gimmick oder gewinn?

RECRUITING-SOFTWARE
MOBILE APPS
GIMMICK ODER GEWINN?
Beeindruckend leistungsfähige Algorithmen oder ein Matching, das dem Stein
der Weisen gleicht: Die Verheißungen von Recruiting-Apps sind vielfältig.
Das tatsächliche Leistungsvermögen hält den hohen Erwartungen aber nicht
immer Stand. Eine kleine Orientierungshilfe.
Winfried Gertz
S
ich mobil bewerben zu können und unverzüglich Feedback zu erhalten, erwarten
immer mehr Menschen. Möglich machen es superschnelle Leitungen: Sie schleusen
prall gefüllte Datenpakete durchs Netz
und zaubern sie in Gestalt von eigens
dazu entwickelten mobilen Anwendungen, sogenannten Apps, auf funktionstüchtige Endgeräte.
Studien zufolge ist die Mehrheit der
Personaler davon überzeugt, dass an
Mobile Recruiting kein Weg vorbeiführt.
Recruiter tüfteln an Strategien, die ihnen
höhere Reichweiten, neue Zielgruppen
und eine schnellere und intensivere Interaktion mit Bewerbern eröffnen. Doch
bloß ein Bruchteil der Karriere-Websites
von Unternehmen ist darauf vorbereitet: Wer sich mobil über offene Stellen
und die Anforderungen an Bewerber
informieren möchte, landet nicht selten
im digitalen Nirwana. Das liegt nicht
allein an technischen Defiziten, weiß
Frank Staffler, Recruiter der Deutschen
Telekom: „Bewerber rechnen fest mit
komfortablen und raschen Abläufen,
doch diese Erwartungshaltung trifft oftmals auf schwerfällige Abstimmungsund tradierte Kommunikationsprozesse.“
VOLLER HOFFNUNG
Große Hoffnungen wecken daher Recruiting-Apps für Bewerber. Zu Berühmtheit
ist beispielsweise Truffls gelangt, auch als
„Tinder for Jobs“ geläufig. Die App über-
trägt das Dating-Prinzip – die Guten ins
Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen
– auf den Arbeitsmarkt. Aus den präsentierten Jobofferten, die aus Jobbörsen,
Suchmaschinen und Business-Netzwerken wie Xing und LinekdIn stammen,
„wischt“ der User Angebote heraus: Links
landen die Vorschläge im virtuellen
Papierkorb, mit einem Wisch nach rechts
wird Interesse bekundet, ehe die App das
anonyme Kurzprofil an den Recruiter
schickt. Zeigt er Interesse, wird ihm angezeigt, in welchen Aspekten der Kandidat
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gut geeignet ist. Auch andere Produkte
übernehmen dieses Prinzip.
Kenner der Szene sehen in solchen Apps
beachtliches Potenzial. „Sie bieten eine
überzeugende und einfach zu bedienende Funktionalität, meist ein Matching,
und nutzen die Mobilaffinität ihrer Nutzer“, sagt etwa Wolfgang Brickwedde, Leiter des Institute for Competitive Recruiting (ICR) in Heidelberg. Auch die
Straßburger Recruiting-Bloggerin Eva Zils
hält große Stücke auf derlei Apps, wobei
sie nicht nur Truffls aus dem Hause des
gleichnamigen Berliner Start-ups, sondern auch die schwedische Entwicklung
Selfiejobs oder das französische Pendant
Kudoz in den Blick nimmt.
Ebenfalls angetan ist Zils von der App
des französischen Unternehmens Jobaroundme. Sie arbeitet mit GPS-Daten und
setzt auf Augmented Reality. „Fahre ich
mit der Tram durch Straßburg beispielsweise gerade an der Versicherung Credit
Mutuel vorbei, zeigt mir die App ein
Video mit einem unterhaltsamen, informativen Rundgang durchs Unternehmen.“
Ähnlich ordnet Michael Witt, Teamleiter
Recruiting der Voith Industrial Services
GmbH in Stuttgart, die Storytelling-App
des österreichischen Start-ups Whatchado
ein. Dabei handelt es sich um Videos, in
denen Mitarbeiter wie in einem Interview oder Vieraugengespräch sehr persönlich über ihr Unternehmen sprechen.
