund und Helfer war. Diese
Erinnerungen offenbaren als letztes geheimes Wissen, dass Harry selbst ein
Horkrux ist, den Voldemort unwissentlich und ungewollt geschaffen hat, als der
erste Todesfluch gegen Harry in der Vorgeschichte auf Voldemort zurückgeprallt
ist, weil sich Harrys Mutter Lily für ihren Sohn geopfert hat. Diese Erinnerungen
belehren Harry darüber, dass er sich selbst von Voldemort töten lassen muss, um
diesen Teil von Voldemorts Seele in seiner Person zu vernichten. Harry muss sich
um der größeren, kollektiven Aufgabe willen – nämlich der Tilgung des Bösen –,
freiwillig und ohne Gegenwehr selbst opfern.
Als Voldemort versucht, Harry am Ende des siebten Bandes das zweite Mal
mit dem Todesfluch zu töten, fallen beide dann in einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod. In der Nahtoderfahrung begegnet Harry schließlich in
seinem Kopf seinem verstorbenen Mentor Albus Dumbledore, der Harry die
letzten Geheimnisse offenbart: Als Voldemort im vierten Band der Heptalogie
wieder auferstanden ist, hat er dies nur mit dem Raub von Harrys Blut zu Wege
gebracht: Ein Teil von Harrys Körper ist Bestandteil von Voldemort. So lange
dieser Teil Harrys in Voldemort lebt, kann Harry nicht sterben. Allerdings hat
Voldemort nun mit dem zweiten Todesfluch den Bestandteil seiner Seele in Harry
vernichtet. Wenn nun nur noch der Teil von Voldemorts Seele lebt, der in dessen
eigenem Körper wohnt, dann kann mit dem Tod dieses Körpers Voldemort
endgültig besiegt werden.
Die Austauschprozesse zwischen Harry und Voldemort thematisieren offensichtlich die Frage nach der Individualität, Identität und Eigenständigkeit der
Person auf einer asymmetrischen Basis: Um Horkruxe zu bilden – so die magische
Regel – muss Voldemort seine Seele durch einen Mord immer wieder in zwei Teile
9 Vgl. einführend zur Detektivgeschichte Jochen Vogt (Hg.): Der Kriminalroman.
Poetik, Theorie, Geschichte. München 1998.
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reißen und einen der Teile an einen diesseitigen Gegenstand binden. Voldemorts
Autonomieversuche bedingen die Aufteilung und wie es immer wieder heißt die
»Verstümmelung« seiner Seele zu Fragmenten und Bruchstücken. Auch äußerlich
sichtbar, hat sich Voldemort durch das Bilden von Horkruxen selbst zu einer
dämonischen, schlangenartigen Person entmenschlicht, zur im menschlichen
Sinne Nicht-Person luziferischen Ausmaßes. Voldemorts Autonomieversuche
beinhalten im Äußeren schon sichtbar die Überschreitung eines weltinhärenten
moralischen Tötungsverbotes und gleichzeitig die Inversion einer ganzen, in sich
geschlossenen und heilen Persönlichkeit.
Harry dagegen bewahrt seine Seele als ganze und einheitliche und bleibt als
gewachsene Person mit sich identisch.
Abb.1: Austauschprozesse der Personen
Als autonome Person beweist sich Harry dabei paradoxerweise am Ende dadurch, dass er zu Gunsten der finalen Erlösung der Welt vom Bösen freiwillig
bereit ist, auf seine Existenz zu verzichten. Der Roman profiliert mit Harrys
autonomem Verzicht auf Autonomie zwecks der Erlösung des Kollektivs eine
Pseudo-Autonomie.
Diese Konzeption einer Pseudo-Autonomie gelingt dem Roman, indem die
von außen durch fremde Wissensmengen vermittelte Moralität als eigene autonome Entscheidung des Subjekts fingiert wird. Dumbledore formuliert beispielsweise ostentativ schon recht früh im zweiten Band Harry Potter und die
Kammer des Schreckens, dass sich die Identität des Subjektes in ihren autonomen
Entscheidungen manifestiere: »Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere
Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich sind« (Joanne K. Rowling:
Harry Potter und die Kammer des Schreckens. 1999, S. 343). An der Textoberfläche wird von der Norminstanz und dem Moralrepräsentanten schlechthin die
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Zur Konzeption von Person, Familie und Erzählen bei Harry Potter
Regel formuliert, dass sich die Identität der Person mit sich selbst durch ihre selbst
bestimmten Handlungen erweist. Um nun aber die von außen erworbene, universale altruistische Moral des Selbstopfers für das Kollektiv widerspruchsfrei in
der dargestellten Welt als Identitäts- und Autonomiegewinn Harrys zu fingieren,
müssen Snape und Dumbeldore – die personenexternen Repräsentanten des
nunmehr internen Persönlichkeitskerns von Harry – fast zwangsläufig aus der
dargestellten Welt getilgt werden. Harry ist am Ende die einzige Person mit
exklusivem, verinnerlichtem Wissen und damit mit einem subjektinternen, elitären und exklusiven Zugang zur weltinhärenten Moralität.
