Länderbericht Ägypten 4. Juni 2015 Herausgegeben von Dr. Roby Nathanson Der Hans-Böckler-Stiftung vorgelegt Inhaltsverzeichnis Kapitel 1: Armuts- und Einkommensverteilung ................................................................... 1 1. Einführung .......................................................................................................................... 1 2. Zustand und Entwicklung von Ungleichheit und Armut in Ägypten ................................. 2 3. Wachstum, Armut und Ungleichheit .................................................................................. 5 3.1 Statistische Analyse ............................................................................................................. 6 3.2 Empirischer Nachweis ......................................................................................................... 7 4. Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Armut und Ungleichheit ....................................... 8 5. Umverteilungspolitik, Armut und Ungleichheit ............................................................... 10 5.1 Beschreibung ..................................................................................................................... 10 5.2 Auswirkungen ................................................................................................................... 12 6. Globalisierung................................................................................................................... 15 7. Fazit .................................................................................................................................. 18 Literaturhinweise ............................................................................................................................... 20 Kapitel 2: Bildung, Berufsausbildung und der Arbeitsmarkt ........................................... 22 1. Einführung ........................................................................................................................ 22 2. Das Bildungssystem.......................................................................................................... 23 2.1 Allgemeiner Hintergrund................................................................................................... 23 2.2 Höhere Bildung ................................................................................................................. 25 2.3 Berufsausbildung ............................................................................................................... 27 3. Statistische Analyse .......................................................................................................... 33 3.1 Internationaler Vergleich ................................................................................................... 33 3.2 Die Bildung in Ägypten..................................................................................................... 36 4. Ungeeignete Qualifikationen ............................................................................................ 39 5. Schulungen in Unternehmen ............................................................................................. 44 6. Fazit .................................................................................................................................. 45 Literaturhinweise ............................................................................................................................... 47 Kapitel 3: Emigration ............................................................................................................ 49 1. Einführung ........................................................................................................................ 49 2. Statistische Analyse .......................................................................................................... 50 2.1 Internationaler Vergleich ................................................................................................... 50 2.2 Die ägyptische Emigration näher betrachtet...................................................................... 53 3. Die Entscheidung zur Migration ....................................................................................... 55 4. Auswirkungen der Emigration auf das Heimatland .......................................................... 59 4.1. Geldüberweisungen ........................................................................................................... 59 4.2 Rückwanderungen ............................................................................................................. 62 4.3 Sonstige Auswirkungen ..................................................................................................... 64 5. Fazit .................................................................................................................................. 66 Literaturhinweise ............................................................................................................................... 68 Kapitel 4: Arbeitsvorschriften, Gewerkschaften und Arbeitnehmer ................................ 70 1. Einführung ........................................................................................................................ 70 2. Die Arbeitsvorschriften..................................................................................................... 71 2.1 Kurzer historischer Überblick ........................................................................................... 71 2.2 Die aktuelle Situation ........................................................................................................ 72 2.3 Die Anwendung der Vorschriften...................................................................................... 75 3. Die Gewerkschaften .......................................................................................................... 77 3.1 Kurzer Überblick ............................................................................................................... 77 3.2 Der gesetzliche Rahmen der Gewerkschaften ................................................................... 79 3.3 Jüngste Entwicklungen ...................................................................................................... 82 4. Fazit .................................................................................................................................. 84 Anhang A: Die Berechnung der rechtlichen und faktischen Indizes................................................. 86 Literaturhinweise ............................................................................................................................... 87 Kapitel 5: Handelsabkommen ............................................................................................... 88 1. Einführung ........................................................................................................................ 88 2. Integrationsabkommen ...................................................................................................... 89 2.1 Der Integrationsprozess zwischen Ägypten und der EU ................................................... 90 2.2 Der Prozess der panarabischen Integration ....................................................................... 92 3. Handel ............................................................................................................................... 94 3.1 Gesamthandel .................................................................................................................... 94 3.2 Handel nach Hauptpartnern ............................................................................................... 95 3.3 Die Zusammensetzung des Handels .................................................................................. 97 4. 5. Die Auswirkungen ägyptischer Handelsabkommen ....................................................... 101 4.1 Aktuelle Abkommen ....................................................................................................... 101 4.2 Projektierte Abkommen: Freihandelsabkommen (DCFTA) zwischen der EU und Ägypten........................................................................................................................... 105 Fazit ................................................................................................................................ 109 Literaturhinweise ............................................................................................................................. 111 Kapitel 1: Armuts- und Einkommensverteilung 1. Einführung Armutsbekämpfung ist ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung und eines der Hauptziele der Millennium Development Goals (MDG). Während in den MDG auf Ungleichheit nicht explizit hingewiesen wird, ist sie ein nicht zu unterschätzendes Problem, obwohl einige Wirtschaftsexperten davon ausgehen, dass so lange die Armut gering gehalten wird, keine Dringlichkeit besteht, sich um die Ungleichheit zu kümmern. Sie argumentieren, dass die Konzentration von Reichtum mindestens in frühen Entwicklungsstadien Einsparungen, Investitionen und Wachstum generieren könnte. Es gibt also keinen Grund, die Gewinne der sehr Reichen zu beschränken. Das Argument erinnert an die bekannte Kuznets-Hypothese. Diese besagt, dass während eine Wirtschaft sich entwickelt, die wirtschaftliche Ungleichheit durch die Marktkräfte zuerst erhöht und dann reduziert wird. Daher kann in einem frühen Stadium der Entwicklung Gleichheit auf Kosten des Wachstums gehen. Es gibt jedoch starke Gegenargumente. Erstens zeigen grundlegende wirtschaftliche Prinzipien, dass sich die Verteilung des Einkommens in einem Land direkt auf das Wohlergehen des Volkes auswirkt. Die Maximierung des gesamtwirtschaftlichen Wohlergehens stand immer im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Analyse. Eine ausgewogenere Verteilung des nationalen Einkommens bedeutet, dass das Gesamtwohlergehen (bei gleicher Gewichtung des Wohlergehens des Individuums) für einen gegebenen Durchschnitt des Pro-Kopf-Einkommens höher ist. Zudem ist Gerechtigkeit für den Aufbau sozial ausgewogener Staaten mit einer starken Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung. Beobachtungen zeigen schließlich, dass sich häufig in den ärmsten Ländern ein hohes Maß an Ungleichheit findet (UNRISD, 2010). Bedenken in Bezug auf Ungleichheit haben daher einen immanenten Wert. Dieses Kapitel befasst sich mit den Problemen der Armut und der Ungleichheit in Ägypten. Eine Studie von Bibi und Nabli (2009) hat gezeigt, dass die relevante Literatur sehr eingeschränkt ist. Die Autoren haben außerdem gezeigt, dass abgesehen von den Problemen in Bezug auf die Messung, Untersuchungen zu Armut und Ungleichheit in arabischen Ländern zwei Hauptspuren verfolgt haben. Die erste Spur hat sich auf die Zusammenhänge zwischen Wachstum und Ungleichheit sowie deren Auswirkungen auf die Armutsbekämpfung konzentriert. Die zweite befasste sich mit den Auswirkungen staatlicher Politik auf Armut und Ungleichheit. Beide gelangen zu dem Ergebnis, dass in allen 1 arabischen Ländern, außer in Ägypten, das auch in Kontraktionsphasen einen Umverteilungseffekt zugunsten der Armen erfahren hat, Wachstum der Hauptfaktor der kontinuierlichen Armutsbekämpfung war. Was die Politik anbetrifft, lag der Fokus im arabischen Kontext auf der öffentlichen Verwaltung, auf Sozialausgaben sowie auf Investitionen in Humankapital und Globalisierung. Das Kapitel ist wie folgt unterteilt: In Abschnitt 2 wird der Zustand und die Entwicklung von Ungleichheit und Armut in Ägypten analysiert. Abschnitt 3 diskutiert die Beziehung zwischen Wachstum, Armut und Ungleichheit innerhalb eines bestimmten Landes. In Abschnitt 4 wird dasselbe in Bezug auf die öffentliche Verwaltung diskutiert. Abschnitt 5 beurteilt die Rolle der Sozialpolitik, während in Abschnitt 6 die Auswirkung der Globalisierung auf Armut und Ungleichheit untersucht wird. Abschnitt 7 enthält das Fazit. 2. Zustand und Entwicklung von Ungleichheit und Armut in Ägypten Vor der näheren Untersuchung des Zustands und der Entwicklung von Ungleichheit und Armut in Ägypten sind einige Vorbehalte zu beachten, die eine gewisse Vorsicht bei der Interpretation der Daten nahelegen. Erstens sind die Daten nicht ohne Weiteres verfügbar. Obwohl die meisten Länder regelmäßig Befragungen von Haushalten durchführen, ist der Zugang zu solchen Daten stark erschwert. Zweitens sind solche Erhebungen nicht in der Lage, das Einkommen der reichsten Sektoren der Gesellschaft verlässlich abzubilden, was dazu führt, dass die vorhandenen Messungen die Ungleichheit sehr wahrscheinlich unterbewerten. Drittens werden die Befragungsergebnisse nicht durch Abgleich mit anderen Datenquellen wie etwa Arbeitsmarktdaten (Lohnstatistik) oder Steuerdaten validiert. Schließlich werden die Auswahl der Stichproben und die Befragungsmethoden in den arabischen Staaten nicht einheitlich gehandhabt, wodurch die Rangfolge der einzelnen Staaten etwa beim Gini-Index auf die unterschiedliche Erhebung und Verarbeitung der Daten zurückzuführen sein mag und nicht zwingend die tatsächlichen Verhältnisse wiedergibt (Nabli and Bibi, 2009). Um das Störpotential der erwähnten Faktoren auf unsere Untersuchung zu beschränken, möchten wir uns so weit wie möglich auf eine und dieselbe Datenquelle abstützen, d. h. für dieses Kapitel auf die so genannten Weltentwicklungsindikatoren (World Development Indicators, WDI) der Weltbank. Abb. 1 zeigt den durchschnittlichen Gini-Index von 2005-2010 und die Entwicklung des Index für Ägypten und vergleichbare Länder zwischen 1990 und 2010. Innerhalb der Region 2 Mittlerer Osten und Nordafrika (MENA) weist Ägypten zwischen 2005 und 2010 die niedrigsten Gini-Werte auf. Gegenüber den übrigen Vergleichsländern ist Ägyptens GiniWert ähnlich wie jener Pakistans, aber niedriger als jener aller anderen Länder. Was die Entwicklung anbetrifft, zeigt Ägypten zwischen 1990 und 2010 fast keine Veränderung. Auch in den Vergleichsländern ist kein bestimmtes Muster erkennbar. Die Entwicklung in Ägypten mag enttäuschen, Dabei ist jedoch Folgendes zu bedenken: Einerseits gehörte Ägyptens GINI-Index in den Jahren 1990-1995 bereits zu den niedrigsten, sodass keine eindrückliche Verbesserung erwartet werden kann. Andererseits wiesen Indien und Indonesien in den Jahren 1990-1995 ähnliche Werte wie Ägypten auf, wobei sich deren Situation bis 2010 verschlechtert hat. Abb. 1: Gini-Koeffizient – Stand und Entwicklung Durchschnitt 1990-1994 Durchschnitt: 2005-2010 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 Ägypten Jordanien Jemen Tunesien Iran Marokko Israel Pakistan Indien Indonesien Vietnam Sri Lanka Nicaragua Philippinen El Salvador Paraguay Bolivien Guatemala Honduras Ägypten Jordanien Jemen Tunesien Iran Marokko Israel Pakistan Indien Indonesien Vietnam Sri Lanka Nicaragua Philippinen El Salvador Paraguay Bolivien Guatemala Honduras 0 15 Entwicklung: 1990-2010 10 5 -5 -10 Ägypten Jordanien Jemen Tunesien Iran Marokko Israel Pakistan Indien Indonesien Vietnam Sri Lanka Nicaragua Philippinen El Salvador Paraguay Bolivien Guatemala Honduras 0 -15 -20 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 3 Abb. 2 konzentriert sich auf Armut, gemessen am Anteil der Bevölkerung, die mit 1,25 und 2 (PPP) US-Dollar oder weniger am Tag lebt. Der erste Schwellenwert (1,25) soll extreme Armut zeigen, der zweite „normale“ Armut. Extreme Armut scheint in der MENA-Region, außer in Jemen, in 2005-2010 sehr gering zu sein. Sie ist zudem geringer als in allen anderen Vergleichsländern. Die extreme Armut ist zwischen 1990 und 2010 generell