Das dient einerseits zur Berufsorientierung von Youngstern, gewährt aber darüber hinaus auch Professionals Einblicke
in Unternehmen, die man über herkömmliche Bewerbungsverfahren kaum
gewinnt. Witt: „Hier stehen Mensch und
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Kultur im Vordergrund und erst dann
die Company.“
160 ZEICHEN UND EIN BILD
Über die App und die Website von Whatchado sind mittlerweile rund 4000 „Stories“ aus knapp 50 Ländern abrufbar.
Auch deutsche Firmen sind vertreten,
etwa die Allianz mit rund 25 Videos. Vergleichbar mit Whatchado ist das Kontaktnetzwerk Jobnative. Mit 160 Zeichen
sowie einem Bild oder Video präsentieren User sich selbst, ihre Fähigkeiten und
ihr Gesuch. Wie bei Truffls können User
und Recruiter unkompliziert in Kontakt
treten. Auch die App des US-Anbieters
Glassdoor überzeugt: User finden Stellenangebote, Arbeitgeberbewertungen
sowie Gehaltsvergleiche und können sich
über Vorstellungsgespräche austauschen.
Wie der Name schon andeutet, geht es
um ein Ziel: so viel Transparenz wie nur
irgend möglich.
Dezidiert an junge Leute, die noch in der
Phase der Berufsfindung stecken, richtet
sich Blicksta. Die von einer BertelsmannTochter entwickelte Plattform macht
auch als App von sich reden. Self-Assessments und weitere diagnostische Tests
dienen der Orientierung. Viele Unternehmen suchen auf Blicksta gezielt nach
potenziellem Nachwuchs.
Seit Oktober auch die Targobank: „Lernen wir jemanden kennen, der vielleicht
”
gerade in München einen Ausbildungsplatz sucht und aus unserer Sicht gut
geeignet ist, sprechen wir ihn schnell
an“, sagt Personalsprecherin Sonja Glock.
Freilich läuft noch nicht alles rund bei der
Bank, die Jahr für Jahr etwa 260 Azubis
einstellt. Zwar ist die Karriere-Website
laut Glock inzwischen mobiloptimiert,
doch „responsiv“ sei sie noch nicht.
Daher ist der schnelle Austausch, wie von
vielen Nutzern erwartet, noch nicht möglich. Die Kooperation mit Blicksta sei
lediglich ein „Testballon“.
SAFETY FIRST
Fassen wir zusammen: Apps, die sich an
Bewerber richten, lassen sich in großer
Zahl finden. Rund um das Thema Karriere, Jobsuche und Bewerbung stehen Hunderte in den Stores von Apple und Google zum Download bereit. Doch Recruiter
sollten sich Brickwedde zufolge gut überlegen, ob sie ihre Jobs bereitwillig für solche Lösungen öffnen. Denn hier drohe
ein massives Sicherheitsproblem. Würden deutsche Recruiting-Apps kaum Fragen aufwerfen, sei es etwa bei Apps aus
den USA gänzlich anders. „Insbesondere als Arbeitgeber würde ich mir die rechtliche Seite genau anschauen.“ Ein Datenschutz-Shitstorm könnte Unternehmen
hart treffen.
Nicht nur die Sicherheit wirft Fragen auf.
Laut Henrik Zaborowski, Recruiting-
Coach aus Bergisch Gladbach, sind die
meisten Apps von einem weiteren Manko gekennzeichnet: „Ihnen fehlt schlicht
die Reichweite.“ ICR-Chef Brickwedde
nennt es ein „Zwei-Fronten-Problem“.
Danach benötigen Apps viele Nutzer, um
für Arbeitgeber interessant zu sein, aber
auch sehr viele Jobs, damit ihre Nutzer
auch Suchergebnisse mit einer entsprechenden Suchqualität erhalten.