Die Funktion, zwischen dem Wert der Autonomie der Person an der Textoberfläche einerseits und andererseits ihrer Versöhnung mit einer universalen
Moral für das Kollektiv in der Texttiefe zu harmonisieren, übernimmt dabei in den
Harry Potter-Romanen funktional das Erzählmodell der Adoleszenzgeschichte10 :
Die Initiation Harrys in die universale Moral vollzieht sich durch die siebenfache
Adaption der Detektivgeschichte in den sieben Einzelbänden in sieben Stationen.
Den sieben Horkruxen als Bruchstücken der Person Voldemorts steht die Persönlichkeitsbildung und Erweiterung der Person Harrys in sieben Bänden und
sieben Stationen gegenüber.
Im siebten Band, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, wird dabei die
Vernichtung der Horkruxe Voldemorts mit Harrys Quest nach den Titelgebenden, mythischen drei Heiligtümern des Todes konfrontiert, die in einer klaren
Opposition zueinander stehen: Harrys Erwerb der drei Heiligtümer und seine
damit verbundene Reifung stehen Voldemorts Horkruxen und dessen fragmentierter Seele gegenüber. Derjenige, der die mythischen Heiligtümer des Todes in
seinem Besitz vereint, soll der Legende nach zum Meister des Todes werden, den
Tod also besiegen und überwinden.11
10 Vgl. zum Erzählmodell der Adoleszenzgeschichte einführend Günter Lange:
»Adoleszenzroman«, in: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hg. Von Alfred
Clemens Baumgärtner. Meitingen 1995 ff., Band 3, Erg.-Lfg. (1997), S. 1 – 22, und Carsten Gansel: »Der Adoleszenzroman zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Günter
Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Grundlagen. Gattungen.
Baltmannsweiler 2000, Band 1, S. 359 – 399; vgl. für die Harry Potter-Romane jüngst die
doch recht oberflächlichen Analysen von Linda Jelinek: Das Phänomen Harry Potter.
Eine literaturwissenschaftliche Analyse des Welterfolgs. Saarbrücken 2006 und Karin
Nitschmann: Die phantastische Welt des Harry Potter. Analyse des siebenbändigen Entwicklungsromans. Frankfurt am Main 2007.
11 Vgl. einführend zu dieser christologischen und eschatologischen Dimension der
Harry Potter-Romane John Granger: Looking for God in Harry Potter. Wheaton 2006;
Connie Neal: The gospel according to Harry Potter. Spirituality in the stories of the worlds
most famous seeker. This publication has not been authorized by J. K. Rowling, Scholastic
or Warner Bros. Louisville/London 2002, und Christoph Drexler (Hg.): Leben, Tod und
Zauberstab. Auf theologischer Spurensuche in »Harry Potter«. Münster 2004.
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Wie Harry, der am Ende die Macht über alle Heiligtümer erwirbt, herausfindet,
heißt dies nicht, dass man unsterblich wird und den Tod physisch besiegt, wie
Voldemort dies mittels seiner Horkruxe anstrebt. Vielmehr erfährt Harry von
seinem inneren Dumbledore, dass der Meister des Todes derjenige ist, der den
Tod als Freund akzeptiert, der sich in das Schicksal des eigenen Todes fügt und
seinem Tod einen Sinn dadurch verleiht, dass er ihn für andere erduldet.
3. Familienkonzeption
Harrys moralische Erkenntnis und Einsicht belohnt Rowlings Roman dann am
Schluss durch eine Sinnstiftung der Person durch Familie. Die siebenteilige Saga
endet nach Voldemorts endgültiger Niederwerfung durch Harry mit einem Epilog, der dem Leser als Zukunft Harrys ihn und seine Zielfamilie im Jahr 2017
zeigt: Harry ist mit seiner Jungendliebe Ginny, der Schwester seines besten
Freundes Ron, verheiratet und beide haben zusammen drei Kinder. Ron und
Hermine, die dritte im Bunde der Schulfreunde, sind ebenfalls verheiratet und
haben zwei Kinder. Am Ende des Romans ergibt sich eine extrem endogame
Partnerwahl mit einer fast inzestuösen familiären Verflechtung der Figuren zu
einer Großfamilie. Alle Jugendlieben und Jugendfreunde sind maximal möglich
miteinander verwandt und verschwägert. Harrys und Ginnys ältester Sohn heißt
dabei wie Harrys Vater James, ihre Tochter wie Harrys Mutter Lily und der
mittlere Sohn Albus Severus nach Albus Dumbledore und Severus Snape, den
beiden getilgten Werte- und Wissensvermittlern.
