SE IT E 12 · S A M S TAG , 2 7 . JU N I 2 0 1 5 · NR . 1 4 6 Literatur und Sachbuch F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Gegen den Strom ist es eben anstrengender Politisch ganz korrekt: Michael Pauen und Harald Welzer verteidigen die prinzipienfeste Selbstbestimmung Hier ist die Pointendichte ziemlich hoch: Stefan Gärtners satirische Spitzen gegen Joggingbrötchen und biodynamischen Lebensstil treffen ins Schwarze. Foto Max Kesberger Herrengedeck mit Damengedöns Leben ist die Summe von Fehlern, die wir Erfahrung nennen: Stefan Gärtners Roman „Putins Weiber“ schickt einen Gagschreiber auf Wiederbegegnungstour mit den verflossenen Geliebten. er Titel war vor dem Buch da. „Putins Weiber“ ist natürlich der Hammer, aber auch doppelt irreführend. Zum einen ist Putin bloß der Spitzname von Waldemar Winkelhock, einem höflich beflissenen, entscheidungsschwachen Gebrauchstexter und Gagschreiber aus Bielefeld. Nur Dr. Raimund aus Wien hält ihn für ein verkanntes Genie; nur in seinen Kolumnen für eine Fernsehzeitschrift wütet Putin wie Iwan der Schreckliche, aber die redigiert und liest ja auch niemand. Und dann ist „Weiber“ ein viel zu grobes, pubertäres Wort für all die schönen, klugen, auf keusche Weise koketten Frauen, die Putin auf seiner sentimentalen Reise zurück in die Vergangenheit trifft. Das ist nämlich die (schon von Nick Hornby in „High Fidelity“ durchexerzierte) Grundidee von Stefan Gärtners erstem richtigem Roman: die Suche nach der verlorenen Zeit in ihrer weiblichen Gestalt als Verflossene. Nachdem Vera, D seine aktuelle Freundin, ihn schamvoll betrogen und in eine längere Denk- und Beziehungspause entlassen hat, will Putin alle erinnerungswürdigen Ex-Freundinnen noch einmal besuchen, um mit sich und ihnen ins Reine zu kommen. Er muss herausfinden, welche Möglichkeiten und Alternativen er damals, vor fünfzehn Jahren in Frankfurt, versäumt, welche Fehler er gemacht hat, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht gekniffen, geschwiegen oder jedenfalls versagt hätte. Oder wie sein Männerfreund Georg es formuliert: „Kannst was nachholen. Oder wenigstens sehen, was du damals verpasst hast. Und ob überhaupt. Oder so.“ Alle Ehemaligen stellen sich für Putins Rückführungstherapie zur Verfügung: Manuela, die so verknallt in ihn war, die Psychotherapeutin Mareike, seine große Liebe, Marie, inzwischen Lehrerin in Prüm; nur Mimi, die Putin auf einer Pornoseite im Internet ausgegoogelt hat, liegt bereits auf dem Friedhof. Bei dieser Tour tauscht man Erinnerungen, Vorwürfe und melancholische Bemerkungen aus, man lacht und weint miteinander, einmal ergibt sich sogar Sex im Wald. Aber es gibt kein Zurück. Das Leben ist die Summe von Fehlern, die wir begangen haben und Erfahrung nennen, und hinterm Horizont geht’s weiter. Manchmal auch für den „Retrodepp“ Putin: An Mimis Grab keimt unverhofft eine neue Liebe zwischen Matti, ihrem kaurismäkihaften Nachbarn aus Helsinki, und Mareike. „Aus der Geschichte lernen heißt nicht einmal verlieren lernen“, erläutert Georg, „und so wir uns nicht sowieso verbieten wollen, in diesem Zusammenhang einen Sinn zu suchen, wo kei- ner ist, liegt er allenfalls darin, dass ich dir das jetzt erzähle.