zurückgegangen. In Bezug auf Armut (Schwellenwert von 2) ist Ägypten schlechter als der Rest der MENARegion (außer Marokko und Jemen) und viele andere Vergleichsländer aufgestellt. Was die Entwicklung der Armut anbetrifft, hat sie sich in Ägypten ähnlich wie in anderen MENALändern verringert, jedoch um viel weniger als in Nicht-MENA-Ländern. Die Ungleichheit in Ägypten war und bleibt, zusammenfassend gesagt, gering im Vergleich zu Ländern in und außerhalb der Region. Extreme Armut ist gering und rückläufig. In Bezug auf Armut ist Ägypten schlechter als der Rest der MENA-Region (außer Marokko und Jemen) und viele andere Vergleichsländer aufgestellt. Abb. 2: Armutsquote (PPP, % der Bevölkerung) – Stand und Entwicklung 80 70 70 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 Jordanien Israel Tunesien Iran Ägypten Marokko Jemen El Salvador Nicaragua Paraguay Sri Lanka Guatemala Bolivien Honduras Vietnam Philippinen Pakistan Indonesien Indien 80 4 Jordanien Israel Tunesien Iran Ägypten Marokko Jemen El Salvador Nicaragua Paraguay Sri Lanka Guatemala Bolivien Honduras Vietnam Philippinen Pakistan Indonesien Indien Durchschnitt ($ 2 am Tag): 2005-2010 Durchschnitt ($ 1,25 am Tag): 2005-2010 Entwicklung ($ 1,25 am Tag): 1990-2010 20 10 10 0 0 -10 Jordanien Israel Tunesien Iran Ägypten Marokko Jemen El Salvador Nicaragua Paraguay Sri Lanka Guatemala Bolivien Honduras Vietnam Philippinen Pakistan Indonesien Indien 20 -10 -20 -20 -30 -30 -40 -40 -50 -50 Jordanien Israel Tunesien Iran Ägypten Marokko Jemen El Salvador Nicaragua Paraguay Sri Lanka Guatemala Bolivien Honduras Vietnam Philippinen Pakistan Indonesien Indien Durchschnitt ($ 2 am Tag): 1990-2010 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 3. Wachstum, Armut und Ungleichheit Wie in der Einführung erläutert, ist Wachstum einer der Mechanismen, mit denen Ungleichheit und Armut reduziert werden können. Dollar und Kraay (2002) haben, neben anderen, gezeigt, dass gesamtwirtschaftliches Wachstum zu entsprechendem Einkommenswachstum der Armen führt. Während diese Befunde unterschiedlichen Definitionen der Armut standzuhalten scheinen, kann eine Reihe anderer Faktoren derartige positive Auswirkungen behindern. Lopez (2004), der den Effekt unterschiedlicher politischer Strategien auf die Ungleichheit untersucht hat, hat festgestellt, dass Verbesserungen in der Bildung und Infrastruktur zur Reduzierung der Einkommensungleichheit führen können, während finanzielle Entwicklung, die Beseitigung von Handelsschranken und die Verkleinerung des Staatsapparats die umgekehrte Wirkung haben können, d. h. es besteht die Gefahr, dass sie die Ungleichheit vergrößern. Die Berechnungen legen nahe, dass die negativen Auswirkungen dieser politischen Strategien die positiven Auswirkungen auf die Ungleichheit zumindest kurzfristig aufwiegen. Diese Zusammenhänge sind in den verschiedenen Ländern jedoch komplex und uneinheitlich, und es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Studien zu diesem Problem in arabischen Ländern. In diesem Abschnitt versuchen wir zunächst einen allgemeinen Eindruck der Entwicklung von Ungleichheit, Armut und Wachstum in Ägypten und in einer Reihe von ähnlichen Ländern zu gewinnen und befassen uns dann eingehender mit den Ergebnissen der Literatur zu Ägypten. 5 3.1 Statistische Analyse Abb. 3 legt nahe, dass 4 Länder in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit besser als Ägypten aufgestellt sind. Es handelt sich um Jordanien (MENA) und Nicaragua, El Salvador und Pakistan, die zwischen 1990 und 2010 eine größere Reduzierung des Gini-Werts mit einer geringeren Wachstumsrate als Ägypten im selben Zeitraum erreicht haben. Die übrigen Länder haben sich diesbezüglich schlechter entwickelt als Ägypten. Insbesondere Vietnam, Marokko, Indien und Sri Lanka weisen zwar eine höhere Wachstumsrate als Ägypten auf, jedoch auch eine größere Ungleichheit im selben Zeitraum. Abb. 3: Wachstum und Ungleichheit 15 10 5 0 -5 -10 -15 -20 GINI-Entwicklung 1990-2010 Pro-Kopf-BIP (konstante internationale $ 2011) Durchschnittliches Wachstum 1990-2010 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren Abb. 4 konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen Wachstum und Armut unter Verwendung derselben Indikatoren und desselben Zeitraums wie in den vorherigen Berechnungen. Die Reduzierung der extremen Armut (Schwellenwert von 1,25 US-Dollar) in Ägypten scheint, im Vergleich zu anderen Ländern, zu gering. In der MENA-Region ist Jordanien etwas besser aufgestellt: stärkere Reduzierung der extremen Armut bei einer tieferen Wachstumsrate. Außerhalb der Region ist die Situation in Pakistan, Nicaragua, Honduras und auf den Philippinen besser als in Ägypten. In diesen Ländern ist die extreme Armut merklich zurückgegangen, während ihre Wachstumsraten weit unter der von Ägypten lag. Das nahezu gleiche Bild ergibt sich in Bezug auf „normale“ Armut (Schwellenwert von 1,25 US-Dollar): Manche Länder sind diesbezüglich viel besser aufgestellt als Ägypten. 6 Abb. 4: Wachstum und Armut 20 0 10 -20 0 -10 -20 -30 Vietnam Nicaragua Indonesien Pakistan Sri Lanka Honduras El Salvador Philippinen Jordanien Tunesien Ägypten Indien Iran Marokko Israel Bolivien Paraguay -10 Vietnam Pakistan Indonesien Nicaragua El Salvador Honduras Philippinen Sri Lanka Indien Tunesien Jordanien Ägypten Iran Marokko Israel Paraguay Bolivien 10 -30 -40 -40 -50 -50 Armutsquote bei $ 1,25 am Tag (PPP) Entwicklung 1990-2010 (% der Bevölkerung) Pro-Kopf-BIP (konstante internationale $ 2011) Durchschnittliches Wachstum 1990-2010 Armutsquote mit $ 2 am Tag (PPP) Entwicklung 1990-2010 (% der Bevölkerung) Pro-Kopf-BIP (konstant 2011 internationale $) Durchschnittliches Wachstum 1990-2010 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren Auf den ersten Blick widersprechen die Ergebnisse der beschreibenden Analyse dem Fazit von Bibi und Nabli (2009), dass Ägypten auch in Kontraktionsphasen einen Umverteilungseffekt zugunsten der Armen erfahren hat. Der nächste Abschnitt geht näher auf die anderen Faktoren ein, die sich auf den Zusammenhang zwischen Wachstum und Armut/Ungleichheit auswirken können. 3.2 Empirischer Nachweis Daymon and Gimet (2007) haben die Hauptdeterminanten der Reduzierung von Armut und Ungleichheit in 9 MENA-Ländern (Algerien, Ägypten, Iran, Kuwait, Jordanien, Marokko, Katar, Syrien und Tunesien) für den Zeitraum von 1980-2003 untersucht und dazu die Paneldatenanalyse verwendet. Sie haben festgestellt, dass diese Länder den KuznetsWendepunkt, an dem das Wachstum beginnt, die Ungleichheit zu reduzieren, noch nicht erreicht haben. Sie haben daher Strategien zur Reduzierung der Ungleichheit empfohlen, wie etwa die Erhöhung der Effizienz des Bildungswesens, die Reduzierung der Geschlechterungleichheit und den erleichterten Zugang zu Bankkrediten als wichtige Instrumente für die künftige Reduzierung von Ungleichheit und Armut. Kheir-El-Din und El-Laithy (2006) haben die Wachstumsinzidenzkurve (Growth Incidence Curves, GIC) unter Verwendung der ägyptischen Haushaltserhebungen der Jahre 1991, 1995, 1999 und 2004 geschätzt. Die GIC beschreibt die Korrelation zwischen der Entwicklung der Einkommensverteilung und dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Sie haben festgestellt, 7 dass das Wachstum über den gesamten Zeitraum zur Abnahme der Ungleichheit beigetragen hat. Marotta et al. (2011) haben für den Zeitraum zwischen 2005 und 2008 ähnliche Fragen gestellt. Um zu untersuchen, in welchem Ausmaß die Armen in Ägypten vom Wachstum profitieren konnten, haben sie die Veränderung der Einkommen der Armen mit der Veränderung der Einkommen der Schichten verglichen, die nicht als arm gelten. Das Wachstum soll dann armutsmindernd wirken, wenn die verteilungsspezifischen Änderungen, die mit dem Wachstum einhergehen, die Armen begünstigen. Die Ergebnisse legen nahe, dass Ägypten dank des schnellen wirtschaftlichen Wachstums zwischen 2005 und 2008 eine eindrückliche Reduzierung der Armut erreicht hat. Der Wohlstand einer durchschnittlichen Person, die 2005 arm war, hat zwischen 2005 und 2008 nahezu 10 Prozent pro Jahr zugenommen, was ausreichend war, um diesen Haushalt aus der Armut zu heben. Die Wohlhabenden haben jedoch mehr hinzugewonnen als die Armen, besonders in ländlichen Gebieten. Zudem wurden einige nicht als arm geltende Schichten durch das Wachstum negativen Dynamiken ausgesetzt, wodurch sie verarmt sind. Dies hatte zur Folge, dass in jenem Zeitraum auch die Ungleichheit zunahm, wodurch die Auswirkung des Wachstums auf die Reduzierung der Armut abgeschwächt wurde. Insgesamt blieb im Zeitraum von 20052008 nur 45 Prozent der ägyptischen Bevölkerung von der Armut verschont. Dies bedeutet, dass 55 Prozent der Ägypter im selben Zeitraum Armut erfahren oder am Rande der Armut gelebt haben. Die Armutsrate und die Rate der Armutsgefährdeten sind jedoch im Verlauf der Zeit von 46 Prozent auf 36 Prozent gefallen. 4. Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Armut und Ungleichheit Der öffentliche Sektor spielt in arabischen Ländern traditionell eine wichtige Rolle. Er beschäftigt zwischen 14 und 40 Prozent aller Arbeitnehmer (Abb. 5). Ägypten befindet sich diesbezüglich im Vergleich mit MENA-Ländern im Mittelfeld, verglichen mit Ländern wie Indonesien, Türkei, Mexiko und Brasilien jedoch auf einem viel höheren Niveau. Die Arbeitsbedingungen sind im öffentlichen Sektor in der Regel weitaus besser für Arbeitnehmer (z. B. Jobsicherheit, soziale Sicherheit, Gehälter usw.) als im privaten Sektor, was die Präferenz vieler Arbeitnehmer für Stellen im öffentlichen Dienst erklärt. 8 Abb. 5: Durchschnittliche Beschäftigungsanteile im öffentlichen Sektor (2000) Quelle: Weltbank (2013) Adams (2002) hat Daten nationaler Haushaltserhebungen von Ägypten und Jordanien verwendet, um die Auswirkung der unterschiedlichen Einkommensquellen, einschließlich Einkommen aus nicht landwirtschaftlicher Tätigkeit, auf die Ungleichheit von ländlichen Einkommen zu untersuchen. Er hat festgestellt, dass die Armen in beiden Ländern von einer bestimmten Einkommensquelle aus nicht landwirtschaftlicher Tätigkeit abhängen: von der Beschäftigung im öffentlichen Dienst. In Ägypten beziehen die Armen 43 Prozent ihres Einkommens aus nicht landwirtschaftlicher Tätigkeit von staatlichen Gehältern, während in Jordanien die Armen 60 Prozent ihres Einkommens aus dieser Quelle erhalten. Das heißt, die Beschäftigung im öffentlichen Dienst in beiden Ländern stellt eine die Ungleichheit verringernde Einkommensquelle dar. Adams und Page (2003) haben länderübergreifende Daten und Länderfallstudien verwendet, um Trends in Bezug auf Armut, Ungleichheit und wirtschaftliches Wachstum in der MENARegion zu analysieren. Sie haben gezeigt, dass sowohl internationale Überweisungen als auch die Beschäftigung im öffentlichen Dienst eine statistisch signifikant positive Auswirkung auf das Niveau der Armut und deren Ausmaß in der Region haben. Eine Steigerung des Anteils an Geldüberweisungen von 10 Prozentpunkten am BIP verringert die Armutsquote (1,00 USDollar pro Person und Tag) in der MENA-Region demnach durchschnittlich um 5,7 %, während eine Steigerung des Anteils der Beschäftigung im öffentlichen Dienst von 10 Prozentpunkten gemessen an der Gesamtbeschäftigung die Armutsquote um 6,2 % reduziert. Ein regionsübergreifender Vergleich legt zudem nahe, dass die Beschäftigung im öffentlichen Dienst zwar keine statistisch signifikante Auswirkung auf die Armut in den Entwicklungsländern per se hat, die Armutsinzidenz und das Armutsdefizit in der MENARegion jedoch reduziert (Bibi und Nabli, 2009). 9 5. Umverteilungspolitik, Armut und Ungleichheit 5.1 Beschreibung Um die gefährdete Bevölkerung zu schützen, setzen viele Regierungen auf eine soziale Umverteilungspolitik wie etwa soziale Sicherheitsnetze, Preissubventionen und Sozialversicherungssysteme. Soziale Sicherheitsnetze (SSN) umfassen Bargeld- oder geldwerte Transfers (z. B. Lebensmittelmarken), Sachmitteltransfers (z. B. Schulspeisung, Nahrungsmittelergänzungsleistungen für Mütter und Kinder, Lebensmittelrationen zum Mitnehmen) und Gebührenverzicht für lebensnotwendige Dienstleistungen (z B. Schulbildung, Gesundheitswesen, Versorgungsleistungen und Transport). Diese Programme sind im Gegensatz zur Sozialversicherung, die Leistungen umfasst, die auf zuvor geleisteten Beiträgen basieren (z. B. Arbeitslosenversicherung und Alters- oder Berufsunfähigkeitsversicherung) nicht beitragspflichtig. Viele Regierungen in der MENA-Region tendierten dazu, auf ein Umverteilungssystem zu setzen, das auf umfassenden Subventionen grundlegender Verbrauchsartikel basiert. Das garantierte erschwinglichen Zugang zu Nahrung und Brennstoff für alle Bürger, und zwar ungeachtet ihrer Bedürfnisse. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Region in der effizienten Verwendung von SSN-Ressourcen hinter anderen Regionen zurückliegt (Silva et al. 2013). MENA-Länder geben insbesondere durchschnittlich 5,7 Prozent des BIPs für Subventionen aus, gegenüber nur 1,3 Prozent des BIPs im Entwicklungslanddurchschnitt (siehe Abb. 6). In Ägypten repräsentieren Subventionen nahezu den gesamten Betrag des SSN. Zudem geben MENA-Länder, mit Ausnahme des Irak, viel mehr für die verzerrenderen und besonders die Reichen begünstigenden Brennstoffsubventionen (4,5 Prozent des ägyptischen BIPs) aus als für Nahrungsmittelsubventionen und Lebensmittelkarten (1,1 Prozent des BIPs), wie in Abb. 7 dargestellt. Bei den nicht-subsidiären Ausgaben konzentrieren sich die meisten MENA-Länder, einschließlich Ägyptens, auf Bargeldtransferprogramme (siehe Tabelle 1). 10 Abb. 6: SSN-Ausgaben mit und ohne Subventionen, 2008-11 Quelle: (Silva et al. 2013) Abb. 7: Nahrungsmittel- und Brennstoffsubventionen, 2008-2011 Quelle: (Silva et al. 2013) Tabelle 1: Anteil (%) von nicht-subsidiären SSN-Ausgaben nach Wirtschafts- und Programmart. 2008–2011 Bahrain Ägypten, arab Rep. Irak Jordanien Kuwait Libanon Marokko Saudi Arabien Syrische Arabische Republik Tunesien Westjordanland und Gaza Jemen, Rep. Bargeldtransfer Gebührenfreistellungen, Bildungs- und Gesundheitsleistungen Nahrungs- und andere Sachmitteltransfers Wohnungen Schulung WorkfareProgramme Andere k. A. k. A. Mikokredit und Einkommen generierende Aktivitäten k. A. k. A. 100,0 91,9 k. A. 8,1 k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. 100,0 44,5 100,0 k. A. 2,5 100,0 100,0 k. A. 0,5 k. A. 82,9 4,9 k. A. k. A. k. A. 8,7 k. A. k. A. 20,8 k. A. k. A. k. A. 1,1 k. A. k. A. 3,7 k. A. k. A. k. A. 29,6 k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. 15,6 k. A. 0,1 k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. 16,6 k. A. k. A. k. A. k. A. k. A. 17,1 51,6 k. A. k. A. 69,0 64,0 27,9 k. A. k. A. 34,3 k. A. k. A. k. A. 1,7 0,2 k. A. k. A. k. A. 2,8 k. A. 55,5 3,7 k. A. k. A. k. A. k. A. 40,8 k. A. Quelle: (Silva et al. 2013) Legende: '–' (nicht verfügbar), 'k.A.' (nicht zutreffend), '..' (vernachlässigbar) oder '0' (Null). 