Von diesem Malheur sind Brickwedde
zufolge auch Xing und LinkedIn betroffen. Vor Jahresfrist hatte Xing lediglich
8000 Jobs anzubieten, dafür aber rund
8,5 Millionen Mitglieder. Die Qualität
der daraus resultierenden Empfehlung
(„Diese Jobs könnten zu Ihnen passen“)
war laut Brickwedde „stark verbesserungswürdig“. Dann rüstete Xing auf. Durch
den Kauf von Jobbörse.com kamen eine
Million Jobs hinzu, was für das Matching
zwischen Angebot und Nachfrage weitaus günstigere Prognosen erlaubt. „Wie
lange benötigen die Recruiting-Apps, um
ähnlich große Zahlen aufzubauen?“, fragt
Brickwedde. „Oder geht ihnen unterwegs
die Luft aus?“
Bis dato verfügen weder die Job-App von
Xing noch Linkedin Job Search über ein
professionelles Matching. Sei diese
Schwachstelle aber erst bereinigt, erwartet Brickwedde eine „spannende Wettbewerbssituation“. Mängel im Matching
beklagt auch Recruiter Witt. Er hat nicht
nur die Apps der Business-Netzwerke
Viele Angebote halten einer genaueren methodischen Überprüfung nicht stand
und werden recht flott wieder von der Bildfläche verschwinden.
Joachim Diercks, Recrutainment-Blog
unter die Lupe genommen, sondern sich
auch Apps von Jobbörsen wie Indeed,
Stepstone, Stellenanzeigen.de oder
Jobs.ch vorgeknöpft. Sein Urteil: „Schwierig zu handhaben, keine Möglichkeit zur
sinnvollen One-Click-Bewerbung.“
APPS FÜR RECRUITER
Wenden wir uns nun solchen Apps zu,
die sich primär an Recruiter richten. Laut
Brickwedde reicht die Spanne von einfachen Hilfen, um auf dem Laufenden zu
bleiben, wie etwa Recruiting News Feed,
bis hin zu cleveren Unterstützungstools,
die sich vor allem an Active Sourcer richten: „Aus Schlüsselwörtern oder Suchbegriffen bauen sie Boolesche Suchketten
auf, die sie auf Suchmaschinen loslassen.“ Talent Xray etwa diene der gezielten Suche von potenziellen Kandidaten.
Unkompliziert ließen sich über die Apps
von Hireview und Tungle Videointerviews mit Bewerbern führen und Termine vereinbaren.
Bloggerin Zils findet Apps für Recruiter
dann sinnvoll, wenn sie ihnen etwa
ermöglichen, die Wartezeit an der Bushaltestelle oder im Flughafen damit zu
verbringen, kurz Lebensläufe zu scannen
oder Absagen zu schreiben. Solche Aufgaben „on the go“ hätten gewiss Potenzial. Auf der Messe HR Tech in Paris hat
Zils interessante Angebote entdeckt, die
Personalern ermöglichten, schnell Verwaltungskram abzuarbeiten. „Spannend
finde ich eine Lösung des australischen
Unternehmens HR Onboard, das Papieraufwand komplett entmaterialisiert.“ Der
Anbieter verspricht nicht nur eine völlig
neue Bewerbererfahrung. Recruitern wird
”
Eine erfolgreiche App hat entweder eine sehr große Reichweite und ist sozusagen
für alle Zielgruppen relevant oder sie bedient eine kleine Nische, zum Beispiel eine
spezielle Branche oder einen bestimmten Berufszweig.
Henrik Zaborowski, Recruiting-Coach
garantiert, von jeglichem Verwaltungskram befreit zu werden. Solche Lösungen kämen Recruitern wie gerufen statt
ihnen, so Zils, „kostbare Zeit zu rauben“.