“ Gärtner war zehn Jahre lang TitanicRedakteur und hat sich in Werken wie „Guido außer Rand und Band“, „Benehmt euch! Ein Pamphlet“ und einem „erotisch-historischen Schelminnenroman“ über Angela Merkel für sein Romandebüt warmgeschrieben. „Putins Weiber“ hat Stil, Witz und Verstand, die Pointendichte ist erwartungsgemäß hoch, und viele von Gärtners satirischen Spitzen gegen Joggingbrötchen, Minicabrios, Hannelore Elsner und biodynamische Metzger treffen ins Schwarze. Außerdem wurde Gärtner nicht zufällig Sieger des Eckhard-Henscheid-Ähnlichkeitswettbewerbs 2014. Wenn Putin und seine Freunde beim Herrengedeck mit Bielefelder Luft und Detmolder Pilsener über Weiberkram und „Damengedöns“ räsonieren, wenn Frührentner „Bei Olga“ Fußballer- und Historikerwitze erzählen, zauberhafte Nachbarinnen anbaggern und Weisheiten wie „Was soll man machen?“ und „Hört nie auf“ absondern, fühlt man sich in die Zeit der „Vollidioten“ zurückversetzt. Geht in Ordnung, sowieso, genau. Gärtners Humor ist zwar eher an Seinfeld und den Simpsons geschult, aber er schöpft wie Henscheid aus einem breiten bildungsbürgerlichen Fundus und ist im Grunde ein hoffnungsloser Romantiker. Putin, der „Hans-Joachim Kulenkampff für das 21. Jahrhundert“, beherrscht nicht nur die Kunst des Kalauers, sondern hat auch „perniziöse“ Fremdwörter, preziöse Sätze („Sie taumeln durch den Glast des Nachmittags“) und gedrechselte Schwerenötereien drauf: „Ich habe keinen Grund zu der Annahme, ein Frauen- versteher zu sein, aber die generelle Wirksamkeit eines sauber dosierten Kompliments ist nichts, was einem Zweifel unterliegt.“ Verglichen mit dem maßlosen fränkischen Bruddler Henscheid, ist Gärtner erzählerisch relativ diszipliniert und ökonomisch, aber auch er zeigt Schwächen im Aufbau und in der Figurenzeichnung. Der Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive, Ich- und Er-Passagen ist wenig überzeugend; Spannung kommt beim serienmäßigen Weiber-Abklappern nicht auf. Alle, egal, ob junge Jurastudentin oder alter Bierdimpfl, reden im nämlichen Jargon ironischer Uneigentlichkeit und „spöttischer Jovialität“, und dieses dauernde Frotzeln, Plänkeln und Sticheln kann einem schon auf den Geist gehen. Die komplizierten, geradezu adornitisch verschachtelten Satzbauten, die großflächig eingesetzte indirekte Rede, die gespreizten, wohlerzogenen Ausdrücke bilden einen aparten Kontrast zum banalen, bestenfalls sentimentalen Inhalt, und das ist vielleicht doch ein Fehler. Putin kommt sich mit seinem gepflegten Stil und seinen Prätentionen manchmal selbst vor „wie ein preußischer Offizier auf dem Ballermann“. Karl Kraus kam nicht bis Bielefeld, Luhmann und Gärtner schon. MARTIN HALTER Stefan Gärtner: „Putins Weiber“. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2015. 284 S., geb., 19,95 €. Als wir im Westen uns das Paradies erdichteten Hymnen, auch an Müllhalden: Russische Poesie des Bronzenen Zeitalters in einer Auswahl von Robert Hodel Die russische Literatur kam in politischen Stagnationszeiten zu sich selbst. Unter dem „Gendarmen Europas“, Zar Nikolai I., erlebte sie die Goldene Ära Puschkins, unter Nikolai II. das Silberne Zeitalter der Belle Epoque, und die Phase vergleichsweisen sozialen Friedens unter der Sowjetmacht, die mit Generalsekretär Breschnew verbunden ist, firmiert auch als Bronze-Epoche in Kunst und Dichtung. Die Vokabel klingt zu Recht archäologisch, denn in den unheroischen sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts regenerierten sich in der russischen Kultur ein menschlicher Ton, die individuelle Reflexion und eine europäische Formsprache, die vom offiziösen Sowjetheroismus buchstäblich verschüttet worden waren. Wie diese Poesie aus dem Untergrund erblühte, manchmal auch über den Umweg von Auslandspublikationen den Heimatboden befruchtete und sich in publizistisch