Abb. 2: Großfamilie Potter-Weasley im Epilog v. Bd. 7 im Jahre 2017
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Am Ende wird also nicht nur ein heutzutage traditionelles und längst nicht mehr
selbstverständliches Großfamilienmodell etabliert, sondern zeichenhaft leben in
der Namensgebung der Kinder Harrys Eltern und auch noch seine Eltern-äquivalenten Beschützer fort. Harrys fehlende Herkunftsfamilie zu Beginn der
Heptalogie wird durch das Sinn stiftende Übererfüllen von Familie am Ende in
der Zielfamilie kompensiert.
Abb. 3: Familie und Freundschaft im Reihenverlauf
Dies ist umso erstaunlicher, da die vorangehenden sechs Romane genau das
Gegenteil vorführen, nämlich die Auflösung von Familien und Familien-ähnlichen
Strukturen und ihren Surrogaten. Ausgangspunkt der Handlung im ersten Band
ist, dass Harry in der Vorgeschichte aus seiner typischen Kleinfamilie aus VaterMutter-Kind durch Voldemorts Tötung seiner Eltern herausgerissen wird und
nach der Zerstörung seiner Herkunftsfamilie als Waise zu seinen nächsten lebenden Verwandten, den Dursleys, in Pflege kommt. Die Dursleys, engstirnige
und intolerante Muggel, die Harry und die Zaubererwelt als Abnormität hassen,
werden stereotyp als Perversion von Familie geschildert: Sie missachten, demütigen und isolieren Harry. Wo die biologische Restfamilie als Familie sozial versagt, da wird schließlich Hogwarts zu Harrys Zuhause. An die Stelle der biologischen Familie tritt die soziale Institution der Schule. Dabei können auch die
sozialen Institutionen und Ersatzfamilien Harry nur begrenzt schützen. Diese
sind in der Großelterngeneration vor allem Dumbledore und in der Elterngeneration Harrys Pate Sirius, der ebenso wie Dumbledore in Verteidigung Harrys
stirbt.
Die Romane führen also oberflächlich mit Harrys Erwachsenwerden zuneh-
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mend den Abbau und die Dekonstruktion von Familie und ihren Surrogaten vor.12
Die Romane zeigen oberflächlich im fortschreitenden Handlungsverlauf über
sechs Bände hinweg, dass die Familie als sozialer Schutz- und Fürsorgeraum
proportional zum Wachsen der gleichberechtigten Diskursgemeinschaft der
selbst gewählten Freunde in der Kindergeneration abnimmt. Die Wahlverwandtschaft der Freunde Harry-Ron-Hermine ersetzt als Schutz- und Fürsorgeraum zunächst zunehmend die familiären Hierarchien. Dieses modern anmutende Lebensmodell erweist sich jedoch rückwirkend nur als temporalisierte
Abweichung von der familiären Norm in Krisenzeiten des Kollektivs. In der
Transitionsphase der Person, in der sie ihre Persönlichkeit ausbildet, vermittelt
die Diskursgemeinschaft gleichberechtigter Freunde nur zwischen der Klein- und
Herkunftsfamilie in der Vorgeschichte und der wertvollen traditionellen Großund Zielfamilie im Epilog oder wie es der letzte Satz der Heptalogie ausdrückt:
»Alles war gut.«
Die familiäre Gemeinschaft und Familienbindungen werden dementsprechend erkennbar unter der Oberfläche einer nur scheinbar modernen Dekonstruktion von Familie durch alle sieben Romane vom ersten Roman an konstant
als sinnstiftende Werte für die Person propagiert: Das zentrale Thema der Romane ist das familiäre Selbstopfer für andere. Genau so, wie sich Harrys Mutter,
sein Pate Sirius, Dumbledore und sogar Snape für Harry selbst opfern, genauso
muss Harry sich auch als universeller Erlöser und Christusanalogon freiwillig für
die Menschheit opfern, um Voldemort schließlich zu besiegen. Die biologische
Familie ist also nicht nur die finale Belohnung und Sinnstiftung des erwachsenen
Harry. Vielmehr ist vom ersten Band an zu beobachten, dass die durch das familiäre Selbstopfer anthropologisch begründeten, emotionalen familiären Bande
durchgehend die zentralen Werte sind, die immer wieder wiederhergestellt, neu
konstituiert und konstant vermittelt werden. Dass die Emanzipation der Person
von biologischer Familie nicht das von den Romanen vertretene Ideal ist, zeigt ex
negativo wieder einmal Voldemort. Er bringt bezeichnenderweise nicht nur seinen Vater und alle seine anderen noch lebenden Verwandten um, sondern sein
Plan, mittels der Horkruxe unsterblich zu werden, ist ja geradezu die Überwindung des biologischen Sinns von Familie, nämlich der Fortpflanzung. Voldemort
muss nicht biologisch und auch nicht zeichenhaft in Nachkommen weiterleben,
wie dieses symbolische sprachliche Fortleben Harrys Namensgebung seiner eigenen Kinder nach den biologischen und sozialen Elternäquivalenten überdeutlich aufzeigt. Stattdessen hat sich Voldemort von seinem eigentlichen Namen
Tom Marvolo (Vorlost) Riddle emanzipiert, der sich aus den Namen seines
12 Vgl. hierzu auch John Kornfeld/Laurie Prothro: »Comedy, Conflict, and Community. Home and Family in ›Harry Potter‹«, in: Elizabeth E. Heilman (Hg.): Harry
