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Die Selbstdichtung1) (Selbstheilung)
von Trennrissen – ein Risiko in der
WU-Richtlinie
1 Das Selbstdichtungskriterium in der WU-Richtlinie
Mit Selbstdichtung, oder auch Selbstheilung1, wird ein Vorgang
bezeichnet, durch den Trennrisse im Beton bei Durchfluss von
Wasser langsam abgedichtet werden. Vor etwa 20 bis 35 Jahren
wurden in größerem Umfang und systematisch Untersuchungen
zur Selbstdichtung durchgeführt. Die Ergebnisse, insbesondere
von Edvardsen [Edv1] und teilweise von Ripphausen [Rip1] sind
2003/2004 mit geringfügigen Änderungen in die WU-Richtlinie
übernommen worden [DAS1]. Die Kernaussagen sind in der Tabelle 1 enthalten (in der WU-Richtlinie: Tabelle 2).
Die Regelungen der Tabelle 1 sind inzwischen anerkannte Regeln der Technik und werden von der heutigen Ingenieurgene­
ration als seit zwei Jahrzehnten bewährtes Wissen behandelt
und nicht mehr hinterfragt. Die Erfahrungen bei der Anwendung der WU-Richtlinie zeigen dem kritischen Betrachter, dass
nicht bei allen Lösungen die in Aussicht gestellte Dichtigkeit erreicht wird. Umgekehrt sind Trennrisse mir Rissbreiten über
0,1 mm und sogar über 0,15 mm dicht, die es nach unseren
Vorstellungen nicht sein dürften. Deshalb ergeben sich einige
Fragen, die mit dem in der WU-Richtlinie dokumentierten Wissensstand nicht befriedigend beantwortet werden können.
Die bisherigen Forschungsergebnisse zur Selbstdichtung sind
ausschließlich über Durchflussversuche und deren empirische
Auswertung gewonnen worden. Das wesentliche Ergebnis waren Durchflusskurven nach Abb. 1, die nach Erfolg oder Misserfolg der Selbstdichtung bei verschiedenen Parameterkombinationen ausgewertet worden sind. Eine Theorie oder irgendeine
brauchbare mathematische Formulierung gibt es dazu nicht.
Die Selbstdichtungschancen für einen Trennriss sind nach der
WU-Richtlinie anhand von nur drei Kenngrößen zu beurteilen
(Tabelle 1):
„„ Die Wasserdruckdifferenz zwischen Wasser- und Luftseite des
Bauteils, ausgedrückt als Meter Wassersäule (hW). Je größer
der Wasserdruck, umso geringer ist die Selbstdichtungswahrscheinlichkeit.
„„ Die Bauteildicke (Fließweg hb). Je größer die Bauteildicke ist,
umso größer soll nach der WU-Richtlinie die Selbstdichtungs1 Da ein Riss im Beton keine zu heilende Krankheit ist, wird hier an Stelle der
Bezeichnung Selbstheilung der Begriff Selbstdichtung verwandt.
5 | 2015 Der Bausachverständige
Abb. 1:
Typische Durchflusskurve eines
Selbstdichtungs­
versuchs [Rip1]
wahrscheinlichkeit sein. Oder: Je größer die Bauteildicke ist,
umso größer darf die Rissbreite sein, bei der noch eine Selbstdichtung eintritt. Diese Festlegung ist wahrscheinlich aus der
Annahme abgeleitet worden, dass für die Abdichtung ein völliges oder annähernd völliges Füllen des Rissspaltes erforderlich
ist. Es wird unten gezeigt, dass diese Annahme nicht zutrifft
und dass der Einfluss der Bauteildicke im Bauwesen vernachlässigbar ist.
„„ Der Rechenwert der Rissbreite nach DIN EN 1992-1-1. Er ist als
95 %-Quantilwert definiert Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit,
dass diese Rissbreite nicht überschritten wird, geringer [Eck1].