engagierte, christlich inspirierte, neodadaistische oder auch neubarocke Gedankenlyrik verzweigte, das kann der deutsche Leser sich jetzt anhand einer beispielhaften zweisprachigen Anthologie vor Augen führen, die der in Hamburg lehrende Schweizer Slawist Robert Hodel zusammengestellt, übertragen und erläutert hat. Für die Generation der 1940 bis 1960 Geborenen, die Hodels Buch anhand von 31 Dichtern mit jeweils sechs Werken vorstellt, war jene „Stagnation“ prägend, von der in den wilden neunziger Jahren einige sagten, damals sei Sowjetrussland im Kommunismus angekommen – man habe es nur nicht bemerkt. Und wirklich: Der Moskauer Dmitri Prigow (1940 bis 2007), der als Ältester die Sammlung anführt, besingt in einem Gedicht aus dem Zyklus „Apotheose des Milizionärs“ mit volkstümlichen Rechtschreibfehlern und Pleonasmen, wie ein braver Polizist, der positive Held des Ob- rigkeitsstaats, nachts ein Rowdytrio davon abhält, eine schutzlose Spaziergängerin zu überfallen. Ein Achtzeiler aus dem spätsowjetischen Zyklus „Hauswirtschaft“ mit der Anfangsformel „Ich verbrachte mein Lebtag mit dem Abwasch“ preist zugleich das Leben in genügsamer Betrachtung, wie es damals der Intelligenzija möglich war; denn es ordne den Geist und schaffe Distanz von unappetitlichen Dingen wie Volk und Machthabern, die man „draußen und unten“ auf der Straße lassen konnte. Bei Viktor Kriwulin (1944 bis 2001), der während der neunziger Jahre in dieser Zeitung mit großartigen publizistischen Texten hervortrat, verrät schon die herbe, kulturgesättigte Sprache den Pe- Was tun? Stuttgart wird gemeinhin unterschätzt – besonders von mir. In der Tübinger Studentenzeit war das zwar die große Stadt in der Nähe, schien aber auch in allem anderen das genaue Gegenteil der Gelehrtenrepublik neckaraufwärts: laut, verstopft, hässlich, oberflächlich. Kürzlich aber saß ich auf einer Terrasse am Südhang des Stuttgarter Kessels, die man in Italien kaum schöner hätte finden können (und in Tübingen tersburger. Kriwulins Sonett über „Jene“ führt vor, wie der Verlust des Christentums die Erinnerung an die unter der Sowjetmacht gestorbenen Seelen behindert. Zugleich schildert er unter dem Titel „Solange wir das Himmelreich erfanden“, wie in der späten Sowjetunion Russen und viele andere Nationalitäten sich den Westen als gelobtes Land vorstellen konnten, das nicht von Interessen getrieben und doch der Nabel der Welt sei. Offensichtlich inspiriert von Anna Achmatowas Diktum, wonach Abfälle der Nährboden für Verse sind, sind zwei spätsowjetische poetische Hymnen an Müllhalden. Jelena Schwarz begeistert sich für die Majestät totaler Fäulnis und Verwesung, Olesja Nikolajewa preist mit christ- gar nicht). Und dort gab es auch noch ein Buch, das mir einen Ort vorstellte, den ich noch nie besucht hatte: den Hoppenlau-Friedhof mitten in der Stadt. Das Buch heißt „Die Gräber der Dichter“, wurde schon 1991 von Friedrich Pfäfflin, dem früheren Leiter des Schiller-Nationalmuseums in Marbach, und dessen Frau Waltraud verfasst und war lange vergriffen, bis nun ein prominenter Wahlschwabe, der belesene Koch Vincent Klink, es, wesentlich erweitert, neu herausgebracht hat (Edition Vincent Klink, Stuttgart 2015. 