Potters World. Multidisciplinary Critical Perspectives. New York/London 2003,
S. 187 – 203.
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Muggelvaters und seines Zauberergroßvaters zusammensetzt.13 Voldemort hat
sich autonom aus dem sprachlichen Material seines eigentlichen Namens einen
neuen, selbst gewählten Namen geschaffen.
4. Sprache und Erzählen
Indem sich Tom Riddle seinen eigenen Namen aus der bestehenden Zeichenrealität autonom erschafft, bildet der Roman im Kleinen in der Figur das Prinzip
eines magischen Sprechaktes ab. Magie bedeutet letztlich nichts anderes, als
mittels Sprache eine Realität zu erschaffen: Genauso, wie in der dargestellten
Welt die Figuren durch Zaubersprüche Realität erzeugen, genauso erzeugen aber
auch die Romane selbst mittels Sprache ihre eigene literarische Realität. Was die
Romane selbst ausmacht, nämlich eine Welt bloß literarisch zu konstruieren und
damit die Universalität der vermittelten Werte nur zu behaupten, wird auf diese
Weise durch die magischen Sprechakte in der dargestellten Welt selbst transparent. Durch die magischen Sprechakte wird selbstreferenziell entlarvt, dass das
pseudoautonome Selbstopfer und der Wert der Familie eigentlich bloß literarisch
postuliert werden.
Meine These ist nun, dass der Roman explizit über Sprache reflektiert, um zu
kaschieren, dass die Werte im Roman eben bloß literarisch konstruiert werden
und nicht eigentlich universale Werte sind. Um die behauptete Universalität der
literarisch gesetzten Werte aufrecht zu erhalten, installiert Rowling vor allem drei
Semantiken von Sprache: i) In der dargstellten Welt werden die Möglichkeiten
der Magie stark reglementiert und kontrolliert. Qua ihrer Funktion als Erziehungsanstalt, die den jungen Zauberern und Hexen das nötige Wissen zum Gebrauch der Magie erst vermitteln muss, etabliert sich in der Zaubererschule
Hogwarts durch das Erzählmodell der Pensionatsgeschichte, ein in die Romane
selbst implementierter Diskurs über die Begrenzungen und die Anwendungsmöglichkeiten von Magie14 ; ii)In der dargestellten Welt wird die Sprache der
13 Im englischen Original wie in der deutschsprachigen Übersetzung wählt Voldemort
seinen Namen als Anagramm: engl. »I am Lord Voldemort« für »Tom Marvolo Riddle«;
dt. »Tom Vorlost Riddle ist Lord Voldemort«.
14 Vgl. zum Erzählmodell der Pensionatsgeschichte einführend Hans-Heino Ewers/
Inge Wild (Hg.): Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und
Jugendliteratur. Weinheim [u.a.] 1999, hier S. 1 – 9; sowie den Aufsatz von Gisela Wilkending: »Das bürgerliche Familienmodell im Spiegel der ›klassischen‹ Pensionsgeschichte«, in: Ebd., S. 41 – 63. Für Harry Potter empfehlen sich diesbezüglich Charles
Elster: »The Seeker of Secrets: Images of Learning, Knowing and Schooling«, in:
Elizabeth E. Heilman (Hg.): Harry Potter’s World (Anm. 12), S. 203 – 221, sowie Jann
Lacoss: »Of Magicals and Muggles: Reversals and Revulsions at Hogwarts«, in: Lana A.