11 5.2 Auswirkungen Als erste Beurteilung der Auswirkungen des SSN wird in Abb. 8 die Anzahl der Leistungsempfänger in SSN-Programmen als Anteil der Gesamtbevölkerung der ausgewählten Länder präsentiert. Die Abbildung zeigt, dass sich die MENA-Länder in ihrer SSN-Abdeckung stark unterscheiden. In einigen Ländern, z. B. Ägypten, Irak, Kuwait und Syrien, ist die landesweite Abdeckung recht gering, in Jemen hingegen umfassend. Die Abdeckung durch Geldüberweisungen ist in Bahrain und Jemen am höchsten. Im Libanon profitiert ein Großteil der Bevölkerung von unentgeltlicher Behandlung in Krankenhäusern. Abb. 8: Landesweite Abdeckung von nicht-subsidiären SSN-Programmen, nach Programmart, 2008-11 Quelle: (Silva et al. 2013). Hinweis: SSN = Soziales Sicherheitsnetz. Die Abdeckungen der einzelnen Programme werden unabhängig von jeweils anderen hinzugefügt. Bei dieser Berechnung wird davon ausgegangen, dass es zwischen den SSN-Programmen keine Überlappungen gibt, weshalb sie die Obergrenze der Schätzung der SSN-Abdeckung repräsentiert. Statt nach der Abdeckung der Bevölkerung können die Auswirkungen des SSN gestützt auf die Einkommensklassen der Leistungsempfänger beurteilt werden. Aus dieser Perspektive ist die Kosteneffektivität einiger SSN als soziales Schutzinstrument sehr fraglich, weil ihre Verwendung nicht zielgerichtet ist. Etwas die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung in Jordanien profitieren von weniger als einem Viertel der Gesamtausgaben für Brennstoffsubventionen. In Ägypten ist die Situation diesbezüglich besser. Dort erhalten die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung etwas weniger als 40 % der Nahrungsmittelsubventionen (Abb. 9). Es wird jedoch häufig argumentiert, dass niedrige Brennstoff- und Nahrungsmittelpreise Verschwendung und Überkonsum verursachen, was zu Umweltschäden, 12 unwirtschaftlichen Investitionsentscheidungen und Wettbewerbsverzerrungen führen kann. In Ägypten haben Preissubventionen Berichten zufolge zur Verwendung von Brot als Tier- und Fischfutter geführt. Preissubventionen fördern zudem sozial unverträgliche Aktivitäten wie Schmuggel, Schwarzmärkte und Korruption (IMF, 2011). Abb. 9: Verteilung von Subventionen an verschiedene Einkommensgruppen (Anteil in Prozent) Quelle IWF (2011), Adams (2000) hat eine detailierte Analyse der Leistungsempfänger von Nahrungsmittelsubventionen vorgelegt. Bei der Untersuchung der Verteilungseffekte ägyptischer Nahrungsmittelsubventionen hat die Studie Daten von Haushaltserhebungen verwendet und gezeigt, dass das ägyptische Nahrungsmittelsubventionssystem klar auf die Armen ausgerichtet ist. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. In urbanen Gebieten wird das Nahrungsmittelsubventionssystem von einem Nahrungsmittel dominiert – einfaches Baladi-Fladenbrot – das absolut und relativ gesehen mehr von den Armen (unterste Quintilgruppe) als von den Reichen (oberste Quintilgruppe) konsumiert wird. Die Auswahl an Nahrungsmitteln, die in städtischen Gebieten subventioniert wird, hat zur Folge, dass die Armen mehr Einkommenstransfers aus Nahrungsmittelsubventionen erhalten als die Reichen. Im Gegensatz dazu ist das Nahrungsmittelsubventionssystem weniger gut auf die armen ländlichen Gebiete ausgerichtet. Dort ist das einzige subventionierte Nahrungsmittel, das in absoluten Zahlen mehr von den Armen konsumiert wird, Baladi-Weizenmehl. Obwohl die Armen von Einkommenstransfers von Baladi-Weizenmehl mehr profitieren als die Reichen, erhalten die Armen durch das gesamte Nahrungsmittelsubventionssystem im Einkommenstransfers als die Reichen. 13 ländlichen Ägypten etwas weniger Angesichts der finanziellen Last der Subventionsprogramme und des Problems der Zielausrichtung hat Ägypten verschiedentlich Änderungen am subventionierten Warenkorb vorgenommen. Audet et al. (2007) haben Dominanzkurven für den Konsum verwendet, um unter Verwendung der Integrierten Haushaltserhebung (EIHS) von 1997 die Auswirkungen auf die Armut zu analysieren, die durch die Änderungen im Nahrungsmittelsubventionssystem in Ägypten bewirkt wurden. Die Analyse konzentrierte sich auf die Ausgabenstruktur ägyptischer Haushalte, um besser zu verstehen, ob diese Reformen ein geeignetes Instrument für die Armutsbekämpfung waren. Zur Zeit der Erhebung wurden Zucker, Speiseöl, Weizen und Brot subventioniert, und die Reform bestand darin, stattdessen Zucker, Speiseöl, Makkaroni, Linsen und Bohnen zu subventionieren. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Reform nicht allen Fällen gut fundiert war. Zunächst wäre es angemessen gewesen, Makkaroni zu besteuern und die Subventionen für Brot zu erhöhen. Die Erhöhung der Steuern auf Makkaroni hätte eine höhere Subvention für Brot ermöglicht. Dies hätte wiederum eine Reduzierung aller Armutsindizes verursacht. Daher war diese Änderung der Liste der subventionierten Nahrungsmittel nicht wünschenswert, selbst wenn die Kosteneffizienz der Besteuerung von Makkaroni 23 % höher ist als die von Brot. Zweitens wäre es angemessen gewesen, Bohnen zu besteuern, um Tamwin-Brot zu subventionieren. Eine Erhöhung der Steuern auf Bohnen hätte eine Erhöhung der Subvention für Tamwin-Brot ermöglicht und die Armut nach allen Indizes reduziert. Auch diese Änderung der Liste der subventionierten Nahrungsmittel ist nicht wünschenswert, selbst wenn die Kosteneffizienz der Besteuerung von roten Bohnen (bzw. anderer Bohnen) 62 % (bzw. 188 %) höher ist als die der Besteuerung von Tamwin-Brot. Schließlich legen die Ergebnisse auch nahe, dass es angemessener gewesen wäre, Mehl zu besteuern, um die Subventionen für Linsen zu erhöhen. Der Austausch von Tamwin-Mehl durch Linsen auf der Liste der subventionierten Nahrungsmittel war aus der Sicht der Armutsbekämpfung hingegen eine wünschenswerte Entscheidung. Insgesamt scheint es, dass die Änderungen, die an der Liste der subventionierten Nahrungsmittel vorgenommen wurden, als Instrument für die Armutsbekämpfung nicht immer relevant waren. Laabas und Limam (2004) haben mehrere Komponenten der staatlichen Politik und deren Auswirkungen auf die Armut in sieben arabischen Ländern untersucht (Algerien, Marokko, Tunesien, Jordanien, Jemen, Mauretanien und Ägypten). Die Arbeit verwendete ein System, das die Endogenität von Wachstum, Einkommensungleichheit und Armut sowie die Wechselwirkungen dieser Faktoren unter Verwendung unterschiedlicher Definitionen von Armut und alternativer Schätzverfahren berücksichtigt. Es haben sich einige bemerkenswerte 14 Resultate ergeben. Erstens, die staatliche Politik wird sich durch ihren Effekt auf die Einkommensverteilung nur indirekt auf die Armut aus. Zweitens ist eine Politik, die auf eine gleichmäßigere Einkommensverteilung abzielt, effektiver in der Armutsbekämpfung als eine Politik, die die Erhöhung des durchschnittlichen Konsums und Wachstums bewirken soll. Drittens wirken Staatsausgaben, Transfers und eine Geldpolitik, die darauf abzielen, die Inflation zu reduzieren, armutsmindernd. Im Gegensatz dazu hat die Beseitigung von Handelsschranken, die zu den Instrumenten einer wachstumsorientierten Politik gehört, eine negative Auswirkung auf Einkommensverteilung und Armut. Viertens scheinen Transfers als Instrument der sozialen Ausgabenpolitik stärker auf die Einkommensverteilung und die Armut zu wirken. Schließlich hat eine Politik, die auf grundlegende Bedarfsprodukte wie Getreide abzielt, einen größeren Effekt auf Armut und Einkommensverteilung als eine gesamtheitlich ausgerichtete Politik. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass angesichts der widersprüchlichen Effekte der staatlichen Politik auf Wachstum, Armut und Einkommensverteilung die Auswahl der richtigen Mischung politischer Maßnahmen mit Vorsicht getroffen werden muss, um positive Ergebnisse zu erzielen. 6. Globalisierung Der anhaltende Globalisierungsprozess hat sowohl in entwickelten Ländern als auch in Entwicklungsländern Bedenken hinsichtlich seiner Auswirkungen auf Armut und Ungleichheit hervorgerufen. Empirische Daten, die speziell den Zusammenhang zwischen dem Handel und Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt betreffen, legen jedoch nahe, dass der Handel nicht die Hauptursache der Probleme auf dem Arbeitsmarkt (ob Lohnunterschiede oder Arbeitslosigkeit) ist, und zwar weder in entwickelten Ländern (Dewatripont et al., 1999) noch in Entwicklungsländern (Lee und Vivarelli, 2005). Das Hauptproblem ist nicht der Handel per se, sondern die mangelnde Fähigkeit der Wirtschaft (sowohl der Arbeitnehmer als auch der Unternehmen) sich durch Weiterbildung, technologische Anpassung, Erneuerung der Produkte und Neuausrichtung der Märkte an die Schocks der Marktöffnung anzupassen. Des Weiteren ist die Auswirkung der Handelsliberalisierung auf den Arbeitsmarkt weitgehend kontextspezifisch und tendiert dazu, von einem Land zum anderen zu variieren. Wie oben erläutert, ist Wachstum ein wichtiger Faktor der Armutsbekämpfung. Während die Auswirkungen des Handels auf den Wohlstand in der Welt bestens bekannt sind, gelten seine Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum einzelner Länder als umstritten. Levine und Renelt (1992), Edwards (1992) und Dollar (1992) haben festgestellt, dass die Liberalisierung 15 des Handels das Wachstum steigert. Nachfolgend haben Rodriguez und Rodrik (1999) die Stabilität der positiven Auswirkungen der Liberalisierung auf das Wachstum hinterfragt. Die anderen länderübergreifenden Daten (siehe hierzu die Studie von Berg und Krueger [2003]) unterstützen mehrheitlich nachdrücklich die Auffassung, dass die Liberalisierung des Handels zu höheren Einkommen führt, obwohl das Ausmaß dieses Effekts von der Art der gehandelten Waren abhängt (Hausmann et al., 2007). Sofern die Liberalisierung des Handels zu höheren Einkommen führt, sollte sich dieser Effekt auch bei den Armen bemerkbar machen, wie Dollar und Kraay (2002), neben anderen, gezeigt haben. Wie oben dargelegt, können derartige positive Auswirkungen jedoch durch mehrere andere Faktoren verhindert werden. Im Rest dieses Abschnittes untersuchen wir zunächst den Zusammenhang zwischen Globalisierung und Wachstum, der sich indirekt auf die Armut auswirkt. Anschließend diskutieren wir mögliche direkte Auswirkungen der Globalisierung auf die Armut. In einer ersten Studie (Makdissi et al., 2006) wurden die Hauptdeterminanten und Besonderheiten der Wachstumserfahrung in arabischen Ländern im Vergleich mit dem Rest der Welt analysiert. Die Autoren haben zwei sich ergänzende Ansätze verwendet. Der erste, das so genannte Growth Accounting, versucht, den relativen Beitrag von Realkapital, Arbeit und Totaler Faktorproduktivität (TFP) zum Wachstum zu ergründen. Der Ansatz hat gezeigt, dass die TFP in dieser Region im Vergleich zu anderen Regionen keine wichtige Quelle für das Wachstum darstellte. Das bedeutet, dass das Wachstum hauptsächlich auf dem akkumulierten Bestand an Realkapital und auf Arbeit und nicht auf dessen bzw. deren effizienter Verwendung beruhte. Unter den arabischen Ländern trug die TFP nur in den relativ offenen Volkswirtschaften Ägyptens, Marokkos und Tunesiens zum Wachstum bei. Der zweite, mit Barro assoziierte Ansatz legt das Hauptaugenmerk auf den Treiber der TFP und stützt sich auf die Befunde, wonach die TFP weltweit die Hauptdeterminante von Wachstum ist. Makdissi et al. (2006) haben unterschiedliche Determinanten geprüft, z. B. die effiziente Nutzung von Real- Verwaltungsapparats, und Humankapital, Diversifizierung Offenheit der des Ausfuhren Handels, und Qualität des internationale Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind zu der Auffassung gelangt, dass die Liberalisierung einer Volkswirtschaft für das Wachstum nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das liegt an der Tatsache, dass die Ausfuhren der arabischen Länder kaum diversifiziert und auf dem Weltmarkt wenig konkurrenzfähig sind. Die in Makdissi et al. (2006) verwendeten Daten decken den Zeitraum von 1960-1997 ab. Seit den späten 1990ern wurden in den betreffenden Ländern einige Reformen durchgeführt, welche die Situation möglicherweise geändert haben. Die Analyse von Hassan et al. (2011) 16 hat sich auf einen jüngeren Zeitraum (1980-2007) konzentriert, als die wirtschaftliche Liberalisierung in einigen arabischen Ländern wie Ägypten bereits fortgeschritten war. Sie haben festgestellt, dass der Handel in der Region ein wichtiger Wachstumstreiber und seine geschätzte Auswirkung sogar höher als in mehreren anderen Regionen war. Des Weiteren schien der Handel einen höheren Anteil des Wachstums zu erklären als die finanzielle Entwicklung und ihre Granger-kausalen Wachstumsfaktoren. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass Handel eine entscheidende Variable in der Region darstellt, und dass Bemühungen, das Finanzsystem zu reformieren und zu verstärken, sich nur dann als nutzbringend erweisen, wenn sie von Maßnahmen begleitet werden, die einen Anreiz bieten, den Handel zu entwickeln. In Bezug auf Armut haben Bibi und Nabli (2010) eine umfassende Überprüfung der Ergebnisse im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Handels in arabischen Ländern vorgelegt. Hinsichtlich Ägyptens hat sich Zaki (2011) auf den Zusammenhang zwischen Handel, Geschlecht und Beschäftigung konzentriert. Er hat festgestellt, dass auf makroökonomischer Ebene Ausfuhren über den Zeitraum von 1960 bis 2009 eine signifikante, positive Auswirkung auf die Beschäftigung hatten. Die Auswirkungen der Ausfuhren auf die Beschäftigung haben sich im Anschluss an die Reformen, die in den 1990er Jahren durchgeführt und 2004 fortgesetzt wurden, verstärkt. Auf individueller Ebene haben sich die Ausfuhren auf die Gehälter der Männer und auf die Wahrscheinlichkeit der Frauen, zu arbeiten, ausgewirkt. Mit anderen Worten, bei den Frauen erfolgte die Anpassung über den Umfang der Beschäftigung, bei den Männern über die Gehälter. Said und Elshennawy (2010) haben die Auswirkungen der Handelsliberalisierung auf die Beschäftigung und Gehälter im verarbeitenden Gewerbe für den Zeitraum von 1993-2006 untersucht, der mit einer signifikanten Reduzierung von Handelsbarrieren und steigender Arbeitslosigkeit in Ägypten einherging. Die ökonometrische Analyse hat gezeigt, dass die Arbeitslosigkeit im ganzen verarbeitenden Gewerbe und nicht nur in den Handelsbranchen stieg. Ein Großteil der Arbeitslosigkeit lässt sich jedoch nicht durch den Personalabbau im Zusammenhang mit der Handelsliberalisierung erklären. Zudem wurde ein Zusammenhang zwischen der Senkung der Zölle und der zunehmenden Exportorientierung, einerseits, und steigenden Löhnen im verarbeitenden Gewerbe, andererseits, festgestellt. Die Senkung der Zölle und die zunehmende Exportorientierung haben jedoch unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen Quintile der Lohnverteilung. Die Reduzierung der Handelsbarrieren hat Arbeitslosigkeit oder geringe Löhne für ältere Arbeitskräfte und Arbeitskräfte mit geringem Bildungsniveau verursacht. 17 Acar und Dogruel (2012) haben die Quellen der Lohnungleichheit im verarbeitenden Gewerbe in Algerien, Ägypten, Iran, Jordanien, Marokko und der Türkei für den Zeitraum von 1980-1997 untersucht. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass Lohnungleichheit durch Marktöffnung vermindert wird. Es ist jedoch der Anteil an Importen, nicht an Exporten, der hilft, die Ungleichheit zu vermindern. 7. Fazit Die Reduzierung von Armut und Ungleichheit ist eine wesentliche Komponente der Entwicklung. