Jürgen Kattner

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persönlich
BEK Forum Februar 2016
Chef im Zelt
text & foto
Matthias Dembski
Jürgen Kattner leitet die Flüchtlingsnotunterkunft im Bayernzelt. Stressfrei ist das Zusammenleben
im Zelt nicht, und sein Arbeitsalltag ist kaum planbar. Zwischen Behördenkontakten und
Technikmanagement geht es deshalb vor allem darum, eine gute Atmosphäre zu schaffen.
Es ist warm im Bayernzelt – trotz Minustemperaturen draußen. So warm, dass Jürgen
logistischen und technischen Fragen gilt es auch, Streitigkeiten unter den Bewohnern
Kattner im T-Shirt auf der Empore sitzen kann, wo während des Freimarktes sonst die
zu schlichten. „Manchmal gibt es Stress, und wir müssen die Hausordnung durch-
Kapelle spielt. Seit Anfang Dezember steht das Bayernzelt an der Neuenlander Stra-
setzen. Aber in aller Regel blicke ich in freundliche, entspannte Gesichter, wenn ich
ße und beherbergt bis zu 229 Flüchtlinge, aktuell sind es knapp 150. „Weit draußen
durchs Zelt gehe.“
und schlecht angebunden“, war der erste Gedanke von Kattner, der die Zelt-Notunterkunft leitet. „Aber es hat sich schnell rausgestellt, dass die Flüchtlinge gern hier
Ehrenamtliche für Kleiderkammer und Spielzimmer gesucht
wohnen, weil es hier drinnen auch mitten im kalten deutschen Winter angenehm
ist. Außerdem haben wir eine eigene Küche vor Ort. Ein Dach überm Kopf, Wär-
Die Welle nachbarschaftlicher Hilfsbereitschaft hat das achtköpfige Bayernzelt-Team
me, zur Ruhe kommen – viel mehr wünschen sich unsere Bewohner erstmal nicht.“
überrascht. „Der Flughafen, Airbus und Aerospace haben uns mit Spenden vom PC
Natürlich bleibe das Zelt eine Notunterkunft mit allen Nachteilen. Leichtbauwände
über die Büroausstattung bis zum WLAN unterstützt. Auch jetzt sammeln sie wieder
trennen die nach oben offenen Mehrbett-Zimmer. Irgendwo spielt jemand Gitarre,
gezielt Männerkleidung in kleinen Größen für unsere Bewohner. Auch zur Kirchen-
und es klingt, als ob im ganzen riesigen Zelt ein Radio läuft. Bis Ende Mai bleibt
gemeinde Bremen-Neustadt haben wir Kontakt.“ Für die Sortierung und Organisati-
die Notunterkunft stehen, danach geht das Bayernzelt wieder auf die Jahrmärkte.
on der Kleiderkammer und des Spielzimmers sucht Kattner derzeit noch ehrenamtli-
„Wir haben vor allem Puffer-Plätze für die ZAST (Zentrale Erstaufnahmestelle). Wenn
che Helferinnen und Helfer. „Für viele Menschen sind Flüchtlinge noch immer weit
Flüchtlinge dort ankommen, schickt man sie für ein bis zwei Nächte erstmal zu uns,
weg, weil sie ihnen nicht begegnen. Bei uns kann man erleben, wie dankbar sie
bevor sie erfasst sind und anderswo einen Wohnplatz bekommen. Außerdem sind
für Hilfe und Zuwendung sind. Wir sind hier mit Leib und Seele dabei, weil unsere
wir Ausweichquartier für Zelt-Bewohner aus der Überseestadt und hier leben dau-
Arbeit sinnvoll ist.“
erhaft junge Flüchtlinge, bei denen sich herausgestellt hat, dass sie nicht mehr minderjährig sind.“ Die meisten Flüchtlinge leben nur kurz an der Neuenlander Straße.
„Wer hier ankommt, ist nach der monatelangen Flucht sehr erschöpft. Vielen schwellen die Füße an, wenn sie bei uns das erste Mal zur Ruhe kommen.“ Oft werden die
Flüchtlinge schnell krank. „Zum Glück gibt es Notfallkrankenscheine, weil diese
Flüchtlinge ja erst registriert werden und noch keine Krankenversicherungskarte haben.“ Mit einem Taxiunternehmen gibt es einen Transportvertrag, so dass sie schnell
zum Arzt kommen, wenn sie nicht selber gehen können.
„Nach sechs Wochen ist man ein alter Hase“
„Ich wollte die Situation der Flüchtlinge nicht nur am Fernseher erleben, sondern
selber etwas für sie tun“, erzählt der Sozialpädagoge, der viele Jahre in der Behindertenhilfe gearbeitet hat. Auch wenn die Flüchtlingsarbeit für ihn völlig neu war:
„Nach sechs Wochen ist man hier ein alter Hase mit viel Erfahrung und kann Kollegen in neuen Zeltunterkünften beraten.“ Wie ein Arbeitstag abläuft, wisse sein Team
nie. „Manchmal muss man alles stehen und liegen lassen und sofort handeln. Multitasking gehört für uns zum Arbeitsalltag.“ Zwischen Behörden- und Arztkontakten,
f
fakten
Etwa 1.300 Menschen sind derzeit in Bremen in winterfesten Zeltunterkünften untergebracht. 2015 hat das Land Bremen insgesamt 10.274 Flüchtlinge
aufgenommen.
k
kontakt
Jürgen Kattner, Leitung Notunterkunft Bayernzelt
Neuenlander Straße 117
Telefon 0160-92 89 68 91
[email protected]
Der Verein für Innere Mission betreut u.a. auch die Zeltstädte Überseetor
und Kaffeequartier.
www.inneremission-bremen.de