Whited (Hg.): The Ivory Tower and Harry Potter. Perspectives on a Literary Phenomenon.
Columbia/London 2002, S. 67 – 89.
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Medien und der Politik als Manipulation und Lüge konzipiert. Ab dem vierten
Band durchzieht eine Medienkritik die Romane. Die Zeitung Der Tagesprophet
stellt beispielsweise im Auftrag des Zaubereiministeriums aus Gründen des
Machterhaltes Harry im fünften Band als psychopathologischen Fall dar, der
mittels erfundener Geschichten über die angebliche Rückkehr Voldemorts
krankhaft Aufmerksamkeit erregen möchte. Rita Kimmkorn, die verantwortliche
Reporterin des Tagespropheten ab dem vierten Band, tritt dann mittels ihrer
Biographie mit dem Titel Leben und Lügen des Albus Dumbledore im siebten
Band mittelbar nur in ihrem Medienprodukt als Lügnerin auf, die die Wahrheit
manipuliert und Fakten aus Dumbledores Leben verfälscht, um die moralische
Integrität des Verstorbenen zu diskreditieren. Die explizit diskursive Reglementierung magischer, die Realität verändernder Sprechakte einerseits verstellt
ebenso wie die Medienkritik andererseits den Blick auf die völlig freie, autonome
literarische Konstruktion der literarischen Fiktion; iii) dementsprechend ist
sprachliche Kunst bis auf eine signifikante Ausnahme eine Leerstelle der Romane: Hermine, der wissensdurstige Bücherwurm, verleibt sich zwar ein Buch
nach dem anderen aus der Bibliothek von Hogwarts ein, allerdings immer nur
Lehrbücher, die den Diskurs über Magie enthalten und niemals literarische Texte.
Es wird im Roman kein einziger Roman gelesen, keine Theater-AG führt ein
Stück auf, kein Gedicht wird rezitiert.
Als signifikante Ausnahme wird nun im siebten Band der manipulierenden
Sprache der Medien ein Stück literarische Sprache gegenüberstellt: Das Märchen
von den Heiligtümern des Todes, die von Beedle dem Barden seit über tausend
Jahren den Kindern in der Zaubererwelt überliefert werden.15 Vererbt wird die
Erstausgabe im Übrigen vom Sozialhelfer und Wertevermittler Dumbledore an
Hermine.16 Die Freunde diskutieren nun den Wahrheitsgehalt des Märchens von
den Heiligtümern des Todes. Harry glaubt an die reale Existenz der Heiligtümer;
Hermine und Ron glauben dagegen an dessen Fiktionalität, die dazu diene, einen
moralischen Lehrsatz an Kinder zu vermitteln. Wie sich dann herausstellt, haben
beide Parteien Recht: Die Heiligtümer existieren wirklich und Harry erwirbt sie
15 Vgl. Joanne K. Rowling: »Das Märchen von den drei Brüdern«, in: J.K.Rowling:
Die Märchen von Beedle dem Barden. Hamburg 2008, S. 87 – 93 (fingierte Anmerkungen/
Interpretation von Albus Dumbledore S. 94 – 106).
16 Hermine ist auch die schärfste Medienkritikerin. Interessant ist, dass immer wieder
(auch von der Autorin selbst, vgl. unter www.jkrowling.com/de »Extras, Charaktere,
Hermine Granger«) kolportiert wird, Rowling hätte sich wenn, dann am ehesten in Form
Hermi(o)nes in die Diegese implementiert (Vgl. Michael Maar: Warum Nabokov Harry
Potter gemocht hätte. Berlin 2002, S. 21): Hermine, die als Medienkritikerin und wandelndes Lehrbuch gezeichnet wird, ist deutlich die Figur, die bis zum Schluss eine moralische Lesart des Märchens verteidigt und eine realistische ablehnt. Die angebliche
Verkörperung der Autorin erweist sich als Figur als Instrument zur Verschleierung der
literarischen Konstruktion der Diegese.