Tab. 1: Zulässige Trennrissbreiten nach WU-Richtlinie [DAS1]
1
2
3
1
2
Druckgefälle hw/hb 1)
Zulässige Rissbreite w in mm
(Rechenwert) nach WU-Richtlinie
≤ 10
0,20 mm
> 10 bis ≤ 15
2)
> 15 bis ≤ 25
0,15 mm
0,10 mm
1)hw = Druckhöhe des Wassers über dem Riss in m; hb = Bauteildicke in m
2)Für angreifende Wässer mit > 40 mg/l CO2 (Kalklösende Kohlensäure) und
pH < 5,5 darf die Selbstheilung der Risse nicht in Ansatz gebracht werden.
9 |
Bautechnik
Heinz Meichsner, Stefan Röhling
Bautechnik
Abb. 2: Ursachen der Selbstdichtung [Edv1]
Abb. 3: Engstellen im Riss, die durch die Bruchflächenneigung entstehen.
Die Versuchsprogramme aller vorstehend zitierten Autoren gingen von idealisierenden Annahmen aus, die real nur mehr oder
weniger gut erfüllt werden. Diese Annahmen sind:
„„ Der Trennriss wird in seiner gesamten Fläche von Wasser
durchflossen.
„„ Der Trennriss hat auf seiner ganzen Länge gleiche Fließbedingungen. Die Versuchsergebnisse bei 200 mm Risslänge im
Versuch [Edv1] sind auf beliebig lange Risse übertragbar.
„„ Die Dichtung des Risses besteht in einer kontinuierlichen Füllung des Spalts über den gesamten Fließweg (Bauteildicke).
„„ Zwischen den geometrischen und hydraulischen Fließbedingungen bestehen lineare Abhängigkeiten, z . B. ist die Durchflussmenge proportional zur Risslänge.
Diese idealisierenden Annahmen sind bei keinem der Autoren
genannt, können aber aus der Planung und Auswertung der
Versuche herausgelesen werden. Sie sind teilweise nicht richtig
und beeinträchtigen die Genauigkeit des Dichtigkeitskriteriums.
die an der Oberfläche messbare Rissbreite bedeutend verringert.
Durch die Bruchflächenneigung kann die an der Oberfläche wahrnehmbare Rissbreite auf 50 % und auch mehr reduziert werden
(Abb. 3). So entstehen Engstellen im Riss, an denen sich die im
fließenden Wasser mitgeschleppten Partikel anlagern können. Die
Rissrauigkeit ist eine Eigenschaft der gesamten Rissfläche, also sowohl in Fließrichtung als auch rechtwinklig dazu. Bei kleinen Rissbreiten entstehen Bereiche im Riss, die bereits ohne Selbstdichtung
nicht so durchlässig sind wie benachbarte Bereiche. Sie werden
wie Inseln in einem Bach vom Wasser umströmt, wodurch es auch
quer gerichtete Strömungen geben kann.
Damit ist der Strömungsvorgang im Riss etwas ungeordnet
und hat auch schräge Strömungslinien, weil nicht überall der
volle Rissquerschnitt zur Verfügung steht. An der Luftseite tritt
dadurch das Wasser nicht kontinuierlich aus, sondern mit sehr
unterschiedlicher Intensität, häufig auch punktförmig. An den
meist vertikalen Rissen in Wänden ist das nicht sichtbar, weil jeder punktförmige Wasseraustritt die Bereiche darunter mit
einem gleichmäßigen Wasserfilm überzieht und den Austritt flächig erscheinen lässt. Anders ist das bei Schrägrissen (Abb. 4).
Sie zeigen den diskontinuierlichen Wasseraustritt, an dem die
Unregelmäßigkeiten der Rissfläche und die variierenden Strömungsbedingungen erkennbar sind.