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung ist die Reduzierung von Armut und Ungleichheit für den Aufbau sozial ausgewogener Staaten und die Umsetzung einer starken Zivilgesellschaft von zentraler Bedeutung. Dieses Kapitel befasste sich mit den Problemen von Armut und Ungleichheit in Ägypten. Es hat eine Beurteilung des Ausmaßes der beiden Phänomene und der Rolle der unterschiedlichen politischen Strategien in diesem Zusammenhang vorgelegt. Diese politischen Strategien umfassen wachstumsorientierte Maßnahmen, Beschäftigung im öffentlichen Dienst, Sozialtransfer sowie Subventionen und Öffnung des Handels. Die Beurteilung hat gezeigt, dass Ungleichheit in Ägypten verglichen mit Ländern in und außerhalb der Region gering war und ist. Diesbezüglich zeigt Ägypten zwischen 1990 und 2010 jedoch fast keine Veränderung. Extreme Armut ist in Ägypten sehr gering und sogar geringer als in allen anderen Vergleichsländern. Die extreme Armut ist zwischen 1990 und 2010 generell zurückgegangen. Bezüglich „normaler“ Armut ist Ägypten schlechter als der Rest der MENA-Region (außer Marokko und Jemen) und viele andere Vergleichsländer aufgestellt. Was die Entwicklung der Armut anbetrifft, hat sie sich in Ägypten ähnlich wie in anderen MENA-Ländern verringert, jedoch um viel weniger als in Nicht-MENA-Ländern. Unter den Maßnahmen, die auf die Reduzierung der Armut abzielen, spielen die wachstumsfördernden Maßnahmen eine wichtige Rolle. In Ägypten scheint das Wachstum zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit beigetragen zu haben. Das war jedoch in geringerem Umfang der Fall als in vergleichbaren anderen Ländern. Eine weitere politische Maßnahme betrifft die Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Diese scheint die Armut in Ägypten reduziert zu haben, führte jedoch zu einem aufgeblähten öffentlichen Sektor, der nicht nachhaltig sein kann. Die Größe des öffentlichen Sektors in Ägypten steht im Vergleich mit MENA-Ländern auf einem durchschnittlichen Niveau, ist jedoch bedeutend größer als in Vergleichsländern wie Indonesien, Türkei, Mexiko und Brasilien. Um die Armut zu 18 bekämpfen, hat Ägypten zudem auf eine soziale Umverteilungspolitik gesetzt, z. B. Interventionen des sozialen Sicherheitsnetzes, Preissubventionen und Sozialversicherungssysteme. Das Land gibt etwa 7 % seines BIPs für derartige Maßnahmen aus, bedeutend mehr als im Durchschnitt der Entwicklungsländer. In Ägypten repräsentieren Subventionen nahezu den gesamten Betrag des SSN. Nicht-subsidiäre Ausgaben konzentrieren sich auf Geldtransferprogramme. In Bezug auf die Ausrichtung derartiger Maßnahmen auf die Armen ist die Situation in Ägypten besser als in vielen Ländern der Region: Die ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erhalten etwas weniger als 40 % der Nahrungsmittelsubventionen. Es wird jedoch häufig argumentiert, dass tiefe Brennstoff- und Nahrungsmittelpreise Verschwendung und Überkonsum verursachen, was zu Umweltschäden, unwirtschaftlichen Investitionsentscheidungen und Wettbewerbsverzerrungen führen kann. Zudem gibt es Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Die Armen erhalten durch das gesamte Subventionssystem im ländlichen Ägypten etwas weniger Einkommenstransfers als die Reichen. Ägypten hat verschiedentlich Änderungen am subventionierten Warenkorb vorgenommen, die Daten legen jedoch nahe, dass die Reformen in allen Fällen unzureichend fundiert waren. Schließlich scheint der laufende Globalisierungsprozess, der sowohl in entwickelten Ländern als auch in Entwicklungsländern Bedenken bezüglich der Auswirkungen auf Armut und Ungleichheit hervorgerufen hat, durch seinen Wachstumseffekt zur Reduzierung der Armut und Ungleichheit beigetragen zu haben. Neuere Daten legen nahe, dass die Marktöffnung ein wichtiger Wachstumstreiber war und seine geschätzten Auswirkungen sogar noch größer als in mehreren anderen Regionen waren. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen den Bevölkerungsschichten. Die Reduzierung der Handelsbarrieren hat Arbeitslosigkeit oder geringe Löhne für ältere Arbeitskräfte und Arbeitskräfte mit geringem Bildungsniveau verursacht. 19 Literaturhinweise Adams Jr, R. H. (2002), 'Nonfarm Income, Inequality, and Land in Rural Egypt' Economic Development and Cultural Change, 50:2, S. 339-363. Adams, Jr, R. H. (2000), "Self‐Targeted Subsidies: The Political and Distributional Impact of the Egyptian Food Subsidy System', Economic Development and Cultural Change, 49:1, S. 115-136. Adams, R. H. und J. Page (2003), 'Poverty, inequality and growth in selected Middle East and North Africa countries, 1980–2000' World Development, 31:12, S. 2027-2048. Audet, M., D. Boccanfuso und P. 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Zudem kann die Bildung menschlichen Kapitals zur Armutslinderung und zum Abbau von Ungleichheiten beitragen. Die Steigerung des Bildungsniveaus erhöht das Lebenseinkommen einer Person. Neueste Daten bestätigen diesen äußerst signifikanten Effekt des Humankapitals: Ein höherer Durchschnitt an Ausbildungsjahren ist mit Einkommensungleichheit negativ assoziiert (siehe beispielsweise Lustig et al., 2013, und Huber und Stephens, 2014). Ägypten ist mit einer Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land in der arabischen Welt. Über die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre. Der Anteil der Bevölkerung, der sich derzeit in der Grundschule und -ausbildung befindet, wird auf über 18 Millionen geschätzt. Zudem kommen jedes Jahr schätzungsweise 600.000 Ägypter neu auf den Arbeitsmarkt. Obwohl der Prozentanteil der Ägypter mit Hochschullabschluss zugenommen hat, sind die Qualifikationen und Kenntnisse, die in der Grundschule und Grundausbildung erworben wurden, häufig schlecht an die Anforderungen des Arbeitsmarkts angepasst. Das zeigt die hohe Arbeitslosigkeit unter den Jungen, besonders unter den Abiturienten und Hochschulabgängern. Hohe Arbeitslosigkeit geht mit offenen Stellen einher, ein Indiz für das Missverhältnis zwischen der Nachfrage und dem Angebot an Qualifikationen, die vom Schul- und Berufsbildungssystem hervorgebracht werden. Der ägyptische Arbeitsmarkt ist in verschiedener Hinsicht heterogen. Zunächst einmal ist auf die Unterscheidung zwischen der Beschäftigung im öffentlichen und im privaten Sektor hinzuweisen. Die Beschäftigung im privaten Sektor unterteilt sich wiederum in zwei weitere Segmente, die Gehaltsempfänger und die Selbstständigen. Schließlich gibt es eine Unterscheidung zwischen der Beschäftigung im formellen und informellen Sektor. Während die formelle Beschäftigung im öffentlichen Sektor dominant ist, wird die informelle Beschäftigung im privaten Sektor auf 70 % geschätzt (Assaad, 2009). 22 Diese Merkmale verstärken die Rolle des Humankapitals als Einstiegspunkt für die Linderung der Wachstums-, Armuts- und Ungleichheitsprobleme in Ägypten. Das vorliegende Kapitel beschäftigt sich mit dem ägyptischen Bildungssystem und seinen Leistungen. In Abschnitt 2 wird das Bildungssystem mit besonderer Betonung der höheren Bildung und der Berufsausbildung beschrieben. Abschnitt 3 enthält eine statistische Analyse der Erfolge des Landes in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Bildung und Berufsausbildung. Abschnitt 4 befasst sich sodann mit dem Problem des Qualifikationsmissverhältnisses, während in Abschnitt 5 die Fortbildungsangebote durch Unternehmen diskutiert werden. Abschnitt 6 zieht Bilanz. 2. Das Bildungssystem 2.1 Allgemeiner Hintergrund1 Die ägyptische Verfassung auferlegt dem Staat die Verantwortung für die Bildung seiner Bürger. Bildung ist ein staatlich garantiertes Grundrecht in Ägypten. Das aktuelle ägyptische Bildungssystem besteht aus mehreren Ebenen, die öffentliche (staatliche) und private Sektoren umfassen. Auch der private Bildungssektor steht unter staatlicher Aufsicht, um sicherzustellen, dass er der Bildungspolitik des Staates entspricht. Das öffentliche Bildungssystem in Ägypten ist für die Bürger kostenlos und für alle zugänglich. Das Finanzministerium (Ministry of Finance, MoF) ist für die gesamte Finanzpolitik und für die Alimentierung der einzelnen Ausgabenposten verantwortlich. Der öffentliche Finanzierungsmechanismus berücksichtigt jedoch nicht die Effizienz von Einrichtungen, es gibt keine Mechanismen zum Messen von Leistungen. Außerdem gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Mittelvergabe an die einzelnen Einrichtungen und deren tatsächlicher Bedürfnisse. Schließlich werden die Entwicklung und die Verbesserung des Schulsystems finanziell zusätzlich von mehreren internationalen Einrichtungen wie der Weltbank, UNESCO, UNICEF, der Ford Foundation und USAID unterstützt. Die ägyptische Regierung ist für die Bildungspolitik sowie für die Organisation, Verwaltung und Beaufsichtigung der Bildung verantwortlich. Die Aufsicht über das Bildungssystem findet auf unterschiedlichen Ebenen staatlicher und kommunaler Regierungsgewalt statt. Die meisten legislativen Entscheidungsgewalten liegen beim Präsidenten und beim Parlament, geknüpft an die Vorgaben der Verfassung. Die allgemeine Führung des nahezu gesamten 1 Dieser Abschnitt beruht auf der Arbeit von Stopikowska und El-Deabes (2012). 23 Bildungssystems liegt in der Verantwortung des Bildungsministeriums. Die höhere Bildung wiederum unterliegt der Aufsicht des Ministeriums für Hochschulbildung und wissenschaftliche Forschung. Auf lokaler Ebene ist die Implementierung der Bildungspolitik Aufgabe der relevanten Organe der Regierungsbezirke, Städte und Dörfer. Alle Schulen werden durch ihre eigenen Führungsstrukturen und die einzelnen Universitäten, Hochschulen und anderen Hochschuleinrichtungen durch eigene Vertreter verwaltet. Die Vertreter der Bildungseinrichtungen bilden Räte, die für die Zusammenarbeit innerhalb der akademischen Gesellschaft und zusammen mit dem entsprechenden Minister für Hochschulbildung zuständig sind. Wichtige Themen und Projekte werden auf nationalen Konferenzen zu ausgewählten Problemen und bestimmten Bildungsbereichen weiter diskutiert. Gemäß der ägyptischen Verfassung besteht eine Schulpflicht. Sie dauert 9 Jahre und umfasst 2 Stufen: 6 Jahre Primarstufe und 3 Jahre Mittelstufe. In der letzteren können allgemeine Bildungsprogramme oder Berufsausbildungen angeboten werden. Die Sekundarschulbildung (allgemeine Bildung, technische Schulbildung auf mittlerer Stufe oder Berufsbildung) dauert 3 oder 5 Jahre (weiterführende technische Ausbildung). Abgänger von Sekundarschulen können kostenlos postsekundäre, jedoch keine tertiären Bildungseinrichtungen besuchen. Die Ausbildung an technischen Mittelschulen dauert 2 Jahre und an den höheren technischen Instituten 4-5 Jahre. Die Absolventen höherer technischer Institute erhalten technische Fachhochschuldiplome. Um sich für einen Studienplatz an einer Universität bewerben zu können, müssen Abgänger von Sekundarschulen entsprechende Zertifikate oder Diplome mit den besten Noten aufweisen. Die erste Stufe der höheren Bildung an der Universität dauert 4-6 Jahre, die nächste 2-5 Jahre. Mit dem erworbenen MA-Abschluss kann sich ein Absolvent nach mindestens 2 Jahren Nachdiplomstudium für eine Promotion bewerben. Die Bildung auf allen Ebenen wird sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Letztere können religiöse (muslimisch oder christlich geführt) oder nicht-religiöse private Einrichtungen sein, ägyptische oder ausländische. Wie die öffentlichen Einrichtungen stehen jedoch auch private Einrichtungen unter staatlicher Aufsicht. Internationale Schulen können ein Lehrprogramm eines anderen Landes anbieten (z. B. ein britisches oder amerikanisches), sie müssen jedoch vom Ministerium zertifiziert werden, damit sich ihre Absolventen bei ägyptischen staatlichen Universitäten einschreiben können. 24 Die Absolventen der einzelnen Stufen privater Bildungsinstitutionen erhalten gleichwertige Zertifikate und Qualifikationen wie die Absolventen von staatlichen Einrichtungen. Das Aschariten-System spielt im ägyptischen Bildungssystem eine wichtige Rolle. Es weist den gleichen Lehrplan auf wie die öffentliche Bildung, schenkt jedoch islamischen Studien mehr Aufmerksamkeit. Aschariten-Absolventen können ihre akademischen Studien an der AlAzhar-Universität oder jeder anderen privaten Bildungseinrichtung fortsetzen, zu staatlichen Hochschulen und Einrichtungen ist ihr Zugang jedoch beschränkt. Das Aschariten-System ist ein unabhängiges Netzwerk von Schulen, die der Al-Azhar-Universität untergeordnet sind und unter der Aufsicht des Hohen Rates der Al-Azhar (angeführt vom Großen Scheich), der direkt mit dem Premierminister zusammenarbeitet. Zudem gib es weitere Bildungsangebote auf unterschiedlichen Ebenen, die bestimmten Kategorien von Studenten angeboten werden. Die 'Kuttab' ist die traditionelle islamische Schule, die den Massen Religionsunterricht, das Auswendiglernen von Koranversen und auch grundlegende Lese- und Schreibfertigkeiten bietet. Sie hat selbst in der heutigen Zeit noch eine ergänzende Bildungsfunktion. Die Zahl der Kuttab-Schulen hat jedoch deutlich abgenommen. Weitere Bildungsprogramme und Schulen sind auf die Bedürfnisse von Blinden und Sehbehinderten, Tauben oder Hörgeschädigten oder Personen mit anderen Behinderungen wie geistig Behinderte und Personen mit rheumatischen Herzerkrankungen zugeschnitten. Ein besonderes Augenmerk wird auf besonders begabte Kinder gelegt, zwecks Herausbildung einer wissenschaftlichen Elite für die Entwicklung der ägyptischen Wissenschaft. Schließlich gibt es Erwachsenenbildungsprogramme, die das Ziel verfolgen, das Bildungsniveau in der ägyptischen Gesellschaft zu heben und das Analphabetentum auszumerzen. 2.2 Höhere Bildung 2 Die höhere Bildung in Ägypten wird von Universitäten und Hochschulinstituten, technischer und nicht-technischer Ausrichtung, angeboten. Ein bedeutender Anteil der Studenten studiert an technischen und nicht-technischen Hochschulinstituten (sowohl privater als auch öffentlicher Art). 20 % der Studenten des tertiären Bildungssystems studieren an solchen Instituten. Die Aufsicht über die höhere Bildung in Ägypten ist stark zentralisiert. Zuoberst im hierarchischen System steht der Staatspräsident, der die Leiter sämtlicher Universitäten 2 Dieser Abschnitt beruht auf Barsoum (2014) 25 benennt. Das Ministerium für Hochschulbildung (Ministry of Higher Education, MoHE) ist für sämtliche Hochschuleinrichtungen (öffentliche oder private) zuständig und für die Planung, die Formulierung der Bildungspolitik und die Qualitätskontrolle verantwortlich. Das Zulassungsverfahren für angehende Studenten obliegt der Verantwortlichkeit der zentralen Vergabebestelle (Central Placement Office), während die Verteilung der Studenten auf die öffentlichen Universitäten Aufgabe des MoHE ist. Unter dem MoHE arbeiten drei Hohe Räte, die alle Hochschuleinrichtungen beaufsichtigen. Diese sind das Supreme Council of Universities (SCU), zuständig für die öffentlichen Universitäten, der Supreme Council for Private Universities (SCPU), zuständig für die privaten Universitäten, und der Supreme Council for Technical Colleges (SCTC), der alle Fachhochschulen verwaltet. Die 2006 gegründete National Authority for Quality Assurance and Accreditation of Education (NAQAAE) dient als unabhängige Zulassungsstelle für alle Arten und Stufen der Bildung in Ägypten (höhere Bildung, voruniversitäre Bildung, technische Bildung und Berufsausbildung). Zu ihren Aufgaben gehören die Förderung von Maßnahmen zur Qualitätssicherung, die Vorbereitung der Zulassung von Bildungseinrichtungen und das Zulassungsverfahren selbst. Öffentliche Universitäten werden von Hochschulräten geleitet. Sie setzen sich aus Dozenten, Dekanen der einzelnen Fakultäten, dem Präsidenten der Universität, Vizepräsidenten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit einem starken Bildungshintergrund zusammen. Die Abteilungen und Fakultäten verwalten sich selbst. Entscheidungen zu wichtigen Fragen werden durch Wahlen und Abteilungssitzungen getroffen. Zudem gibt es eine parallele Einrichtung, den „Professorenklub“, in dem Missstände bzw. Beschwerden des Lehrkörpers von Hochschulinstitutionen zur Sprache kommen. Der Klub wird in der Regel von einem gewählten Gremium geleitet und agiert als Gewerkschaft. Die Universitätspräsidenten hatten früher das Recht, Dekane zu ernennen, doch seit der Revolution von 2012 werden diese wieder durch Wahlen bestimmt. Außer der Amerikanischen Universität in Kairo, die 1919 als private, gemeinnützige amerikanische Institution gegründet wurde, waren alle ägyptischen Universitäten bis in die frühen 1990er Jahren ausschließlich öffentlich. 1992 wurde ein Gesetz verabschiedet, um die Einrichtung privater Universitäten zu autorisieren und zu regulieren. Nach dem Erlass des Gesetzes öffneten 1996 vier neue Universitäten ihre Tore, gefolgt von fünf Hochschulinstitutionen im Jahre 2000 und sechs weiteren Universitäten 2006. Private Einrichtungen benötigen eine NAQAAE-Zulassung, um den Lehrbetrieb aufnehmen bzw. aufrecht zu erhalten. 