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schließlich, was ihm den Sieg über Voldemort ermöglicht. Zugleich haben Hermine und Ron Recht, denn die Moral der Geschichte ist ja, dass man den Tod als
Freund annehmen muss, um sich selbst für das Kollektiv zu opfern und auf diese
Weise zum Meister des Todes zu werden. Das Märchen von Beedle dem Barden,
das einzige zitierte sprachliche Kunstwerk in der gesamten Heptalogie, erweist
sich damit erstens als Erzählung, die Realität abbildet: Die märchenhaften drei
Heiligtümer sind drei in der Diegese verborgene reale Artefakte, deren Hervorholung und Aneignung durch das Märchen in der diegetischen Realität initiiert werden. Das Märchen fungiert zweitens zugleich als semiotisch konstruierte
Vermittlung einer Moral, die von Harry im Verlauf seines Erwerbs der Heiligtümer erfahren und verinnerlicht wird. Der tote, von Harry internalisierte
Dumbledore äußert sich dann dementsprechend auch folgendermaßen über das
Märchen im Roman: »Die Geschichte, wonach es Heiligtümer waren, die dem
Tod gehörten, scheint mir eine von jenen Legenden zu sein, wie sie um solche
Schöpfungen herum zu entstehen pflegen« (7, 722). Fiktion und Realität vermischen sich also im Märchen auf einer höheren, harmonisierten, Sinn stiftenden
Ebene.
Abb. 4: Die drei Heiligtümer des Todes (Märchen von Beedle dem Barden)
Trotz aller anderen genrespezifischen und historischen Unterschiede teilen
Märchen und Fantasy nun als wesentliches gemeinsames Merkmal die Existenz
eines selbstverständlichen Wunderbaren.17 Diese Schnittmenge erlaubt es, das
Konzept des Märchens im Roman als Selbstreflexion über den literarischen Text
17 Vgl. auf der Basis des Werkes von Tzvetan Todorov: The Fantastic. A Structural
Approach to a Literary Genre. London 1973; Hans Krah: »Phantastisch« (Anm. 4),
S. 68 – 71, und Marianne Wünsch: »Phantastische Literatur« (Anm. 4), S. 71 – 74.
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des Fantasyromans selbst zu lesen. Durch eine solche Lesart ergibt sich anhand
des Märchens im Roman ein implizites poetologisches Konzept des Romans. Es
ergibt sich, dass Literatur paradoxerweise unter ihrer fiktionalen Oberfläche auf
der Grundlage einer in der Tiefe verborgenen Realität unveränderliche und
universelle Moralgesetze vermittelt. Im Gegensatz zur Magie im Roman schafft
die Literatur also keine Realität und im Gegensatz zur Sprache der Medien im
Roman konstruiert die Literatur auch nicht eine rein semiotische Realität. Die
Literatur bildet in diesem impliziten poetologischen Konzept vielmehr uneigentlich fiktional eine dekodierbare, universale, normative Tiefenrealität ab.
Abb. 5: Implizites poetologisches Konzept
5. Mentalitätsgeschichtliche Funktion
Von dem letzten Befund aus lässt sich in der Zusammenschau argumentieren,
dass Rowling funktional ihre Konzeption der pseudoautonomen Person und ihr
traditionelles Großfamilienideal in eine Fantasy-Welt verlegt und das Erzählmodell der Fantasy-Geschichte gewählt hat. Denn wenn Literatur die Eigenschaft
hat, universale Tiefenrealitäten zu kodieren, dann muss man sich gerade nicht
auch darum bemühen, eine Literatur zu verfassen, deren Diegese authentifiziert
und deren Erzählmodelle und Erzählformen künstlerisch modern sind. Gerade
die Anhäufung der Erzählmodelle und die Amalgamierung der Motive und
Mytheme ermöglichen es Rowling, mit Harry Potter im Gegenzug eine im Konkreten entchristlichte, nichtsdestotrotz als solche aber sakralisierte, universale
Erlöserfigur zu konzipieren. Rowling verfolgt die Strategie, elitäre religiöse
Strukturen, die exklusiv eigentlich der Religion vorbehalten sind, unter den populärkulturellen Vorzeichen der Fantasy-Literatur auf die Konzeption der Person
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anzuwenden.18 Mittels dieser Sakralisierung der Person gelingt es Rowling, traditionelle Werte wie die Großfamilie und das pseudoautonome Selbstopfer als
universale, zeitlos gültige Werte zu propagieren. Kulturell für die Religion exklusive, sakrale Strategien dienen der Elitarisierung der in der erzählten Welt
verkörperten Werte und ihrer massenmedial erfolgreichen Popularisierung durch
die Erzählung der Romane.