2 Modellvorstellung über den Ablauf der
Selbstdichtung
Die Selbstdichtung ist ein zeitabhängiger Prozess, bei dem die
den Riss durchfließende Wassermenge kontinuierlich abnimmt
und im Erfolgsfall den Wert Null erreicht (Abb. 1). Der Prozess
kann bis zu mehreren Wochen oder auch Monaten dauern. In
der Literatur über die Selbstdichtung werden die Ursachen übereinstimmend mit den in Abb. 2 genannten Elementen beschrieben. Über die Wichtung der einzelnen Anteile gibt es Differenzen zwischen den Autoren. Der Bildung von CaCO3 wird bei
sauberem Wasser als wirksamste Ursache angesehen. Über andere Ursachen der Selbstdichtung wie die Nachhydratisierung
von Zement oder das Quellen der Rissufer gibt es noch keine
einheitliche Wertung in der Fachliteratur.
2.2Wie sieht eigentlich die Abdichtung aus?
Nach bisherigem Verständnis wird ein Riss dadurch abgedichtet,
dass er sich vorzugsweise mit CaCO3-Kristallen zusetzt. Das hat
wohl auch zu der Ansicht geführt, dass die Abdichtung umso
wirksamer ist, je dicker das durchflossene Bauteil ist, weil sich da-
2.1Die Rissrauigkeit – eine unverzichtbare Bedingung
für die Selbstdichtung
Ein Spalt mit ebenen Wandungen und z. B. einer Spaltbreite von
0,15 mm kann sich bei einem Wasserdruck von mehreren Metern nicht selbst abdichten. Voraussetzung sind raue Rissflächen,
durch die der Durchflussquerschnitt stellenweise stark verringert
wird. So wird einerseits der Strömungswiderstand erhöht. Andererseits werden die im fließenden Wasser mitgeführten Partikel
an die Engstellen transportiert (Abb. 3).
Die Rissrauigkeit hat deshalb eine so große Bedeutung, weil
dadurch in den Rissflächen geneigte Bereiche entstehen und sich
| 10
Abb. 4: Wasserführende, schräge Trennrisse mit einem Rechenwert der
Rissbreite von wk ≤ 0,15 mm
Der Bausachverständige 5 | 2015
Ingo Kern
Baurecht
Fallstricke im Bauträgervertrag
Der Bau einer eigenen Immobilie beeinflusst das Leben in ungeahnter
Weise. Aus diesem Grund realisieren
die meisten Menschen dieses Vorhaben nur ein einziges Mal in ihrem Leben. Intransparente Klauseln im Bauvertrag können dabei zu überraschenden Regelungen für den Erwerber
und Bauträger führen.
Manche Baubeschreibungen lesen sich
für den Profi wie eine Ansammlung von
Selbstverständlichkeiten, ohne dass die
wichtigen Informationen genannt wer­
den.
Die Baubeschreibung ist ein zentraler
Bestandteil des Kaufvertrags und legt den
Kaufgegenstand fest. Schließlich steht
das Wohngebäude zu diesem Zeitpunkt
noch nicht, also kauft der Erwerber im
Prinzip die Baubeschreibung. Der Kauf
vom Bauträger entspricht aus Sicht des
Erwerbers dem Kauf eines neuen Autos
mit Sonderausstattung. Es ist mithin un­
verständlich, weshalb ein Erwerber eines
Neuwagens bestens informiert ist über
Marke und Modell, Motorisierung, Aus­
stattungsmerkmale, Händler oder sons­
tige Kaufoptionen, sich außerordentlich
mit Varianten beschäftigt und mit ganzer
Kraft Rat darüber hält, ob es nun indium­
graumetallic oder doch lieber palladium­
silber werden soll. »Mit scharfem Blick,
nach Kennerweise seh´ ich zunächst mal
nach dem Preise, und bei genauerer Betrachtung steigt mit dem Preise auch die
Achtung.«1 Es ist nicht gut, nur weil es
teuer ist. Erwirbt man eine Eigentums­
wohnung, wird davon ausgegangen, dass
von Rechts wegen und angesichts der ho­
hen Kosten alles schon seine Richtigkeit
haben wird. Das Abkommen wird in
gutem Glauben unterzeichnet und die
»Heizungsanlage nach Erfordernis« ist
ganz gewiss modern. Würde ein Auto­
händler auf die Frage nach der Leistung
lakonisch mit »Motorisierung entspre­
chend Fahrzeuggewicht« antworten,
wäre vermutlich Argwohn vorhanden. Für
den versierten Juristen erscheinen man­
che Baubeschreibungen waghalsiger als
Seepferdwetten und für den Bausachver­
ständigen wie eine Fundgrube für ange­
schwemmtes Favelamaterial.