26 Der rechtliche Rahmen für private Hochschuleinrichtungen in Ägypten trifft keine klare Unterscheidung zwischen gewinnorientierten und gemeinnützigen Einrichtungen. Private Hochschuleinrichtungen in Ägypten sind auf Studiengebühren angewiesen, um ihre Betriebskosten zu decken. Die Gebührenstruktur ist extrem unterschiedlich, d. h. es gibt Hochschulinstitute, die LE 3.000 pro Jahr verlangen, während das Lehrgeld an ausländischen privaten Universitäten bis zu LE 100.000 pro Jahr betragen kann. 2.3 Berufsausbildung 3 Die berufliche Aus- und Weiterbildung (Vocational education and training, VET) betrifft den Ausbildungsprozess, der zusätzlich zur allgemeinen Bildung, das Studium von technischen und verwandten Wissenschaften sowie den Erwerb theoretischer und praktischer Kenntnisse und Befähigungen im Hinblick auf die Ausübung von Berufen in unterschiedlichen Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft umfasst (Quelle: UNESCO Revised Recommendation, 2001). Der Begriff technische und berufliche Aus- und Weiterbildung (Technical and vocational education and training, TVET) wird in vielen Ländern als äquivalenter Begriff verwendet. Berufliche Aus- und Weiterbildung wird oftmals als Möglichkeit wahrgenommen, die Chancen von Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, besonders derjenigen, denen die Ressourcen, Qualifikationen oder die Motivation fehlt, ihre höhere Bildung fortzusetzen. Das Ziel ist es, ihre Chancen auf eine erfolgreiche Berufskarriere zu verbessern, indem die Grundausbildung enger an bestimmte Berufe und Aufgaben angelehnt wird, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Sie soll zudem das Problem der ungeeigneten Bildungsangebote reduzieren, das häufig als Hauptquelle der hohen Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern gesehen wird. Wie in vielen MENA-Ländern erweist sich in Ägypten die Bildung einer gemeinsamen Berufbildungsstrategie trotz der Beteiligung von Vertretern aus dem privaten Sektor und den Sozialpartnern als schwierig. Infolgedessen ist der Zusammenhang zwischen den vom Berufsbildungssystem hervorgebrachten Qualifikationen und denen, die vom privaten Sektor benötigt werden, schwach. Ein von der European Training Foundation initiiertes Projekt zur Überwachung der Berufsbildung in den Mittelmeerländern (einschließlich Ägyptens) hat Schwächen in Bezug auf die Evaluierungspraxis festgestellt. Die Überwachung und Evaluierung hat sich vorwiegend auf Inputindikatoren (Lehrer, Einrichtungen, Studienpläne) 3 Dieser Abschnitt beruht auf Eichhorst et al. (2012) 27 statt auf den Erfolg der Berufsbildung beim Erreichen von Ausbildungszielen konzentriert. Kamen leistungsbasierte Indikatoren zum Einsatz, wurden diese offensichtlich nicht richtig verwendet, um das bestehende System zu beurteilen und zu verbessern. Wie oben erwähnt, besteht die Schulpflicht aus einer Primar- und einer Vorbereitungsstufe. Die Primarstufe dauert sechs Jahre, die Vorbereitungsstufe drei Jahre. Schüler, die die Abschlussprüfung am Ende der Primarstufe bestehen, wechseln auf Vorbereitungsschulen, während die Schüler, die die Prüfung nach zwei Versuchen nicht bestehen, entweder auf berufsvorbereitende Schulen wechseln oder die Ausbildung abbrechen. Die allgemeine Sekundarstufe dauert drei Jahre, die sekundäre Berufsbildung drei bis fünf Jahre. Die tertiäre Bildungsstufe umfasst Universitäten und nicht universitäre Einrichtungen. Nicht universitäre Einrichtungen sind technische Fachhochschulen, die zweijährige Lehrgänge anbieten, und höhere technische Einrichtungen mit vierjährigen Lehrangeboten. Zu beachten ist, dass Universitäten Lehrer für technische Berufe ausbilden, während höhere technische Schulen Studenten für die Beschäftigung in bestimmten Branchen vorbereiten. Seit einigen Jahren wird mehr Wert auf Berufsbildungssysteme gelegt, die sich eng an sich entwickelnden Industrien orientieren und lokale Partnerschaften zwischen der Industrie und Ausbildungszentren fördern. Mit diesen Ansätzen wird versucht, alternative Möglichkeiten für die Bereitstellung praktischer Qualifikationen zu entwickeln. Es wird erwartet, dass sie sich vorteilhaft auf die Lehrplanreform auswirken. Sie umfassen die Ausbildung durch die Anbindung an die Industrie, z. B. durch das duale System und Ausbildungsplätze, Ausbildung am Arbeitsplatz und Umschulung. Abb. 1 fasst den Berufsbildungsprozess zusammen. 28 Abb. 1: Der Berufsbildungsprozess in Ägypten Quelle: http://www.unevoc.unesco.org/printwtdb.php?ct=EGY&do=print Für die Berufsbildung sind zwei Ministerien zuständig. Das Bildungsministerium (Ministry of Education, MoE) verwaltet Berufsfach- und Berufsschulen, und das Ministerium für Hochschulbildung (Ministry of Higher Education, MoHE) ist für die technischen Fachhochschulen zuständig. Vier weitere Einrichtungen sind für den Aufbau eines nationalen Qualitätssicherungsprogramms verantwortlich. Dieses bezweckt, die Qualität der Ausbildung und die Bereitstellung von Lehrpersonal sicherzustellen, das gemäß internationalen Standards geschult ist. Zu diesen Einrichtungen gehören die Nationale Behörde für Qualitätssicherung 29 und Ausbildungszulassung (National Authority for Quality Assurance and Accreditation of Education), das Nationale Qualitätsprogramm (National Quality Program), die ägyptische Organisation für Normung und Qualität (Egyptian Organization for Standardization and Quality) und der ägyptische Zulassungssrat (Egyptian Accreditation Council). Die technische und berufsbildende Ausbildung umfasst drei Bereiche: Industrie, Handel und Landwirtschaft. Die Finanzierung der Berufsbildungszentren erfolgt vornehmlich durch öffentliche Mittel (basierend auf der Zahl der eingeschriebenen Schüler in Vorjahren). Das Berufsbildungssystem wird konkret wie folgt durch folgende Faktoren finanziert: 1. Studiengebühren: Die Studiengebühren beschränken sich in der Regel auf die Deckung der Verwaltungskosten. Die sekundäre Berufsausbildung ist generell gebührenfrei. Einige Einrichtungen können Gebühren erheben, aber diese gehen vollumfänglich an das Finanzministerium. Einrichtungen können Studenten auch durch monatliche Beihilfen unterstützen. 2. Zuweisungen aus dem Staatshaushalt: Die staatliche Finanzierung ist immer noch gering, wenn sie in den letzten Jahren auch zugenommen hat. 3. Geldgeber und internationale Partner: Eine derartige Finanzierung wird über Zuschüsse oder Darlehen an staatliche Ministerien und über international getragene Berufsbildungsprogramme gewährt. Zu den internationalen Geldgebern gehören die Europäische Union, die Weltbank und verschiedene ausländische Regierungen (Kanada, Frankreich, Deutschland, USA usw.). Wie oben erwähnt, werden Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt häufig als unzureichend vorbereitet angesehen (Angel-Urdinola and Semlali, 2010). Das Berufsbildungssystem wird in Frage gestellt, und viele Beobachter argumentieren, dass es seine Ziele im Wesentlichen verfehlt hat (Diego et al., 2013). Hierzu werden folgende Gründe genannt: 1. Die hohe Fragmentierung des Berufsbildungssystems: 1.237 Berufsausbildungszentren, angegliedert an 27 Ministerien oder Behörden, werden in 19 unterschiedlichen Gouvernements unabhängig voneinander betrieben. Das ruft einen Mangel an Koordination unter den Ausbildungsprogrammen und mit den Anforderungen des Arbeitsmarkts hervor. Zudem werden Lehrpläne nicht regelmäßig überprüft, und viele Lehrgänge entsprechen nicht den Bedürfnissen der Industrie und des privaten Sektors. Die Überwachung und Evaluierung des tatsächlichen Werts der Ausbildungsprogramme auf dem Arbeitsmarkt ist überdies sehr mangelhaft. 30 2. Wie oben in Bezug auf das Bildungssystem im Allgemeinen erwähnt, verteilen die Ministerien ihre Budgets den Anbietern von Berufsausbildungen ohne deren Leistung zu berücksichtigen. 3. Ausbilder sind für ihre jeweiligen Aufgaben nicht angemessen geschult. Nur 35 % der Ausbilder verfügten über eine pädagogische Ausbildung, und nur 50 % hatten eine fortgeschrittene praktische Ausbildung absolviert. Zusätzlich ist das Lehrmaterial in den Ausbildungszentren überwiegend in schlechtem Zustand (aufgrund fehlender Wartung) und verbraucht, oder es wird zu wenig genutzt. Angesichts dieser Probleme und um einen industriebezogenen Qualifikationsrahmen für die Berufsbildung zu entwickeln, wurde das National Skills Standards Project (NSS) ins Leben gerufen. Es handelt sich um eine Kooperation zwischen einem Konsortium von europäischen Bildungsorganisationen und Ägyptens Sozialfonds für Entwicklung. Das Projekt konzentriert sich auf folgende Punkte i) ein industriebezogenes Zulassungs- und Qualifikationssystem, ii) Lehrerausbildung gemäß europäischen Standards und ii) eine nachhaltige Ausbildungspolitik und Verwaltungsstruktur. Mehrere weitere Reformen des Berufsbildungssystems sind entweder noch im Gange oder bereits umgesetzt: 1. Das regionale Projekt der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (ETF) fördert die Kooperation zwischen sieben Ländern im Mittelmeerraum (Jordanien, Ägypten, Marokko, Tunesien, Frankreich, Italien und Spanien) zur Standardisierung von Qualifikationen in den Bereichen Tourismus und Bau. Das Ziel ist es, die Mobilität qualifizierter Arbeiter zu verbessern und ihren Status aufzuwerten. 2. Die Europäische Union unterstützt aktiv Berufsbildungsprogramme, die das Ziel haben, eine Partnerschaft zwischen staatlichen Einrichtungen und dem öffentlichen Sektor aufzubauen, die Qualität der Ausbildung zu verbessern und ein System nationaler Richtlinien zu entwickeln. Das Programm zur Modernisierung der Industrie (Industrial Modernization Program, IMP) ist eine gemeinsame Initiative der Europäischen Union und der ägyptischen Regierung. Es hat, unter anderem, das Ziel, mehr Jobmöglichkeiten für Absolventen technischer Bildungsgänge und Berufsschulen zu schaffen. 3. Die Weltbank hat ein sechsjähriges (2004-2010) Pilotprojekt mitfinanziert, mit dem ein bedarfsgesteuerter Ausbildungsmechanismus implementiert werden sollte. Es handelte sich um das Kompetenzentwicklungsprojekt (Skills Development Project), in dessen Rahmen privaten Unternehmen und Ausbildungseinrichtungen Mittel für die 31 Ausbildung qualifizierter Arbeitnehmer zur Verfügung gestellt wurden. Das Hauptziel des Projekts war es, Arbeitnehmer mit markttauglichen Qualifikationen auszustatten und die Wahrnehmung der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verbessern. 4. Die Mubarak-Kohl-Initiative Duales System (MKI-DS), die 1991 ins Leben gerufen wurde, bezweckte den Ausbau der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Ägypten. Ein Schlüsselfaktor dieser Initiative ist die gemeinsame Verantwortlichkeit des privaten und öffentlichen Sektors sowie deren Kooperation. Die Hauptpartner: Das ägyptische Bildungsministerium, der Investoren- und Unternehmerverband und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Studenten, die einen dreijährigen Lehrgang belegen, verbringen zwei Tage in der Woche in einer technischen Sekundarschule und vier Tage bei einem Unternehmen, um die erforderlichen Fähigkeiten und Qualifikationen zu erhalten. Die MKI-DS endete 2007, als das Programm vollständig in das ägyptische Berufsausbildungssystem integriert war. Zu diesem Zeitpunkt wurde ein neues Programm der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit gestartet, das auf den Erfolgen der MKI-DS aufbauen sollte. Die Mubarak-Kohl-Initiative for Vocational Education, Training and Employment Promotion Privatwirtschaft und (MKI-vetEP) engagierte Zivilgesellschaft, um neue sich Partner dem aus Problem Staat, der Jugendarbeitslosigkeit anzunehmen. Das Ziel des MKI-vetEP ist es, die interaktive Beschäftigungsfähigkeit Jugendlicher durch Ausbildungs- und Arbeitsmarktinstitutionen zu verbessern. 5. In Kooperation mit der Europäischen Union wurde zwischen 2005 und 2013 ein umfassendes TVET-Reformprogramm implementiert. Der Schwerpunkt dieses Reformprogramms liegt auf der Stärkung der Verbindung zum Arbeitsmarkt, indem lokale und sektorale Ausbildungspartnerschaften mit Unternehmen (Enterprise Training Partnerships, ETP) eingerichtet werden. 6. In bestimmten Städten wurden schließlich weitere Programme ins Leben gerufen, um bestimmte Probleme anzugehen. Im Gouvernement Fayoum wurde ferner ein Programm zur Aus- und Weiterbildung der ägyptischen Jugend erstellt, um die Beschäftigungschancen in Ägypten und im Ausland zu verbessern. Sein Fokus lag auf der Erneuerung und Modernisierung ausgewählter Bildungs- /Berufsausbildungszentren in Fayoum und auf der Bereitstellung von Berufswahl- und Berufsberatungsdiensten für lokale Studenten. Das Ministerium für Bildung (MoE) und das USAID-finanzierte ägyptische Programm für Wettbewerbsfähigkeit (Egypt's 32 Competitiveness Program, ECP) haben in acht Pilotschulen in Alexandria, Port Said und Sharkia schulbasierte Beschäftigungseinheiten eingerichtet. Diese Einheiten bieten den Studenten der technischen Schulen Beschäftigungsmöglichkeiten in den Sektoren Nahrungsmittelverarbeitung, Bekleidung und Tourismus. Durch Vereinbarungen mit den Fabrikbesitzern erhalten die Studenten eine praktische Ausbildung und praktische Arbeitserfahrung in Fabriken, welche die Chancen der Studenten, unmittelbar nach ihrem Abschluss eine Anstellung zu finden, steigern. 3. Statistische Analyse 3.1 Internationaler Vergleich Bildung Abb. 2 zeigt den Prozentanteil der Bevölkerung zwischen 15 und 65 ohne formale Schulbildung und dessen Entwicklung in Ägypten und in Vergleichsländern. Dieser Anteil ist in Ägypten ist nach Marokko und Jemen der höchste in der Region. Er ist höher als in jedem anderen Vergleichsland außerhalb der Region, außer Indien und Nicaragua. Wie in fast allen Vergleichsländern nahm dieser Anteil zwischen 2000 und 2010 etwas ab. Abb. 2: Der Anteil der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren ohne formale Bildung 80,00 70,00 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00 0,00 2000 2005 Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Israel Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 2010 Quelle: Barro and Lee (2013) Abb. 3 zeigt den Prozentanteil der Bevölkerung zwischen 15 und 65 mit Grundschulabschluss und dessen Entwicklung in Ägypten und in Vergleichsländern. Der Prozentanteil ist in Ägypten nach Algerien der niedrigste in der Region. Er ist bedeutend niedriger als in vielen Vergleichsländern und nahm zwischen 2000 und 2010 etwas ab. Der Blick auf Abb. 4, die den Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren mit primärem und sekundärem 33 Schulabschluss (jedoch ohne tertiären Abschluss) zeigt, lässt die Situation in Ägypten jedoch komfortabler erscheinen. Dieser Anteil in Ägypten ist mit dem vieler anderer Länder wie der Türkei, Mexiko und Brasilien vergleichbar. Außerdem deutet er auf eine nicht unerhebliche Zunahme zwischen 2000 und 2010 hin. Schließlich geht aus Tabelle 5 hervor, die ähnliche Information wie die vorherigen Tabellen bietet, sich jedoch auf Personen mit primärem, sekundärem und tertiärem Abschluss konzentriert, dass Ägypten hinter vielen Ländern innerhalb und außerhalb der MENA-Region zurückliegt. Dieser Anteil nimmt in Ägypten jedoch zwischen 2000 und 2010 zu. Abb. 3: Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, die nur eine Grundschule absolviert haben 45,00 40,00 35,00 30,00 25,00 20,00 15,00 10,00 5,00 0,00 2000 2005 Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Israel Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 2010 Quelle: Barro and Lee (2013) Abb. 4: Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, die nur eine primäre und sekundäre Schulbildung absolviert haben 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00 0,00 2000 2005 Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Israel Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 