420 S., 68 Abb., br., 24,– €). Damit gewappnet, lockt in der Sommerhitze (im Kessel heißer als sonst wo) der kühle Friedhof noch mehr zum Besuch, zum Beispiel am Grab von Wilhelm Hauff. ANDREAS PLATTHAUS lichem Ethos die Neuverwendung des von anderen Weggeworfenen. Seit der Sowjetstaat zerfiel und der Wind der Historie wieder durchs Land heult, verhaken die Dichter sich in der Tagespolitik. In den nuller Jahren reimt Alexej Zwetkow anlässlich des blutig beendeten Geiseldramas in der Schule von Beslan ein Horrorlied über König Herodes. Timur Kibirow bannt eine Talkshow über die moderne Frau, die neben ihrem Ehegatten mindestens zwei Sexualpartner haben sollte, in freie Versmaße. Und fürs Konsum- und Anspruchsdenken findet Jelena Kazjuba das antipoetische Bild eines Ex-Schmetterlings, der, in eine borstige Raupe zurückverwandelt, nur noch frisst, sich über Zurücksetzung beschwert und obendrein behauptet, niemals geflogen zu sein. Das lyrische Subjekt löst sich auf. Mal naturhaft wie bei Nikolai Kononow, dem beim wie immer plötzlichen russischen Sommereinbruch schwitzende Körper und fliehende Käfer vor Augen stehen. Mal taoistisch wie bei Natalja Asarowa, die im Ton chinesischer Weisheitssätze alternierend das Lernen und das Vergessen preist. Bei einem singulären Buch wie diesem muss man umso mehr bedauern, dass den deutschen Übersetzungen so wenig Zeit zum Reifen blieb, dass nicht nur keine poetischen, sondern nicht einmal idiomatisch deutsche Texte daraus geworden und obendrein etliche Fehler stehengeblieKERSTIN HOLM ben sind. Robert Hodel (Hrsg.): „Vor dem Fenster unten sind Volk und Macht“. Anthologie russischer Poesie: Generation 1940–1960. Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2015. 472 S., geb., 34,95 €. Was ist Autonomie, und warum soll man sie verteidigen? Mit einfachen Antworten geben sich der Philosoph Michael Pauen und der Sozialpsychologe Harald Welzer nicht zufrieden. Autonom sei jemand, so die beiden Autoren, der nach Prinzipien handelt, die er für richtig hält, auch wenn er sich gegen Widerstand durchsetzen muss. So gesehen, können auch Verbrecher und Diktatoren autonom handeln. Autonome Menschen haben Handlungsspielräume, die Menschen in vormodernen Ordnungen nicht zu ihrer Verfügung haben. Wir haben uns daran gewöhnt, selbst zu entscheiden, wen wir heiraten und welchen Beruf wir ergreifen wollen. Aber Autonomie ist nicht einfach da. Sie ist vielmehr eine zivilisatorische Errungenschaft, die mit der Aufklärung in die Welt kam. Pauen und Welzer berufen sich auf die Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias, der gezeigt hat, dass Autonomie nicht nur eine Leistung der Aufklärung, sondern auch eine Möglichkeit war, die sich aus der Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols und seiner friedensstiftenden Wirkung ergab. In dem Maß, in dem die Gewalt aus dem Leben verschwand und Menschen ihr Leben über den nächsten Tag hinaus planten, konnten sie sich an eigenen Bedürfnissen orientieren, ohne dem Zwang der Gemeinschaft nachzugeben. Fremdzwang wird zum Selbstzwang, hätte Norbert Elias gesagt. Ohne Privatsphäre keine Autonomie. Nur im geschützten Raum kann gelingen, was in einer transparenten Umgebung unmöglich wäre. Erst wenn die Augen des Herrschers nicht mehr sehen können, was die Untertanen tun, wenn sie unter sich sind, entstehen Entscheidungsspielräume. Totale Transparenz und Demokratie sind unvereinbar. Zwar wissen auch Pauen und Welzer, dass keine Ordnung überleben kann, wenn sie nicht auch Konformität und Anpassung erzwingt. Aber sie unterscheiden zwischen einer Unterwerfung, die erzwungen wird, und einer Anpassung, die aus eigener Einsicht kommt. Wer sich an der Theaterkasse anstellt, handelt autonom. Denn wenn sich niemand an Regeln hielte, wäre es auch um die eigene Freiheit schnell