1 Bildergeschichte »Maler Klecksel«, Wilhelm
Busch (1832 –1908)
5 Basty, Dr. jur. Gregor, Der Bauträgervertrag,
8. Auflage, 2014, Rdn. 1049
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Vorvertragliche Pflichten
Noch vor Vertragsschluss treffen den Bau­
träger Aufklärungs- und Beratungspflich­
ten2. Er hat über alle Umstände aufzuklä­
ren, die für den Käufer für die Entschei­
dung zum Abschluss des Vertrags von
Bedeutung sein können. Ihm bekannte
Umstände wie geplante Baumaßnahmen
im Umfeld, z. B. bei einer angrenzenden
Straße oder auf Nachbargrundstücken
oder zu erwartende Emissionen sind mit­
zuteilen.3 Wenn Verhandlungsgehilfen
Auskünfte geben, z. B. über die Vermiet­
barkeit und die Höhe erzielbarer Mieten
oder Steuervorteile, müssen diese richtig
und vollständig sein.4 Eine Aufklärungs­
pflicht besteht auch im Hinblick auf Um­
stände, die eine fristgerechte Realisierung
des Vorhabens gefährden können.5
Baubeschreibung
»Abdichtung und Wärmedämmung, sofern erforderlich...«, »bei der Sanierung
2 Vgl. Thode ZNotP 2007, 162
3 Vgl. Koeble in Grziwotz/Koeble, Handbuch
Bauträgerrecht, Teil 4, Rn. 203
4 BGH 26.4.1991 – V ZR 165/89 – BGHZ 114, 263,
266; BGH 26.11.1997 – V ZR 29/96–ZfiR 1998,
91
… werden die Verordnungen zum Brand-,
Wärme- und Schallschutz nur teilweise
erfüllt. Eine Verbesserung der Grundsubstanz durch die vorzunehmenden Sanierungsarbeiten kann nicht versprochen
werden«, »die Dichtungsmaßnahmen
werden durch das Baugrundgutachten
festgelegt«, »die Flachdächer werden mit
entsprechender Abdichtung aus Kunststoff – oder Bitumenbahnen – nach Vorgaben des Architekten belegt«, »Balkone
mit Bitumendachbahn«, »Stärke und Material des Wärmedämmverbundsystems
nach Angabe des Statikers«, »Haarrisse
am Innenputz sind kein Mangel«,
»Schwindrisse unterliegen nicht der Gewährleistung«, »es stellt keinen Mangel
dar, wenn Estrichsetzungen zwischen Boden und Wand entstehen«, »ein Anspruch auf Einhaltung der DIN 4109 besteht nicht«, »Schallschutz nach DIN«.
Was will uns diese Werbesendung
sagen?6 Bauträgerrabulistik. Infamie und
der hundertprozentige Wille zu nichts. Sie
entspringt naiver Wortgläubigkeit von
Laien und ist methodisch falsch. Rheto­
rischer Topos, dessen Gegenstück lautet,
dass es nicht auf den Wortlaut, sondern
auf den Sinn ankommt.