2010 Quelle: Barro and Lee (2013) 34 Abb. 5: Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, die eine primäre, sekundäre und tertiäre Ausbildung absolviert haben 25,00 20,00 15,00 2000 10,00 2005 5,00 2010 Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Israel Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 0,00 Quelle: Barro and Lee (2013) Arbeitslosigkeit Die Arbeitslosenquote in Ägypten ist, wie in allen anderen Ländern in der Region, sehr hoch. Sie hat seit 2010 zugenommen, während die entsprechende Quote in Algerien, Jordanien und Marokko rückläufig war. Eine derartige Zunahme könnte mit der politischen Instabilität seit 2011 zusammenhängen, da Tunesien, Jemen und Syrien (Länder des „Arabischen Frühlings“) ebenfalls eine Zunahme aufweisen. Die Arbeitslosenquoten in allen Ländern der Region, einschließlich Ägyptens, sind höher als in Vergleichsländern. Abb. 6: Arbeitslosenquote (in % der Erwerbsbevölkerung) 20 15 10 5 Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 0 Durchschnitt 2005-2009 Durchschnitt 2010-2013 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren Eines der am häufigsten zitierten Probleme in Bezug auf die MENA-Region ist die hohe Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen. Um zu sehen, wie Ägypten in dieser Hinsicht aufgestellt ist, zeigt Abb. 7 den Anteil der Arbeitslosen mit Hochschulabschluss an der 35 Gesamtarbeitslosigkeit. Die Abbildung bestätigt das Ausmaß des Problems in Ägypten. Selbst wenn man den Zeitraum nach 2011 außer Acht lässt, weist Ägypten einen höheren Anteil an Arbeitslosen mit Hochschulabschluss auf als jedes andere Land der Stichprobe, außer den Philippinen. Abb. 7: Arbeitslose mit Hochschulabschluss ( in % der Gesamtarbeitslosigkeit) Algerien Ägypten Iran Jordanien Marokko Syrien Tunesien Jemen Argentinien Bolivien Brasilien Kolumbien Costa Rica Ecuador Indien Indonesien Malaysia Mexiko Nicaragua Philippinen Sri Lanka Thailand Türkei Vietnam 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Durchschnitt 2005-2009 Durchschnitt 2010-2013 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 3.2 Die Bildung in Ägypten Der oben dokumentierte hohe Prozentsatz der ägyptischen Bevölkerung ohne jede formale Bildung hat den Staat dazu veranlasst, die Anzahl der Schulen im ganzen Land zu erhöhen. Das nationale Netzwerk der Schulgebäude wurde um 1,5 % pro Jahr erhöht. Mehr Beachtung wurde dabei ländlichen Regionen geschenkt, wo die Steigerung 2 % beträgt. Die Klassen sind mit durchschnittlich 30-45 Schülern in der Grundschule jedoch immer noch zu groß. In einigen Regionen (Alexandrien, Gizeh) weisen die Klassen gar über 50 Schüler auf (Stopikowska and El-Deabes, 2012). Tabelle 1 zeigt die Anzahl Schüler auf verschiedenen Bildungsstufen und Schulen nach Geschlecht, Region (ländlich und urban) und Art der Schule (öffentlich und privat). Insgesamt gibt es geringfügige Unterschiede nach Geschlecht (zugunsten der Männer) und nach Region (zugunsten der urbaner Räume). Der auffälligste Unterschied besteht zwischen den Schulbetreibern. In privat geführten Schulen sind weniger als 10 % der Schüler des Landes eingeschrieben. Im Hinblick auf die Bildungsstufe wird ein Geschlechtsunterschied in der sekundären Schulstufe wie folgt deutlich: in der industriellen und landwirtschaftlichen Ausbildung (zugunsten der Männer), in der kaufmännischen Ausbildung (zugunsten der 36 Frauen) und in der technischen Ausbildung und der Sonderpädagogik (zugunsten der Männer). Es gibt viel weniger Schüler aus ländlichen Gebieten in der allgemeinen sekundären Bildungsstufe als aus städtischen Gebieten, wodurch sich die Chancen Ersterer auf eine höhere Bildung reduzieren. Gleiches gilt für die technischen und berufsbildenden Schulen. Tabelle 1: Anzahl Schüler auf verschiedenen Bildungsstufen und Schulen (2009/2010) Stadien Vorschule Primarstufe Einklassenschulen Mädchenfreundliche Schulen Gemeindeschulen Vorbereitung Allgemeine Sekundarschule Industrielle Sekundarschule Landwirtschaftliche Sekundarschule Handelsschule Technische Ausbildung Sekundarschulbildung gesamt Sonderpädagogik Gesamt Gesamt 727835 9334322 70204 22619 10689 4041072 862147 667075 125464 Frauen 346617 4508380 64454 19444 6854 1991163 459410 242065 23942 Männer 381218 4825942 5750 3175 3835 2049909 402737 425010 101522 Land 284939 5083716 58795 20497 8014 2159752 239103 121630 26856 Stadt 442896 4250606 11409 2122 2675 1881320 623044 545445 98608 468254 294788 1260793 560795 2122940 1020205 37888 13956 16.367.569 7.971.073 173466 699998 1102735 23932 8.396.496 130640 279126 518229 4263 8.138.205 337614 981667 1604711 33625 8.229.364 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 78798 389456 81030 1179763 150926 1972014 563 37325 1.370.118 14.997.451 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T Staatlich 529696 8550513 70204 22619 10689 3804391 792251 664843 125464 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T Privat 198139 783809 0 0 0 236681 69896 2232 0 6T 6T 6T 6T 6T Quelle: Stopikowska and El-Deabes (2012). Tabelle 2 zeigt die Anzahl der Klassen und Schulen auf unterschiedlichen Stufen nach Region und Schulbetreiber. Sie zeigt, dass in ländlichen Gebieten die Grundschulklassen die Mehrheit bilden, während allgemeine sekundäre, technische und berufsbildende Klassen gehäuft in urbanen Räumen vorkommen. Dies könnte ein Grund für den erschwerten Zugang der ländlichen Jugend zu Bildungsangeboten sein. Die Tabelle zeigt zudem, dass sich die private Bildung hauptsächlich auf die Grundschul- und Vorbereitungsstufe konzentriert. 37 Tabelle 2: Anzahl Klassen und Schulen der verschiedenen Bildungsstufen (2009/2010) Stadien Klassen Schulen und Abteilungen Gesamt A B C D A B C D 24237 10119 14118 7039 17198 8212 4524 3688 1533 6679 242676 134967 107709 24543 218133 16951 10381 6570 1622 15329 3269 2750 519 0 3269 3269 2750 519 0 3269 876 787 89 0 876 876 787 88 0 876 Gesamt Vorschule Primärstufe Einklassenschulen Mädchenfreundliche Schulen Gemeindeschulen Vorbereitung Allgemeine Sekundarschule Industrielle Sekundarschule Landwirtschaftliche Sekundarschule Handelsschule Sonderpädagogikschulen Gesamt 6T 6T 6T 6T 6T 397 110760 27750 301 59411 7706 6T 6T 6T 6T 6T 886 6T 3327 6T 21483 6T 4213 6T 14388 3951 10437 2220 12168 754 4278 593 3685 103 4175 857 454.411 225.282 229.129 44.896 409.515 44.631 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T A – Land 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T B – Stadt 7T 6T C – Privat 861 6T 0 176 6T 6T 506 202 552 703 18 839 18.764 5.255 39.376 6T 6T 6T 10 124 6T 6T 6T 6T 6T 248 154 25.867 6T 6T 6T 697 6T 397 8626 1772 6T 6T 6T 52 6T 0 1228 642 6T 174 6T 6T 6T 6T 176 6T 96 4138 1634 6T 6T 6T 6T 6T 871 6T 0 6T 301 5716 780 6T 6T 6T 6T 6T 6T 84 6T 397 9854 2414 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 397 102676 24927 6T 6T 6T 6T 6T 17756 6T 4213 6T 0 8084 2823 6T 3811 6T 6T 6T 6T 6T 6T 21567 6T 96 51349 20044 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T 6T D – Staatlich Quelle: Stopikowska and El-Deabes (2012) Das System der höheren Bildung in Ägypten besteht aus 623 akademischen Einrichtungen. Unter diesen befinden sich 34 Universitäten sowie 589 Kollegien und Institute mit insgesamt rund 4 Millionen eingeschriebenen Studierenden. Kaufmännische und pädagogische Studiengänge sind die beliebtesten Fächer, gefolgt von Kunst, Geistes- und Rechtswissenschaften. Medizinische, pharmazeutische und besonders zahnmedizinische Studiengänge sind vergleichsweise gering vertreten. Die Geschlechterungleichheit auf der Ebene der höheren Bildung ist nicht sehr signifikant: das Verhältnis eingeschriebene Frauen/eingeschriebene Männer lag 2008 bei rund 85 % (Stopikowska und El-Deabes, 2012). Neben dem Bildungssystem ist das System des lebenslangen Lernens, das Arbeitnehmern ermöglicht, ihre Kenntnisse kontinuierlich zu verbessern, in Ägypten immer noch unterentwickelt. Abb. 8 legt nahe, dass Unternehmen in arabischen Ländern immer noch keine aktive Rolle an Ausbildungsprogrammen einnehmen. Außer in Algerien ist in Ägypten der Anteil der Unternehmen, die formale Ausbildungslehrgänge anbieten, gemessen an der Gesamtanzahl der Unternehmen der niedrigste in der Region, auch wenn er zwischen 2000 und 2009 nicht unerheblich zugenommen hat. Er bleibt jedoch geringer als in fast allen Vergleichsländern außerhalb der Region. 38 Abb. 8: Unternehmen, die formale Ausbildungslehrgänge anbieten (in % der Unternehmen) Durchschnitt 2000 - 2004 Vietnam Türkei Thailand Sri Lanka Philippinen Nicaragua Mexiko Malaysia Indonesien Indien Ecuador Costa Rica Kolumbien Brasilien Bolivien Argentinien Syrien Marokko Jordanien Ägypten Algerien 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Durchschnitt 2005 - 2009 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 4. Ungeeignete Qualifikationen Gemäß Angel-Urdinola und Semlali (2010) haben ägyptische Arbeitgeber Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften. Die Ergebnisse der Unternehmenserhebung der Weltbank von 2008 weisen darauf hin, dass Unternehmen die Qualifikationen und die Ausbildung von Arbeitnehmern zu den fünf Haupthindernissen für die positive Entwicklung des Geschäftsklimas zählen. Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse dieser Erhebung in Bezug auf die Beurteilung der Qualifikationen junger Bewerber durch Arbeitgeber. Nur 18 % aller befragten Unternehmen sind der Meinung, dass die Qualifikationen der Arbeitnehmer sehr gut sind. Tabelle 3: Beurteilung der Qualifikationen junger Bewerber durch Arbeitgeber (in % der Arbeitgeber) sehr gut mittel schlecht 18,2 10,1 38,6 39,2 22,4 50,5 42,4 49,4 41,0 37,0 31,3 47,5 12,0 19,8 40,6 62,9 13,5 28,9 66,1 8,2 20,5 Qualifikation Erforderliche technische Qualifikation Praktische Schulung in der Schule Kommunikationsfähigkeiten Schreibfähigkeiten Fähigkeit, das in der Schule erlernte Wissen anzuwenden Leistungsbereitschaft und Disziplin Allgemeine Bereitschaft Quelle: Angel-Urdinola and Semlali. (2010). 39 El-Hamidi, (2010) hat unter Verwendung der Erhebungen des ägyptischen Arbeitsmarktpanels von 1998 und 2006 das Ausmaß und die Entwicklung der Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beschäftigung nach Geschlecht und Berufsgruppen untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse lauten wie folgt: Im privaten Sektor der ägyptischen Wirtschaft gibt es Anhaltspunkte für eine Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beschäftigung. Tabelle 4 zeigt, dass die Gesamtinzidenz zwischen 1998 und 2006 unabhängig vom Geschlecht von 51 % auf 42 % zurückgegangen ist. Die fehlende Übereinstimmung von Ausbildung und Beschäftigung ist bei Männern wahrscheinlicher als bei Frauen. Der Rückgang der Diskrepanz manifestiert sich in der Abnahme der Überqualifizierung, während der Anteil der ungenügend ausgebildeten Arbeitnehmer zugenommen hat. In beiden Jahren war die Diskrepanz bei Männern wahrscheinlicher als bei Frauen, und der Rückgang ist bei Frauen ausgeprägter, hauptsächlich aufgrund des Rückgangs der Überqualifikation. Tabelle 4: Die Inzidenz der ausbildungsbezogenen Diskrepanz nach Geschlecht, 1998 und 2006 Angemessen ausgebildet Hoher Bildungsstand Geringer Bildungsstand Männer 48,16 43,44 8,40 1998 Frauen 55,07 28,99 15,94 Gesamt 48,96 41,77 9,27 Männer 57,12 11,46 31,42 2006 Frauen 65,41 16,98 17,61 Gesamt 58,12 12,12 29,76 Quelle: El-Hamidi, (2010) In Bezug auf Berufsgruppen findet sich die höchste Diskrepanz 2006 bei leitenden juristischen Beamten und Managern, Sachbearbeitern, technischen Fachkräften und bei Hilfsarbeiter. Zwischen 1998 und 2006 verzeichneten diese Berufsgruppen (außer Hilfsarbeiter) eine markante Zunahme der Diskrepanz, während sie bei Handwerkern und Fabrikarbeitern deutlich zurückging (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Die Inzidenz der Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beschäftigung Beruf Leg, Senior Officer, Manag. Spezialisten Technik.& Gleichrangige Sachbearbeiter Verkäufer Handwerker & verw. Berufe Anl.- & Maschinenbed. & Mont. Hilfsarbeitskräfte Angemessen 1998 Über Unter Angemessen 2006 Über Unter 70 90 89 70 71 57 62 63 8 22 13 43 3 37 30 10 3 8 16 36 - 63 90 72 64 71 67 70 63 1 22 27 15 3 2 5 37 9 5 8 14 30 28 32 Quelle: El-Hamidi, (2010) 40 Im Hinblick auf die Inzidenz nach Jahren der Berufserfahrung zeigt Tabelle 6, dass während die Diskrepanz 1998 mit zunehmender Berufserfahrung rückläufig war, sie 2006 entsprechend zunahm. Tabelle 6: Die Inzidenz der ausbildungsbezogenen Diskrepanz nach Jahren der Berufserfahrung und Geschlecht, 1998 und 2006 Anzahl Jahre Erfahrung Männer 1-5 6-10 11-20 20-30 30+ Frauen 1-5 6-10 11-20 20-30 30+ 1998 2006 Angem. ausgebildet Hoher Bildungsstand Geringer Bildungsstand Angem. ausgebildet Hoher Bildungsstand Geringer Bildungsstand 43,20 44,75 50,60 57,52 56,32 52,80 47,86 38,86 33,63 27,59 4,00 7,39 10,54 8,85 16,09 66,91 66,28 51,72 38,39 30,37 16,25 12,60 8,86 5,69 6,67 16,82 21,11 39,42 55,92 62,96 53,70 68,75 36,00 75,00 44,44 38,89 25,00 24,00 0,00 22,22 7,41 6,25 40,00 25,00 33,33 70,54 60,23 68,52 52,17 63,64 18,75 21,59 9,26 4,35 13,64 10,71 18,18 22,22 43,48 22,73 Quelle: El-Hamidi, (2010) Tabelle 7 betrachtet die Diskrepanz nach Berufsgruppen und zeigt, dass Arbeiterjobs sich schnell an die Änderungen angepasst haben: 1998 waren 40 % und 2006 53 % der Arbeitnehmer adäquat ausgebildet, resp. 45 % und 63 % der Arbeitnehmerinnen. Eine ähnliche Verbesserung kann bei Fachkräften beobachtet werden. Für kaufmännische Angestellte hat sich die Situation bei Männern verbessert, während sie sich bei Frauen verschlechtert hat. Die Veränderungen sind jedoch sehr gering. Tabelle 7: Die Inzidenz der Diskrepanz nach Berufsgruppen und Geschlecht, 1998 und 2006 1998 Spezialisten Angestellte 77,36 54,58 3,77 21,12 18,87 24,3 2006 Spezialisten Angestellte 86,6 56,01 0,48 26,87 12,92 17,11 5T Männer Angemessen ausgebildet Hoher Bildungsstand Geringer Bildungsstand Frauen Angemessen ausgebildet Hoher Bildungsstand Geringer Bildungsstand 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T Arbeiter 40,28 59,72 0 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T 5T Arbeiter 53,32 5,37 41,3 5T 5T 5T 5T 5T 65,79 0 34,21 5T 5T 58,62 32,76 8 62 5T 5T 5T 5T 45,45 54,55 0 5T 5T 5T 5T 5T 5T Quelle: El-Hamidi, (2010) 41 86,08 1,27 12,66 56,55 30,36 13,1 5T 5T 5T 5T 5T 5T 63,38 2,82 33,8 5T 5T 5T El Hamidi (2010) hat eine ökonometrische Analyse durchgeführt, um den Ertrag von Überund Unterqualifikation sowie angemessener Ausbildung zu untersuchen. Sie hat festgestellt, dass das Ertragspotential von überqualifizierten männlichen Angestellten höher qualifizierter Berufe und Arbeitern höher ist als bei angemessen ausgebildeten Männern und 2006 höher war als 1998. Frauen in höher qualifizierten Berufen, sowohl Über- als auch Unterqualifizierte, erreichten 1998 einen höheren Ertrag als angemessen ausgebildete Frauen. Demgegenüber war der Ertrag bei Überqualifizierten 2006 höher und bei Unterqualifizierten geringer als bei angemessen Ausgebildeten. Frauen in Arbeiterberufen wurden, besonders 2006, bestraft, wenn ihre Ausbildung unzureichend an die gewählte Arbeit angepasst war, und erhielten weniger Gehalt als Männer. Bertoni und Ricchiuti (2014) haben gestützt auf die Panelerhebungen des Arbeitsmarkts von 2006 und 2012 die Rolle der individuellen und kontextuellen Merkmale für die Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit von Personen untersucht. Sie haben festgestellt, dass für Frauen, Jugendliche und gebildetere Arbeitnehmer die Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit höher ist und diesen Umstand als Anzeichen für eine Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beschäftigung interpretiert. Des Weiteren führ ein späterer