geschehen. Autonomes Handeln beruht auf Voraussetzungen. Wer in einer offenen Gesellschaft Kritik übt, riskiert wenig, wer es in einer Diktatur tut, setzt womöglich sein Leben aufs Spiel. Manchmal bewirkt ein und dieselbe Tat Verschiedenes. Ein polnischer Bauer, der einen Juden rettete, begab sich in Lebensgefahr, und er tat, was sonst nur wenige wagten. Er handelte autonom. Ein dänischer Bürger, der das Gleiche tat, handelte hingegen konform, weil er sich verhielt, wie sich die meisten Dänen verhalten hätten. In jedem Fall gilt, dass Gruppendruck autonomes Handeln einschränkt. Erst wenn sich Risse im Gehäuse der Hörigkeit zeigen, sind Menschen bereit, sich zu widersetzen und Kritik zu üben. Autonomie und Konformität gehören zueinander. In allen modernen Gesellschaften müssen Handlungen synchronisiert werden. Und wer einmal auf eine Weise gehandelt hat, wird es wieder tun, weil Menschen von ihren Gewohnheiten nicht abweichen wollen. Aber Konformität entlastet auch von Entscheidungszwängen. Wer anderen die Entscheidung darüber überlässt, wie er leben soll, muss sich den Zumutungen einer unübersichtlichen Welt nicht mehr aussetzen. Man kann sich aus freiem Willen für das Leben in Unfreiheit entscheiden, und es kommt vor, dass Menschen es tun, weil ihnen Sicherheit lieber ist als Entscheidungsfreiheit. Was historisch erreicht worden ist, kann also jederzeit wieder verspielt werden. Pauen und Welzer beklagen, dass die Diktatur des Konformismus auch in die Wirklichkeit der europäischen Demokratien zurückgekehrt sei: Die Bürger seien zu Objekten der Geheimdienste und ihrer Überwachungstechnologie geworden, sie hätten sich Google und Facebook unterworfen und sich einreden lassen, dass es besser sei, wenn sie von Entscheidungszwängen entlastet würden. Diktaturen und Überwachungsmedien vernichteten Privatheit und bedrohten Autonomie. Das sei der Preis, der für die Übertragung von Rechten gezahlt werde. Der moderne Totalitarismus komme ohne Terror aus, hatte der Philosoph Günther Anders geschrieben. Pauen und Welzer stimmen ihm zu. Tatsächlich könne die moderne Informationsindustrie Menschen durch Manipulation steuern und sie dazu bringen, von selbst zu verrichten, was man von ihnen will. Die Welt wird dadurch entdifferenziert, Komplexität abgebaut, das Denken vereinfacht. Dagegen sollten wir uns wehren, schreiben die Autoren, wir sollten unsere Freiheit nicht gegen Sicherheit eintauschen und Autonomie nicht der Bequemlichkeit opfern. Fast jeden Satz in diesem Buch möchte man unterschreiben. Aber müsste man nicht auch von den Chancen sprechen, die sich aus dem sozialen Netzwerk ergeben? Vom Protest, der durch sie organisiert und vernetzt werden kann, und vom Widerspruch, der in ihnen auch dann formuliert werden kann, wenn die Mehrheit ablehnt, was man selbst für eine gute Idee hält? In der Anonymität können andere Menschen verleumdet und verteufelt werden, aber sie eröffnet auch die Möglichkeit, sich zu widersetzen, ohne in Gefahr zu geraten, zur Verantwortung gezogen zu werden. Handelt eigentlich nur autonom, wer Kritik so vorbringt, dass er linksliberalen Erwartungen entspricht? Was ist mit Menschen, die sich dem Diktat des politisch Korrekten verweigern, die sprechen, wie es ihnen gefällt, die sich weigern, an Wahlen teilzunehmen, und sich den Tugendwächtern in den Weg stellen, wenn sie wieder einmal für uns entscheiden wollen, wie wir leben sollen? Über sie sagen die Autoren wenig. Wir schätzen Personen, die Widerstand überwinden, schreiben Pauen und