Damit reagiert Rowling meines Erachtens kompensatorisch auf ein kulturelles
Bedürfnis: In der westeuropäischen und aktuell besonders in der deutschen
Medienrealität vergeht kein Tag, in dem Fernsehen, Hörfunk und Presse nicht das
Bild der kalten, globalisierten Moderne präsentieren, die weite Teile der Bevölkerung durch anonyme kapitalistische Machenschaften von Großkonzernen in
soziale Randlagen drängen. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht in einer
Fernsehserie wie Die Super-Nanny (RTL, Deutschland, seit 2004; Channel 4, UK,
seit 2004; ABC, USA seit 2005) Eltern gezeigt werden, die ihre Kinder vernachlässigen und mit den Funktionsweisen von Familie nicht mehr vertraut und
den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen sind. Kaum ein Monat vergeht, an dem
nicht über ein verwahrlost gestorbenes, verhungertes oder von Eltern oder Ersatzeltern getötetes Kind in sozialen Brennpunkten berichtet wird. Kaum eine
Woche kommt ohne Dokusoap über verwahrloste Kinder (Die Mädchengang,
Die Ausreißer) aus. Familie, so präsentieren es uns aktuell die Medien, ist kulturell kein selbstverständlicher Wert mehr. Was einst der kulturelle Normalfall
war, wird uns medial entweder als verloren gegangenes Ideal ex negativo in den so
genannten Dokumentationen und faktualen Erzählungen oder aber eben auch
restaurativ und märchenhaft in J.K. Rowlings Harry Potter-Romanen vorgeführt.
Im Gegensatz zu den Romanen setzen dagegen die bisherigen fünf Verfilmungen andere Prioritäten und etablieren auf dem Fundament der Romane
andere Semantiken: Neben den Show- und Actionwerten des jeweils neu fulmi-
18 Vgl. zu diesem Forschungsstrang einführend Berhard Rank: »Phantastik im Spannungsfeld zwischen literarischer Moderne und Unterhaltung. Ein Überblick über die Forschungsgeschichte der 90er Jahre«, in: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2001/2002,
S. 101 – 125. und zuletzt im Überblick und auf Basis der Harry-Potter-Bücher Erika Maier:
Phantastik und Realismus in Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Magisterarbeit an der
Universität Konstanz, veröffentlicht 2007, abrufbar unter: http://kops.ub.unikonstanz.de/
volltexte/2007/3216/pdf/Maier_Magisterarbeit.pdf (Abrufdatum 14. 03. 2010).
Zur Problematik, ob und wenn ja inwieweit Harry Potter zur fantastischen Literatur
zuzurechnen ist vgl. Suman Gupta: Re-Reading Harry Potter. Not authorised or approved
by J. K. Rowling. Basingstoke [u.a.] 2003, S. 55 – 67. Letztlich gilt hier immer noch das
Urteil, das Daniela Langer: »Platz 9: Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der
Weisen«, in: Christoph Jürgensen (Hg.): Die Lieblingsbücher der Deutschen. Kiel 2006,
S. 147 – 183, in ihrer ausgezeichneten narratologischen Analyse fällt, in der sie die Romane als Fantasy bewertet (selbstverständlich Wunderbares), das mit dem Merkmal der
Fantastik (Realitätsinkompatibilität einer Parallelwelt) spielt.
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nant inszenierten magischen Spektakels visualisieren die Filme vor allem Formen
der Selbstdisziplinierung und Ermannung Harrys.19 Gerade die Plot-points der
Filme zeigen, wie Harry die den Normalmenschen eigentlich überfordernden
Herausforderungen des Bösen und seiner Vertreter immer wieder annimmt und
auf diese Weise seine regelmäßig bedrohte soziale Position befestigt. Die bisher
sechs Filme fokussieren damit dominant Harrys Kampf um seinen Platz in sozialen Teilgruppen der Gesellschaft. Die wiederholte Verteidigung und Befestigung der sozialen Position verbinden die Filme mit der Konzeption der Person
und ihrer Autonomie: Harry wird von Film zu Film zunehmend durch innere und
imaginierte, erlebte, erinnerte und magisch übertragene Bilder beeinflusst.20 Die
Filme reflektieren über falsche visuelle Wahrnehmung und irregeleitete Perspektiven und reflektieren zeichenhaft damit auch kritisch über visuelle Vermittlungsformen und damit implizit möglicherweise über audiovisuelle Medien.
Die Filme zeigen im Zuge der immer wieder von Film zu Film inszenierten,
gesteigerten Selbstdisziplinierung und Ermannung en passant eine auf diese
Weise in den Büchern nicht dominante Emanzipation Harrys von visuellen Informationen und medialen Informationsübertragungen.
Die Adaption der Romane und Filme in der Diskursmaschine Internet potenziert nun durch Diversifikation unterschiedlichster medialer Verarbeitungen
und Positionen die Komplexität der kulturellen Funktionen des Universums
Harry Potter.