Normeneifer
DIN-Normen sind keine Rechtsnormen,
sondern private technische Regelungen
eines eingetragenen Vereins mit Empfeh­
lungscharakter und stehen zunächst je­
dem zur Anwendung frei. Wer die DINNormen eingehalten hat, ist keineswegs
auf der sicheren Seite. Sie können die
anerkannten Regeln der Technik wieder­
geben oder hinter diesen zurückbleiben.7
6 Auszüge aus aktuellen Baubeschreibungen oder
Bauträgerverträgen
7 Beyerlein, Praxishandbuch
Sachverständigenrecht, 2008
Der Bausachverständige 5 | 2015
8 IBR 1998, Privates Baurecht, S. 377
9 DIN 4109:11-1989 Schallschutz im Hochbau –
Anforderungen und Nachweise
10 Beiblatt 2 zur DIN 4109
11 IBR-Seminar: Schallschutz von Innen- und
Außenbauteilen aus technischer und rechtlicher
Sicht, Prof. Dipl.-lng. Rainer Pohlenz ö.b.u.v.
Sachverständiger Aachen, 2013
12 DEGA-Empfehlung 103 Schallschutz im
Wohnungsbau – Schallschutzausweis; Deutsche
Gesellschaft für Akustik e.V., 23.3.2009
5 | 2015 Der Bausachverständige
der Nutzung gibt. Allerdings zeigt sie
auch, dass der »erhöhte Schallschutz
nach DIN« gescheitert ist und bis unter
die Erde in einem beklagenswerten, um­
fassend exzentrischen Zustand zur Erwar­
tungshaltung einer hochwertigen Immo­
bilie steht. Die Norm ist in der Hinsicht so
präsent wie die DDR und mindestens drei­
mal so tot. Mit andern Worten: Das hör­
bare Urinieren Ihres Nachbarn ist normge­
recht und nach Bauvertrag nicht zu bean­
standen.13
Abb. 1: DEGA-Empfehlung Schallschutz zwischen
fremden Wohneinheiten
Bauherren werden getäuscht. Sie sind
Freiwild für eine, bis in die feinsten tech­
nischen Verästelungen schamlos vor sich
hinkorrumpierenden
Anti-Aufklärung.
Verkäufer verklappen das Geschreibsel
palettenweise an Kaufwillige, wo es kri­
tiklos gebilligt und in heiterer Demenz
weggelesen wird. Die erziehungsdidak­
tische Bombe trifft den Bauherrn aus hei­
terem Himmel nicht selten ins Herz. Der
Verbraucher sollte darauf vertrauen kön­
nen, dass der Bauträger eine besondere
Fachkunde besitzt. Dies bedeutet, dass er
die zur Zeit der Bauausführung allgemein
anerkannten Regeln seines Fachs kennen
und beherrschen muss. Er muss sich im­
mer genauestens über die derzeit aner­
kannten Verfahren und Verarbeitungsme­
thoden in seinem Bereich informieren. Als
Informationsquellen stehen ihm neben
eigenen Erfahrungen auch die Ausfüh­
rungen in der Fachliteratur, die er auf­
merksam verfolgen sollte, zur Verfügung.
Des Weiteren kann es für ihn hilfreich
13 DEGA-Empfehlung 103, Tabelle 10: orientierende
Beschreibungen der subjektiven Wahrnehmbarkeit von üblichen Geräuschen aus benachbarten
Wohneinheiten, Kat. D: Wasserinstallationen,
Urinieren hörbar
sein, regelmäßig Kurse und Lehrgänge zu
besuchen. Das Erfüllen dieser Pflicht liegt
in seinem ureigensten Interesse.14 Aber
auch wenn der Wortlaut eindeutig ist,
kommt man bei der Auslegung oft nicht
ohne Rückgriff in Anlehnung auf die Ra­
tio Legis15 aus. Dafür ein Beispiel: Das Ver­
bot »Betreten des Rasens verboten« ist
sprachlich an sich eindeutig. Die einfache,
vom Verwender zu entscheidende Frage,
ob auch das Befahren darunter fällt, ist
nach dem Wortlaut klar zu verneinen,
nach dem Sinn (Auslegung) hingegen
ohne Weiteres zu bejahen. Spricht das
Gesetz nur von Bürgern, so kann zweifel­
haft sein, ob darunter auch die Bürge­
rinnen fallen. Die angemessene Anwen­
dung von Normen oder Regelwerken
sollte mit kritischem Verstand selbstver­
ständlich sein. Sachverständige sollten
Normtexte nicht stur nach Buchstaben­
auslegung wortwörtlich nachbeten. Ge­
wöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur
Worte hört, es müsse sich dabei doch
auch was denken lassen. Die Erreichung
eines Schutzzieles sollte im Mittelpunkt
stehen und nicht das wortgetreue Nach­
eifern. Das Schutzziel wird erreicht, völlig
egal ob eine Aufkantungshöhe bei Flach­
dächern 15 cm oder nur 12 cm beträgt.