Welzer. Wirklich? Wahrscheinlich ist das Gegenteil der Fall. Die meisten Menschen schätzen nur, was ihrem Selbstbild entspricht. Sie wollen nicht verunsichert werden, sondern mit dem Strom schwimmen. Autonomie ist ein Luxus, den sich Menschen leisten können, die materiell und politisch unabhängig sind, oder solche, denen es egal ist, was andere über sie denken. „Man sollte sich dagegen verteidigen, dümmer und ohnmächtiger sein zu sollen, als man sein könnte“, fordern Pauen und Welzer. An dieser Forderung kann man sich freilich JÖRG BABEROWSKI orientieren. Michael Pauen und Harald Welzer: „Autonomie“. Eine Verteidigung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 328 S., geb., 19,99 €. Über Wachen und Schlafen Ingo Fietze weiß, wie man durch die Nacht kommt Was haben Einstein, Napoleon und Dalí gemeinsam? Alle drei haben sich regelmäßig den Freuden eines Nickerchens hingegeben. Wer Großes vollbringen will, braucht seinen Schlaf. Dass wir diesen einfachen Zusammenhang oft genug vernachlässigen und uns die Konsequenzen erst bewusst werden, wenn es bereits zu spät ist, kann fatale Folgen haben. Wie wir trotzdem gut durch die Nacht kommen und was zu tun ist, wenn Morpheus’ Umarmung einmal ausbleibt, erläutert der Schlafmediziner Ingo Fietze in seinem Buch. Nachts werden Grundlagen für den nächsten Tag gelegt, so der Autor, und die Eindrücke des vorangegangenen verarbeitet. Der Tiefschlaf ist dabei das erholsamste Schlafstadium. Wem diese Schlafphase fehlt, der fühlt sich am nächsten Morgen wie erschlagen. Im Traumschlaf würden hingegen Gedächtnisinhalte gefestigt und das Gehirn von unnötigen Informationen befreit. Die Nervenzellen kommen nicht ohne diese Erholungsphase aus. Wer nachts schlecht schläft, bekommt tagsüber die Quittung. Müdigkeit und geminderte Leistungsfähigkeit sind noch die harmlosesten Folgen. Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Konzentration leiden. und auch das Risiko von Herz-KreislaufErkrankungen steigt bei chronisch schlechten Schläfern. Wie schon in seinem Buch „Der Schlafquotient“ (2006), das er zusammen mit Thea Herold verfasste, wirft Ingo Fietze auch in seinem neuen Buch einen kritischen Blick auf die 24-Stunden-Gesellschaft, die immer mehr Menschen immer länger wach hält. Indes klagen nicht alle seine Patienten darüber, nicht schlafen zu können. Manche werden gar nicht richtig wach oder schlafen in den unmöglichsten Situationen ein. Fietze berichtet vom Fall einer jungen Frau, die an Narkolepsie litt und wiederholt ohne Vorwarnung in ein Wachkoma fiel. Herkömmliche Wachmacher schlugen bei ihr nicht an – beim Thema Schlaf gibt es noch viele ungelöste Rätsel. Viele Schlafstörungen ließen sich auf ein chemisches Ungleichgewicht beziehungsweise auf einen unausgeglichenen Hormonhaushalt und damit auf ein gestörtes Schlaf-Wach-System zurückführen. In solchen Fällen, so Fietze, reiche es nicht aus, Stress zu verringern, die Konsultation eines Experten sei angezeigt. Auch schlafhygienische Maßnahmen wie eine abgedunkelte und ruhige Schlafumgebung, kein Koffeinkonsum und regelmäßige Schlafzeiten seien im Falle einer chronischen Schlafstörung kaum wirksam. Fietze betrachtet Phänomene wie das Schlafwandeln ebenso differenziert, wie er sich mit der Verschreibung von Schlaftabletten auseinandersetzt. Tipps für Diagnose und Behandlung runden das HANNAH FEILER Buch ab. Ingo Fietze: „Über guten und schlechten Schlaf“. Kein & Aber Verlag, Zürich 2015. 220 S., geb., 19,90 €.
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