Eintritt in den Arbeitsmarkt zu einer Reduzierung der Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit einer Person. Zudem weisen verheiratete Personen (männlich oder weiblich), die als Hauptverdiener in ihrem Haushalt fungieren und in ländlichen Gouvernements oder in Regionen leben, an denen Hochschulen interessiert sind, eine geringere Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit auf. Bartlett (2013) hat das Ausmaß der ungeeigneten Qualfikation nach Bildungsniveau untersucht. Die Analyse basiert auf einem Diskrepanzverhältnis, das wie folgt definiert ist: Für ein gegebenes Bildungsniveau entspricht das Diskrepanzverhältnis dem Verhältnis zwischen dem Anteil der arbeitslosen Personen und dem Anteil der beschäftigten Personen mit demselben Bildungsniveau. Ein Verhältnis über 1 ist ein Anzeichen einer „positiven“ Diskrepanz. Das bedeutet, dass es ein Arbeitskräfteüberangebot mit dem jeweiligen Bildungsniveau gibt. Das Ausbildungssystem stellt der Wirtschaft gemessen am Bedarf „zu viele“ Arbeitnehmer mit dem jeweiligen Qualifikationsniveau zur Verfügung. Ist das Verhältnis kleiner als 1, gilt das Gegenteil. Tabelle 8 zeigt das Verhältnis für unterschiedliche Bildungsniveaus nach Geschlecht für den Zeitraum 2005-2010. Insgesamt zeigen die Ergebnisse unabhängig von den Ausbildungsgruppen ein erhebliches Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Es gibt jedoch bedeutende Unterschiede zwischen den Bildungsniveaus und Geschlechtern. Arbeitnehmer, die höchstens die Grundschule absolviert haben, erfahren eine starke negative Diskrepanz, 42 während jene mit Sekundarschulbildung und höherer Bildung mit dem Problem bedeutender Überqualifizierung konfrontiert werden. Das Diskrepanzverhältnis ist besonders groß für jene mit einem Universitätsabschluss und anderer höherer Bildung (über 2 seit 2007). Es gibt zudem signifikante Unausgewogenheiten zwischen den Geschlechtern. Das Missverhältnis bei Frauen mit entweder allgemeiner oder beruflicher Sekundarschulbildung ist positiv und höher als bei Männern. Im Gegensatz dazu ist das Missverhältnis bei Männern, die einen Universitätsabschluss haben, positiv und größer als bei den Frauen. Tabelle 8: Diskrepanzverhältnisse in Ägypten, 2005-2010 2005 0,050 2006 0,062 6T Analphabet Gesamt Männer 5T 5T Frauen 0,007 5T 0,011 5T Können lesen & schreiben Gesamt 5T 0,071 5T 0,087 5T Männer 0,111 5T 0,128 5T Frauen 0,053 5T 0,079 5T W eniger als Mittelstufe Gesamt 5T 0,307 5T 0,324 5T Männer 0,435 5T 0,456 5T Frauen 0,375 5T 0,357 5T Allgemeine Sekundarstufe Gesamt 5T 2,189 5T 2,095 5T Männer 2,003 5T 1,923 5T Frauen 2,518 5T 2,341 5T Technische Sekundarstufe Gesamt 5T Männer Frauen Mehr als Gesamt Mittelschulabschluss Männer 5T 1,524 5T 1,528 5T 1,566 5T 1,480 5T Frauen 1,233 5T 1,258 5T Gesamt Universität & höher 1,764 5T 5T 1,790 5T Männer 1,995 5T 2,091 5T Frauen 1,254 5T 5T 1,182 5T Quelle: Bartlett 43 1,605 5T (2013) 1,411 5T 2,562 5T 5T 2,363 5T 2,295 5T 5T 2,175 5T 2,395 5T 1,795 5T 2,052 5T 5T 1,504 5T 2,157 5T 1,918 5T 1,478 5T 5T 1,793 5T 1,508 5T 2,014 5T 1,792 5T 5T 1,773 5T 1,573 5T 1,776 5T 1,782 5T 5T 1,990 5T 1,709 5T 1,295 5T 2,326 5T 5T 1,531 5T 2,222 5T 1,412 5T 1,644 5T 5T 1,625 5T 1,721 5T 1,294 5T 1,819 5T 5T 1,939 5T 1,867 5T 2,350 5T 1,275 5T 5T 0,838 5T 1,289 5T 1,522 5T 1,448 5T 5T 1,004 5T 1,263 5T 0,578 5T 1,274 5T 5T 1,115 5T 1,161 5T 0,406 5T 0,392 5T 5T 0,334 5T 0,278 5T 0,317 5T 0,454 5T 5T 0,400 5T 0,373 5T 0,147 5T 0,332 5T 5T 0,268 5T 0,268 5T 0,185 5T 0,174 5T 5T 0,167 5T 0,132 5T 0,126 5T 0,148 5T 5T 0,142 5T 0,108 5T 0,031 5T 0,116 5T 5T 0,103 5T 0,088 5T 0,171 5T 0,015 5T 5T 0,082 5T 0,013 5T 6T 5T 0,104 5T 2010 0,090 6T 5T 0,095 5T 2009 0,113 6T 5T 0,118 5T 2008 0,058 6T 5T 0,102 5T 2007 0,052 6T 5T 2,433 5T 1,471 5T 5T 1,741 5T 5. Schulungen in Unternehmen Der hohe Anteil an Hochschulabgängern an den Arbeitslosen zeigt sowohl das Missverhältnis zwischen dem Arbeitskräftebedarf und der Bereitstellung von Qualifikationen als auch die geringe Beteiligung der Unternehmen an der Ausbildung. Hochschulabgänger haben in der Regel den erforderlichen Hintergrund, um neue Aufgaben zu lernen und sich diesen anzupassen. Neben dem Bildungssystem ermöglicht die Ausbildung durch Unternehmen den Arbeitsnehmern, ihre Kenntnisse kontinuierlich zu aktualisieren, was in Ägypten jedoch immer noch unterentwickelt ist. Abb. 8 in Abschnitt 3 hat gezeigt, dass Unternehmen in arabischen Ländern immer noch keinen aktiven Anteil an Ausbildungsprogrammen nehmen. Außer in Algerien ist in Ägypten der Anteil der Unternehmen, die formale Ausbildungslehrgänge anbieten, gemessen an der Gesamtanzahl der Unternehmen der niedrigste in der Region, auch wenn er zwischen 2000 und 2009 nicht unerheblich zugenommen hat. Er bleibt jedoch geringer als in fast allen Vergleichsländern außerhalb der Region. Einige empirische Studien haben den Effekt von unternehmensgesponserten Ausbildungen in Entwicklungsländern untersucht. Revenga et al. (1994) haben festgestellt, dass in Mexiko Ausbildungen die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit reduzieren und die Monatseinkommen von Männern erhöhen. Attanasio et al. (2008) haben gezeigt, dass in Kolumbien Ausbildungen sowohl die Einkommen als auch die Beschäftigung erhöhen. Aedo und Nuñez (2001) kamen in ihrer Studie über Argentinien zu dem Schluss, dass sich Ausbildungen positiv auf Einkommen und Beschäftigung auswirken. Rosholm et al. (2007) haben sich mit den Auswirkungen von Ausbildungen auf die Einkünfte von Arbeitnehmern in kenianischen und sambischen Produktionsunternehmen befasst und festgestellt, dass diese nur gering positiv ausfallen. Soweit uns bekannt ist, haben sich nur Achy und Sekkat (2011) sowie Sekkat (2011) mit einer solchen Frage bei einem arabischen Land befasst, nämlich am Fall von Marokko. Achy und Sekkat (2011) haben gestützt auf eine Stichprobe großer und kleiner Unternehmen aus sieben Branchen in Marokko festgestellt, dass die Investition der Unternehmen in Humankapital, d. h. Ausbildung, ihnen ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Sekkat (2011) hat unter Verwendung einer ähnlichen Stichprobe im Hinblick auf die Produktivität festgestellt, dass sich intensive Ausbildung signifikant positiv auf die Produktivität in kleinen und mittleren Unternehmen auswirkt. Für Ägypten scheint es keine Studie dieser Art zu geben. 44 6. Fazit Die Bildung von Humankapital ist als Vehikel für wirtschaftliches Wachstum, Armutsbekämpfung und Reduzierung von Ungleichheiten weithin anerkannt. Statistische Daten zeigen jedoch, dass der Anteil der Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren, die über keine formale Bildung verfügt, in Ägypten nach Marokko und Jemen der höchste in der Region ist. Er ist höher als in jedem anderen Vergleichsland außerhalb der Region, außer Indien und Nicaragua, obwohl die ägyptische Verfassung Bildung als Grundrecht der Bürger festschreibt und eine Grundschulpflicht besteht. Der Anteil von Personen mit einem tertiären Abschluss am Bevölkerungsteil zwischen 15 und 65 Jahren ist in Ägypten geringer als in vielen anderen Ländern innerhalb und außerhalb der MENA-Region. Gleichzeitig scheinen ägyptische Arbeitgeber Schwierigkeiten zu haben, qualifizierte Arbeitnehmer zu finden. In 2008 waren nur 18 % aller befragten Unternehmen der Meinung, dass die Arbeitnehmer über sehr gute Qualifikationen verfügen. Abgesehen vom Bildungssystem ist das System des lebenslangen Lernens, das Arbeitnehmern ermöglicht, ihre Kenntnisse kontinuierlich zu verbessern, in Ägypten immer noch unterentwickelt. In diesem Land ist der Anteil der Unternehmen, die eine formale Ausbildung anbieten, gemessen an der Gesamtanzahl der Unternehmen der niedrigste in der Region, außer in Algerien, und er ist geringer als in fast allen Vergleichsländern außerhalb der Region. Manche Forscher schreiben diese Situation dem Missverhältnis zwischen den Anforderungen des Arbeitsmarkts und den Qualifikationen zu, die vom Schul- und Berufsbildungssystem hervorgebracht werden. Das ägyptische Bildungssystem entspricht in groben Zügen den Bildungssystemen vieler anderer Staaten weltweit. Es besteht aus der Vorschul-, Grundschul-, Sekundar- und Tertiärstufe. Die Grundschulbildung ist obligatorisch, die Schulpflicht beträgt 9 Jahre: 6 Jahre Primarstufe und 3 Jahre Vorbereitungsstufe. Nach der Primarstufe bietet das Bildungssystem allgemeine oder berufsbildende Schulprogramme an. Die Bildung auf allen Stufen wird sowohl von öffentlichen als auch von privaten Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Das öffentliche Bildungssystem ist kostenlos und allen zugänglich. Das private Bildungsangebot umfasst religiös geprägte Schulen (muslimischer oder christlicher Ausrichtung) und solche säkularer Art, ägyptisch oder ausländisch getragen. Wie die öffentlichen Einrichten stehen jedoch auch die privaten Einrichtungen unter staatlicher Aufsicht. Bei der Finanzierung der öffentlichen Bildung werden die Effizienz der Bildungseinrichtungen und ihre Leistungen nicht berücksichtigt. Zudem gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Mittelvergabe an die einzelnen Einrichtungen und 45 deren tatsächlicher Bedürfnisse. Das Berufsbildungssystem wird von vielen Beobachtern ebenfalls kritisiert. Sie legen dar, dass es sein Ziel weitgehend verfehlt hat. Dieser Umstand wird seiner starken Fragmentierung (zu viele Akteure), einer wenig zielgerichteten Finanzierung und der unzureichenden Qualifikation der Ausbilder zugeschrieben. Zur Verbesserung des Berufsbildungssystems wurde mehrere Reformen angestoßen oder bereits umgesetzt: Unter diesen scheint die Mubarak-Kohl-Initiative Duales System (MKI-DS), die 1991 ins Leben gerufen wurde, sehr erfolgreich gewesen zu sein. 46 Literaturhinweise Achy, L. and Kh. Sekkat (2011), 'Training, new equipment and job creation: A firm-level analysis using Moroccan data', European Journal of Development Research, 23:4, S. 615-629. Aedo, C. and Nunez, S. (2001), 'The Impact of Training Policies in Latin America and the Caribbean: The Case of ‘Programa Joven'', Inter-American Development Bank, Working paper R-483. Angel-Urdinola, D. F. und A. Semlali (2010), 'Labor markets and school-to-work transition in Egypt: Diagnostics, constraints, and policy framework' MPRA Paper No. 27674. Angel-Urdinola, D. F., A. 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Rosholm, M., H. S. Nielsen und A. Dabalen (2007), 'Evaluation of training in African enterprises', Journal of Development Economics, 84:1, S. 310-329. Sekkat Kh. (2011), 'Firm Sponsored Training and Productivity in Morocco', Journal of Development Studies, 47:9, S. 1391-1409. Stopikowska, M. und Y. M. El-Deabes (2012), 'The Education System of Egypt: Contexts, Frames and Structures'", Education, 40, S. 1-29. 48 Kapitel 3: Emigration 1. Einführung Arbeitsmigration ist ein zentrales Merkmal der heutigen internationalen Wirtschaft. Die neuesten vorhandenen Schätzungen legen nahe, dass es 2010 weltweit 215 Millionen Migranten 4 gab. Die Hauptquelle dieser Migrationsströme sind Entwicklungsländer. Auf sie entfielen über 65 Prozent der Gesamtzahl der Emigranten. Über die Ursachen und Folgen dieses Phänomens wird intensiv diskutiert. Frühe Untersuchungen über die Migration aus den 1960er und 1970er Jahren unterstützen die Ansicht, dass die Migration, besonders jene gebildeter Migranten, sich für die Zurückbleibenden klar nachteilig auswirkt (siehe Docquier und Sekkat, 2006, für eine ausführlichere Diskussion). Deshalb haben einige Forscher (etwa Bhagwati und Hamada 1974) die Implementierung eines Mechanismus für internationale Geldüberweisungen gefordert, der die Ursprungsländer für die eingetretenen Verluste entschädigen soll. Die neuere Literatur verweist auf Möglichkeiten, wie die Migration sich positiv auf die Wirtschaft des Ursprungslands auswirken kann. Diese umfassen mehrere 'Feedback-Effekte', z. B. Geldüberweisungen, Rückwanderungen, den Aufbau von Geschäfts- und Handelsnetzwerken sowie die Auswirkung von Migrationsaussichten auf die Bildung. Geldüberweisungen sind häufig eine wesentliche Einkommensquelle in Entwicklungsländern: sie beliefen sich 2010 auf rund 463 Milliarden US-Dollar 2010 5, etwa soviel wie ausländische Direktinvestitionen und etwa das Dreifache der offiziellen Entwicklungshilfe (Weltbank, 2006). Insofern können sich Geldüberweisungen stark auf die Armut und auf Entscheidungen von Haushalten in Bezug auf Arbeitskräfteangebot, Investitionen und Bildung auswirken. Die Rückwanderung ist ebenfalls eine potentiell wichtige Quelle für positive Feedbacks, obwohl ihr Ausmaß kaum bekannt ist. Emigranten erwerben Wissen und finanzielle Mittel in reichen Ländern und verbringen danach den Rest ihrer Berufslaufbahn in ihrem Ursprungsland. Die Aussicht auf Emigration kann zudem dazu führen, dass mehr Personen in der Heimat in die Bildung investieren. Wird davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit der Migration von den Bildungsanforderungen abhängt und der Bildungsertrag in entwickelten Ländern höher 4 http://econ.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTDECPROSPECTS/0,,contentMDK:22803131~ pagePK:64165401~piPK:64165026~theSitePK:476883,00.html 5 www.worldbank.org/prospects/migrationandremittances. 49 ist, dann erhöhen Migrationsaussichten den erwarteten Bildungsertrag und damit die Investitionen in die Bildung von Humankapital. Schließlich kann die Bildung von Migrantennetzwerken die Bewegung von Waren, Faktoren und Ideen zwischen den Aufnahmeländern der Migranten und ihrer Heimat erleichtern. Ethnische Netzwerke helfen bei der Beseitigung von Informationsproblemen im Zusammenhang mit der Beschaffenheit der ausgetauschten Waren. Ein neuer Bereich der Literatur befasst sich mit den nicht wirtschaftlichen Auswirkungen der Migration auf das Ursprungsland. Sie können verschiedene Bereiche betreffen, wie etwa ethnische Diskriminierung, Fruchtbarkeit, Korruption, Demokratie und die Qualität öffentlicher Einrichtungen. Gestützt auf die hier bereits gewonnenen Einsichten aus der Literatur untersucht das vorliegende Kapitel die Auswirkungen der Migration auf die wirtschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum in Ägypten. Das Kapitel ist wie folgt unterteilt: Abschnitt 2 enthält eine statistische Analyse der ägyptischen Emigration im Allgemeinen sowie nach Emigrationsziel und Bildungsniveau. In Abschnitt 3 werden die Determinanten dieser Emigrationsströme diskutiert. Abschnitt 4 untersucht die Auswirkungen der Emigration auf das Heimatland der Emigranten. Dabei wird zwischen den wirtschaftlichen (Geldüberweisungen, Rückwanderung usw.) und den nicht wirtschaftlichen Auswirkungen (Fruchtbarkeit, Qualität der öffentlichen Einrichtungen, Demokratie usw.) unterschieden. Abschnitt 5 zieht Bilanz. 2. Statistische Analyse 2.1 Internationaler Vergleich Abb. 1 zeigt, dass ägyptische Emigranten etwas mehr als 4 % der in Ägypten lebenden Bevölkerung ausmachen. Dieser Prozentanteil liegt, obwohl nicht unerheblich, weit unter dem in vielen anderen Ländern der Region. Ägyptische Emigranten leben hauptsächlich in anderen arabischen Ländern (Abb. 2). Der Anteil solcher Emigranten an der Gesamtemigration ist viel höher als in anderen Ländern in der Region. Der größte Teil der algerischen, marokkanischen, tunesischen und türkischen Emigranten lebt in Europa. Die unterschiedlichen Emigrationsziele der Emigranten einzelner Länder in der Region könnten einige Unterschiede bei den Auswirkungen der Emigration zwischen den Ländern erklären, wie nachstehend gezeigt werden soll. 50 Abb. 1: Emigrationsrate in 2010 (in % der Bevölkerung) 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 6,0 4,0 2,0 0,0 Quelle: http://econ.