Wird eine Fachgröße einstweilen auf der
zentimetergenauen
Einhaltung
der
»15-cm-Regel« beharren, sollte man fra­
gen, ob deren Historie bekannt ist. Mit­
nichten lag ihr Anfang in einer Norm. Sie
14 Seibel, Baumängel und anerkannte Regeln der
Technik – Handbuch für Baujuristen, Rdn. 539
15 Sinn des Gesetzes, Grund des Gesetzes, ein zentrales Kriterium bei der Auslegung ist schließlich
der Sinn und Zweck, den der Gesetzgeber mit
der betreffenden Rechtsnorm verfolgt – die ratio
legis, vgl. BGH v. 24.6.1955, NJW 1955, 1433,
1434
55 |
Baurecht
Man kann zu allem Unglück davon spre­
chen, dass sich in diesem Zusammenhang
eine regelrechte »DIN-Gläubigkeit« ent­
wickelt hat. Dieser Standard erweist sich
aber nur als Mindeststandard, quasi ein
Lenkrad, Motor, Bremsen, Räder und,
weil es der Gesetzgeber will, eine Weg­
fahrsperre. Darunter geht nichts. Nach
BGH kommt es auf die Einhaltung der an­
erkannten Regeln der Technik an. Diese
dürfen keineswegs mit den DIN-Normen
identisch gesetzt werden. Die Mangelfrei­
heit kann nicht ohne Weiteres einer DINNorm entnommen werden.8 In Normen
stehen nicht nur Weisheiten, manches ist
auch schlicht falsch. Die regelmäßig in
Bauträgerverträgen in Verweis genom­
mene DIN 41099 beschreibt Anforderun­
gen an den Schallschutz mit dem Ziel,
Menschen vor »unzumutbaren Belästigungen durch Schallübertragung zu
schützen«, also ein Schutz vor gesund­
heitlichen Schäden. Im Gebälk der immer
noch aktiven Norm dreht der Holzwurm
sturheil seine Runden. Sie steht zu heu­
tigen Komfortansprüchen in krassem
Missverhältnis. Beileid verdient auch der
»erhöhte« Schallschutz.10 Bei Wohnungs­
trenndecken liegt er mit erf. R´w = 55 dB
nur 1 dB über der Schmerzgrenze. »Ein
Dezibel ist kein Dezibel.« Ein Unterschied
von nur einem Dezibel ist für das mensch­
liche Gehör nicht wahrnehmbar11 und
bietet im Geschosswohnungsbau keinen
hohen Schutz, wie es der Begriff »erhöht«
erwarten lassen würde. Ein wirklich guter
Schallschutz wird erst erreicht, wenn die
Empfehlungen für den erhöhten Schall­
schutz um etwa 5 dB übertroffen werden.
Weshalb greift man nicht zu einem allseits
verständlichen Werkzeug, vergleichbar
der Energieverbrauchskennung? Die Re­
genbogentabelle ist selbsterklärend. An
jeder Waschmaschine findet man sie. Be­
reits 2009 hat die DEGA eine verbrau­
cherfreundliche Kennzeichnung für den
Schallschutz im Wohnungsbau herausge­
geben.12 Sie kann zur Unterstützung der
Kaufentscheidung dienen, indem sie Aus­
kunft über die Schallschutzqualität bei