Freilich bleibt Unternehmen noch eine
weitere Alternative, um Bewerber auf sich
aufmerksam zu machen und schneller
zu rekrutieren: Sie entwickeln ihre eigene App. Auf der Cebit 2010 präsentierte
die Deutsche Telekom mit Jobs & More
die erste firmeneigene App im Recruiting-Markt. Bereits wenige Wochen später kletterte sie auf Rang eins im Appstore. Andere Konzerne wie Daimler oder
BMW eiferten der Telekom nach. Dort
sind inzwischen weitere Apps hinzugekommen. Während Jobs & More laut
Recruiter Staffler auf allen Endgeräten
mit iOS-, Windows- oder AndroidBetriebssystem verfügbar ist und für Printund Online-Recruiting-Kampagnen, als
interne Jobbörse sowie auf Messen mit
starkem Publikumsverkehr eingesetzt
wird, konzentriert sich zum Beispiel die
App Select ganz auf Assessment-Center.
Die 2014 mit dem HR Excellence Award
prämierte App wurde für das iPad optimiert, mit dem Moderator, Beobachter
und Kandidaten durch die Auswahlverfahren navigieren.
VIEL TAMTAM, WENIG SUBSTANZ
Zeit für ein Fazit. Firmeneigene Apps
bieten sich lediglich für Konzerne an.
Prinzipiell könne eine App nur dann
erfolgreich und hilfreich sein, erläutert
Zaborowski, sofern sie eine von zwei
Bedingungen erfülle: „Entweder hat sie
eine sehr große Reichweite und ist sozusagen für alle Zielgruppen relevant oder
sie bedient eine kleine Nische, zum Beispiel eine spezielle Branche oder einen
bestimmten Berufszweig.“ Solche Apps
seien ein „nettes Gimmick“, mehr aber
nicht. Ein digitales Unternehmen wie
die Telekom komme daran kaum vorbei. Angesichts der Größe des Unternehmens könne eine eigene Recruiting-App
durchaus sinnvoll sein. „Für 99,99 Prozent der anderen Unternehmen gilt das
nicht.“
Auf der anderen Seite wartet ein unüberschaubares Angebot an Bewerber-Apps
auf Kundschaft. Die mit viel MarketingTamtam feilgebotenen Lösungen enthalten bei Lichte betrachtet jedoch selten
Substanz. Insbesondere im Matching würden viele enttäuschen, sagt Joachim
Diercks, Betreiber des RecrutainmentBlogs.
Das Versprechen, Bewerber und Unternehmen auf überzeugende Weise zusammenzuführen, würde selten eingelöst.
„Viele Angebote halten einer genaueren
methodischen Überprüfung nicht stand
und werden recht flott wieder von der
Bildfläche verschwinden.“
Wie eingangs skizziert, bleiben zudem
die innerbetrieblichen Recruiting-Prozes-
se ein vielfach ungelöstes Problem. Wie
es scheint, nimmt es angesichts der neuen Verfahren sogar an Tragweite zu. Staffler hat die Erfahrung gemacht, dass mobile Schnellbewerbungen bei traditionellen
Entscheidern aufgrund des geringeren
Informationsumfangs und des unkomplizierten Verfahrens „weniger Anerkennung finden als die klassische Bewerbung“.
Dieses grundsätzliche Manko im Recruiting wird in der einschlägigen Community nicht ausgeblendet. So wurde etwa
beim letzten HR Hackathon (www.hrhackathon.net) intensiv daran gearbeitet, wie
verschiedene Abteilungen nicht mehr virtuell kooperieren, sondern direkt und im
persönlichen Kontakt.
WEG VOM GEDÖNS
Zils zufolge entwickelt sich womöglich
ein neuer Trend: Recruiter, die sich in
den letzten Jahren aller denkbaren
modernen Verfahren bedient haben,
berichten, dass sie „lieber wieder persönlich statt digital kommunizieren und
kooperieren wollen“.
Gesundheitliche Gefahren, die aus Strahlung, Elektrosmog und WLAN-Wellen
resultieren, seien nicht mehr wegzudiskutieren. Vielleicht heiße die nächste
Gegenbewegung also Slow Recruiting:
„Weg vom virtuellen Gedöns – so eine
Art Digital Detox.“
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