Hier seien abschließend nur zwei der im Internet üblichen Aneignungsformen
näher benannt: Zum Ersten greifen zahlreiche Fansites die sprachlich ausgestellte, fiktionale Terminologie der Harry Potter-Welt auf und dokumentieren
akribisch die dargestellte Welt der Romane und Filme und ihrer Produktion und
Rezeption. Fans investieren Arbeit in die Dokumentation von Rowlings Welt, um
sich mittels des Medienproduktes Internetlexikon symbolisch in den Rang der
Autorin Rowling zu versetzen. Dieses symbolisch-mediale Erringen von Autorschaft dokumentiert exemplarisch der zu Gunsten der Autorin entschiedene
Rechtsstreit um die Fansite The-Harry-Potter-Lexicon21: Im Kern des Urheber19 Dass sich die Filme als eigene Erzählungen von den Romanen emanzipieren, zeigt
sich nicht nur in den zahlreichen Blogs, in denen von den Fans die massiven Kürzungen
und Änderungen diskutiert werden, sondern auch darin, dass die Heptalogie verlassen
wird: Der siebte Band wird in zwei Filmen adaptiert.
20 Eindrucksvoll in Harry Potter und die Kammer des Schreckens (Harry Potter and the
Chamber of Secrets, USA/UK 2002, Chris Columbus) gezeigt, als Harry qua »Chat« in
eine manipulative Medienwirklichkeit von Voldemorts Tagebuch zu Schulzeiten hineingezogen wird; vgl. ebenso Audiovisuellem gegenüber medienkritisch zuletzt in Harry
Potter und der Halbblutprinz (Harry Potter and the Halfblood Prince, USA/UK 2009,
David Yates) die Visualisierung und fremder Erinnerungen im Denkarium, die ebenfalls
manipuliert werden können.
21 Vgl. http://www.jkrowling.com/de, hier die Rubrik: Neuigkeiten, Eintragung vom
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streits geht es um die Frage, ob Fans, die in ungezählt vielen Stunden eine nicht
selbst erfundene Welt in einem kommerziellen Medienprodukt als eigenständig
erbrachte Arbeitsleistung dokumentieren und ihre Arbeit in Buchform vermarkten wollen eine Eigenleistung wie die Autorin erbracht haben oder nicht. Es
geht um die Frage, ob die Fans ihr symbolisches, mediales Kapital in ökonomisches Kapital ummünzen dürfen.22
Zum Zweiten seien hier die zahllosen deutschsprachigen und weltweiten
Fanfictions angeführt. Diese greifen Figuren, Motive und Sprachformen aus den
Romanen auf und erfinden darum herum eigene Geschichten, indem sie Versatzstücke der Romane mit neuen Erzählmustern verbinden und ganze Fortsetzungen und Zwischenbände in Serie produzieren. Ob sich das Internet in den
Fanfictions als Medium erweist, das einen gegenkulturellen Raum eröffnet,
bliebe zu untersuchen. Zumindest in den Slasher-Comunities werden lustvoll
Versatzstücke aus Rowlings Romanen mit Erotik und Sexualität verknüpft23,
einem Thema, dass Rowlings Romane gerade als Adoleszenzgeschichten als
blinden Fleck merkwürdig ausblenden. Ob die Fanfictions hier tatsächlich ein für
das Medium Internet viel diskutiertes subversives Potenzial aufweisen, das die
traditionellen Werte in Rowlings Romanen gegen den Strich bürstet, bliebe zu
diskutieren.
09. 11. 2007; vgl. für die Gegenseite http://www.hp-lexicon.org/index-2.html, hier: http://
www.hp-lexicon.org/whats_new.php, Archive 2007, Eintragung vom 10. 11. 2007; für
beide Seiten letzter Zugriff am 15.03.2010.
22 Insofern Joanne K. Rowling das Vorwort für das Fanbuch von Melissa Anelli: Das
Phänomen Harry Potter (Anm. 1) verfasst hat, hat sie gezielt durch ihre Autorisierung
Zeichen gesetzt: Anelli erzählt vor allem Anekdoten um die Aneignung des Phänomens
Harry Potter durch Fans (und vor allem sich selbst) im Internet und auratisiert auf diese
Weise umfassend eine individuelle Sinnstiftung und kulturelle Bedeutung durch das
literarische Werk. Ob das Werk diese Apotheose substanziell auch künftig tragen wird,
bleibt zu beobachten.
23 Vgl. auf www.fanfiktion.de die entsprechenden Einträge: Von am 15. 03. 2010 insgesamt 98.538 Fanfictions weist das Portal 17.136 Fanfictions nur zu Harry Potter auf, von
denen 54 Seiten nur die Titel von Slash-Fanfictions aufzählen. Die entsprechenden Seiten, die sich ausschließlich der Slash-Fanfiction widmen sind alle passwortgeschützt
(bspw. www.thesilversnitch.net).
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