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTDECPROSPECTS/0,,contentMDK:22803131~ pagePK:64165401~piPK:64165026~theSitePK:476883,00.html Abb. 2: Emigration nach Ziel in 2010 (in %) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Andere EU Arabische Länder Nordamerika Quelle: http://econ.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTDEC/EXTDECPROSPECTS/0,,contentMDK:22803131~ pagePK:64165401~piPK:64165026~theSitePK:476883,00.html Bei der Diskussion der Auswirkungen der Emigration auf das Ursprungsland standen zwei Aspekte im Mittelpunkt: die Geldüberweisungen, die häufig eine Haupteinkommensquelle von Entwicklungsländern sind, und die Abwanderung von Fachkräften, die generell als bedeutender Kostenfaktor für solche Länder gilt. Der weitere internationale Vergleich wird sich daher auf diese beiden Aspekte konzentrieren. Abb. 3 zeigt den Anteil der persönlichen Geldüberweisungen am BIP, die in ausgewählten Ländern der Region empfangen wurden. Zwischen 2000 und 2012 lag der größte Anteil, wenn auch abnehmend, in Jordanien. Unter den übrigen Ländern hatte Ägypten den zweithöchsten Anteil nach Marokko. In diesem Zeitraum hat der Anteil in Ägypten kontinuierlich 51 zugenommen und erreichte 2012 bereits einen Wert (7,32 %), der höher war als jener von Marokko (6,79 %). Gemäß Wahba (2014) steht Ägypten in der Liste der größten Empfängerländer von Geldüberweisungen, die 2012 in Entwicklungsländer überwiesen wurde, an sechster Stelle. Die Geldüberweisungen nach Ägypten haben seit 2009 erheblich zugenommen und 2012 etwa die Summe von insgesamt 19 Milliarden US-Dollar erreicht. Geldüberweisungen sind die größte Quelle nicht arbeitsbezogenen Einkommens von Haushalten. 2012 haben etwa 4 % der Haushalte Geldüberweisungen von Haushaltsmitgliedern oder anderen Verwandten im Ausland erhalten. Überraschenderweise gleicht dieser Anteil dem Anteil im Jahre 2006, obwohl die Anzahl der Haushalte in 2012 im Vergleich zu 2006 gestiegen ist. Abb. 4 vergleicht das Ausmaß der Fachkräfteabwanderung und der Abwanderung von gering qualifizierten Arbeitskräften in ausgewählten Ländern. Die Quoten der Abwanderung von gering qualifizierten Arbeitskräften sind stets geringer als die Fachkräfteabwanderung. In Bezug auf letztere ist Marokko am stärksten betroffen, und zwar mit einem Anteil der Abwanderung von Fachkräften an der gesamten gebildeten Bevölkerung von etwa 16,5 %. Marokko wird dicht gefolgt vom Iran (mehr als 14 %) und dann von Irak und Tunesien (etwa 12 %). In Ägypten ist die Fachkräfteabwanderung nach Libyen am geringsten. Abb. 3: Erhaltene persönliche Geldüberweisungen (in % des BIP) 25,00 Algerien 20,00 Ägypten Israel 15,00 Jordanien 10,00 Marokko Syrien 5,00 Tunesien 0,00 Türkei Quelle: www.worldbank.org/prospects/migrationandremittances) 52 Abb. 4: Migration und Fachkräfteabwanderung in der MENA-Region im Jahr 2000 Quelle: Docquier and Marchiori (2010). 2.2 Die ägyptische Emigration näher betrachtet Die ägyptische Emigration ist ein relativ neues Phänomen, da sie hauptsächlich in den 1970er Jahren begonnen hat. Diese Entwicklung ergab sich aus dem hohen Arbeitskräftebedarf von arabischen Ländern, die vom starken Anstieg der Ölpreise profitierten, und aus einer ägyptischen Gesetzesreforn, die temporäre und dauerhafte Migration erleichterte (Amer und Fargues, 2014). Die ägyptischen Migrationsströme schwanken seit den 1970er Jahren aufgrund von Ölpreisschwankungen, politischen Spannungen in der Region (z. B. Irak-IranKrieg, Golfkrieg) und gesetzgeberischen Massnahmen, die in Golfländern die eigenen Staatsbürger bevorzugen, stark (Amer und Fargues, 2014). Tabelle 1 bestätigt die Ergebnisse unserer darstellenden Analyse: Arabische Länder nehmen 93 % der Migranten auf, und nahezu zwei Drittel der ägyptischen Emigranten fanden Aufnahme in den Golfstaaten. Tabelle 1: Die Emigrationsziele ägyptischer Migranten 2006 Zielländer in % Saudi-Arabien Jordanien Libyen Kuwait Emirate OECD – Europa USA und Kanada Sonstige arabische Länder Sudan und Subsahara-Afrika 37,43 16,11 13,64 12,27 11,56 2,24 1,89 1,68 1,24 Quelle: Amer und Fargues (2014) 53 Abb. 5 fasst das allgemeine Bildungsprofil ägyptischer Emigranten zusammen. Das Bildungsprofil heutiger und früherer Migranten (Rückkehrmigranten) ist relativ ähnlich. Es unterscheidet sich jedoch vom Profil von Nichtmigranten. Migranten sind in der Regel gebildeter als Nichtmigranten. Die Hälfte der Nichtmigranten hat keine Bildung der unteren Sekundarstufe im Vergleich zu 35 % und 40 % der heutigen Migranten und Rückkehrmigranten. Des Weiteren sind weniger als ein Viertel der Emigranten Analphabeten oder ohne Schulabschluss, verglichen mit über einem Drittel der Nichtmigranten. Zwischen 22 % und 25 % der Emigranten haben mindestens einen Universitätsabschluss, gegenüber nur 16 % der Nichtmigranten.. Abb. 5: Bildung von Nichtmigranten, heutigen Migranten und Rückkehrmigranten 2006 (in %) Quelle: Amer und Fargues (2014) Das Bildungsprofil ägyptischer Emigranten unterscheidet sich auch nach dem Zielland (Wahba, 2010)). 2006 hatten etwa 71 % der Ägypter, die in arabischen Ländern arbeiteten, einen Mittelstufen- oder unteren Mittelstufenabschluss und 25,8 % einen höheren Abschluss. Etwa 50 % der ägyptischen Migranten in Europa haben ein mittleres und 17 % ein höheres Bildungsniveau. Schließlich besitzen 76,2 % der ägyptischen Migranten in den USA einen Hochschulabschluss und 16,1 % einen Abschluss der Mittelstufe. 54 3. Die Entscheidung zur Migration Das Ausmaß der Emigration kann durch viele Schub- und Sog-Faktoren und durch geografische, historische und sprachliche Distanzen zwischen den Ländern erklärt werden. Zahlreiche empirische Arbeiten haben die Determinanten der internationalen Migrationsströme untersucht. Sie haben folgende Faktoren als Determinantenausgemacht: • Einkommensunterschiede zwischen den Ländern; • Anteil der Bevölkerung zwischen 15 und 39 Jahren in den Ursprungs- und Zielländern; • Anteil an Immigranten in der Gesellschaft; • Ausmaß der Armut im Ursprungsland. Marfouk (2006) hat aufgrund von bilateralen Daten auf dem Jahr 2000 zur Emigration aus 153 Entwicklungsländern in 30 Zielländer die Rolle von Determinanten der bilateralen Emigrationsströme einzuschätzen versucht. Dabei ist ein wichtiger Punkt die Unterscheidung zwischen der Emigration von Menschen mit und ohne Bildung. Tabelle 2 zeigt die Elastizität der bilateralen Emigrationsraten für alle unabhängigen Variabeln. Tabelle 2: Die Elastizität der Emigrationsrate Geringqualifizierte Hochqualifizierte Gesamt 0,4490** 0,7876** 0,6476** -2,94 -5,29 -4,41 0,9182** 1,1537** 1,1049** -4,49 -5,78 -5,61 -0,2571** -0,3267** -0,3090** -3,66 -4,77 -4,56 Geografische Entfernung (Herkunft-Ziel), 1.000 km -1,4607** -1,2108** -1,4648** -8,12 -6,85 -8,43 Geografische Entfernung (Herkunft-Ziel), 1.000 km, quadriert 0,4487** 0,1818 0,3987** -4,42 -1,81 -4,08 Frühere koloniale Bindungen 0,0631** 0,0404** 0,0316** -13,75 -9,19 -7,2 Sprachliche Nähe -0,0016 0,0838** 0,0458** -0,14 -7,79 -4,28 3,6510** 5,4343** 4,5875** -10,49 -15,56 -13,42 -0,2697** -0,3287** -0,2574** -4,5 -5,6 -4,49 0,1956** 0,1900** 0,2087** -3,87 -3,85 -4,27 GNI, PPP angepasst, Pro-Kopf-'Ziel/Herkunft'-Quote GNI, PPP angepasst (Herkunft), 1.000 GNI, PPP angepasst (Herkunft), 1.000, quadriert Population (Ziel), in Log Arbeitslosenrate (Ziel), in Prozent Diversifikation (Ziel) 55 Geringqualifizierte Hochqualifizierte Gesamt 1,3086** 1,1997** 1,0912** -10,03 -9,33 -8,65 Zuwanderungspolitik (EU15) -0,1515** -0,2157** -0,1846** -3,99 -5,74 -5 Zuwanderungspoliitik (CAN, AUS, NEZ, USA) 0,1082** 0,1753** 0,1287** -6,8 -11,21 -8,4 0,0712 0,1328** 0,1094* -1,42 -2,7 -2,25 1,4877** 1,5974** 2,3277** -6,12 -6,68 -9,97 0,0167** 0,0149** 0,1324* -2,55 -2,32 -2,08 Öffentliche Sozialausgaben (Ziel), in Prozent des BIP Religiöse Zersplitterung (Herkunft) Bevölkerung 15-29 (Herkunft), in Prozent der Gesamtbevölkerung Bürgerkriege (Herkunft) – Kriegsopfer Quelle: Docquier and Sekkat (2006). Hinweis: Abhängige Variable: Emigrationsrate (in Prozent), Schätzmethode: Tobit-Regressionen, die Zahlen in Klammern sind die absoluten Werte der t-Verhältnisse; ** signifikant bei 1 %; *signifikant bei 5 %. Diese Regressionen zeigen, dass die Determinanten der Migration zwischen Bildungsgruppen variieren. Die globale Regressionsanalyse ohne Berücksichtigung der Bildungsunterschiede marginalisiert die äußerst starke Heterogenität. Die Ergebnisse zeigen insbesondere folgendes: • Hochqualifizierte Arbeitnehmer reagieren empfindlicher auf Unterschiede in Bezug auf den Lebensstandard. Eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommensunterschieds um 10% zwischen den Ziel- und Ursprungsländern bewirkt eine Erhöhung der Rate der hochqualifizierten Emigration um 7,9 % gegenüber einer Erhöhung von nur 4,5 % bei gering qualifizierten Arbeitnehmern. • Während der Effekt der Entfernung sowohl bei qualifizierten als auch bei unqualifizierten Arbeitnehmern negativ ist, ist die Auswirkung der Entfernung im Quadrat positiv, d. h. der marginale Effekt der Entfernung ist abnehmend. • Koloniale Verbindungen aus der Vergangenheit spielen eine wichtige Rolle. Der Effekt dieser Variable ist bei unqualifizierten Arbeitnehmern ausgeprägter. • Die qualifizierte und unqualifizierte Emigrationsrate steht in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitslosenquote im Zielland. Die Migration von hoch qualifizierten Emigranten wird stärker von Arbeitsmöglichkeiten im Zielland beeinflusst als die Migration von gering qualifizierten Emigranten. • Die Bevölkerung im Zielland verkörpert die Immigrationskapazität und die wirtschaftlichen Möglichkeiten im Zielland. In Bezug auf den Einkommenseffekt sind qualifizierte Arbeitnehmer empfänglicher für wirtschaftliche Gelegenheiten. 56 • Sozialhilfeprogramme wirken sich sowohl auf die qualifizierte als auch auf die unqualifizierte Migration aus. • Die Größe der jungen Alterskohorten in den Ursprungsländern ist ein wichtiger Faktor, der die Süd-Nord-Migration antreibt. • Zunächst wäre darauf hinzuweisen, dass bei steigender Opferzahl in Bürgerkriegen, die Emigration sowohl bei Qualifizierten als auch bei Unqualifizierten befördert wird. • Sprachliche Nähe ist nur für hoch qualifizierte Migranten signifikant. Die Erklärung ist, dass die vor der Migration erworbenen Qualifikationen besser auf die Zielländer übertragbar sind, in denen die gleiche Sprache gesprochen wird. • Schließlich versucht die europäische Immigrationspolitik die Emigration sowohl von hochqualifizierten als auch von gering qualifizierten Arbeitnehmern zu verhindern. Die Elastizität ist besonders negativ für die Qualifizierten. Im Gegensatz dazu favorisieren die vier traditionellen Immigrationsnationen (Australien, Kanada, Neuseeland und die USA) alle Formen der Immigration, jedoch hauptsächlich die qualifizierte Immigration. Amer und Fargues (2014) stellen eine mikroökonomische Analyse der Determinanten der Emigration in Ägypten vor. Die Studie präsentiert insbesondere die Ergebnisse einer neuerlichen Umfrage über die Einstellung der ägyptischen Jugend zur Emigration. Diese Studie wurde vom Zentrum für Migrationspolitik entwickelt und 2013 vom ägyptischen Forschungszentrum für öffentliche Meinung (Centre for Public Opinion Research) (Baseera) über Telefoninterviews durchgeführt. Von 2.509 Personen im Alter von 18-35, die telefonisch befragt wurden, gaben 468 (18,7 %) an, sie hätten die Absicht zu emigrieren. Von diesen waren 81,8 % männlich und 18,2 % weiblich. Von den 468 Personen haben 104 (22 %) eine dauerhafte Emigration und 364 (78 %) eine langfristige, jedoch nicht dauerhafte Migration geplant. Die Autoren haben die Antriebsfaktoren für die Emigration in drei Gruppen eingeteilt: individuelle Merkmale, die aktuelle Situation zum Zeitpunkt der Umfrage und Vertrautheit mit der Migration. Sie haben drei individuelle Merkmale gefunden, die emigrationsfördernd wirken: 1. Hochschulbildung: 65,4 % der Betroffenen haben eine Hochschulbildung (mit oder ohne Abschluss). 2. Familienstand: 50,9 % der Betroffenen sind noch ledig. Familiäre Verpflichtungen sind ein Hinderungsfaktor für die Migration. 3. Religion: Christ zu sein, ist ein Antriebsfaktor für die Emigration. 57 Drei Aspekte hinsichtlich der aktuellen Situation des Landes tragen dazu bei, junge Menschen zur Emigration zu bewegen. 1. Die Suche nach (besserer) Beschäftigung: Die Aussicht auf eine Arbeit ist der Hauptantriebsfaktor für die Emigration unter jungen Ägyptern. 2. Überqualifizierung: Die Unzufriedenheit mit der aktuellen Beschäftigung und die Unterbeschäftigung sind in der Tat gewichtige Erklärungen dafür, dass junge Menschen die Emigration in Erwägung ziehen. 3. Fehlendes Vertrauen in die Stabilität Ägyptens: Potenzielle Emigranten haben ihre Bedenken über die Zukunft ihres Landes zum Ausdruck gebracht, eine Stimmungslage, die mit dem Migrationswunsch verbunden wird. Zwei Aspekte der Kontakte mit Emigranten machen die Emigration zu einer realistischen Option: 1. Die Berührung mitder Migrationserfahrung anderer: 87,1 % der Befragten, die eine Migrationsabsicht erklärten, haben von ständig im Ausland lebenden Landsleuten gehört, während der entsprechende Prozentanteil unter jenen, die keine Migrationsabsicht angaben, bei 70,4 % lag. Der Kontakt mit der Migrationserfahrung anderer wird zu einem noch stärkeren Antriebsfaktor für die Migration, wenn die Erfahrungen der ständig im Ausland lebenden Landsleute als positiv angegeben werden. 2. Ein Land, in dem Verwandte und Freunde im Ausland leben: Das bestimmt die Emigrationsbereitschaft unabhängig von dem Land, in den die Verwandten oder Freunde leben, außer für Saudi-Arabien. Weniger potenzielle Emigranten haben Verwandte oder Freunde, die in Saudi-Arabien leben. Im Gegensatz dazu, sind Verwandte und Freunde, die im Westen leben, z. B. in den USA, Kanada und Frankreich, ein leistungsstarker Antriebsfaktor für die Migration. Die Umfrage gibt zudem Aufschluss über die Gründe für die Rückkehr. Gefragt, was sie zur Rückkehr nach Ägypten veranlassen würde, gab die Mehrheit der Befragten an, dass familiäre Angelegenheiten ein zwingendes Motiv darstellten. Jedoch nur eine Minderheit war der Auffassung, dass das Finden einer geeigneten Arbeitsstelle in Ägypten oder eine Heirat für sie ein ausreichender Grund sein würde, zurückzukehren, wenn sie einmal im Ausland sind. Die Bedeutung der Rückkehrfaktoren variiert geschlechtsspezifisch nicht. 58 4. Auswirkungen der Emigration auf das Heimatland Die frühe Literatur, die sich mit der Migration befasst, stammt aus den 1960ern und 1970ern und unterstützt die Ansicht, dass die Migration, besonders die qualifizierte, für die Zurückbleibenden zweifelsfrei nachteilig ist. Folglich haben einige Autoren die Implementierung eines Mechanismus für internationale Geldüberweisungen verlangt, der die Ursprungsländer für die eingetretenen Verluste kompensiert. Die jüngste Literatur, die sich mit der Auswirkung der Emigration auf das Ursprungsland auseinandersetzt, verweist auf die positiven Feedbacks in Bezug auf Geldüberweisungen, Rückwanderung, Geschäfts- und Handelsnetzwerke, Humankapital und die Qualität von Einrichtungen. Die vorhandene Literatur, die sich auf Ägypten konzentriert, hat jedoch nur einen Teil dieser Auswirkungen angesprochen. 4.1. Geldüberweisungen Geldüberweisungen haben eine starke Auswirkung auf die Armut und auf Entscheidungen von Haushalten in Bezug auf Arbeitskräfteangebot, Investitionen und Bildung. Tabelle 5, in der die Hauptergebnisse einer jüngsten Umfrage dargestellt werden, bietet jedoch ein relativ pessimistisches Bild in Bezug auf die Verwendung von Geldüberweisungen in Ägypten. Sie zeigt, dass die täglichen Kosten den Hauptteil des Einkommens aus Geldüberweisungen absorbieren, während begrenzte Mittel für Investitionen ausgegeben werden. Tabelle 5: Die Verwendung von Geldüberweisungen Algerien Ägypten Jordanien Libanon Marokko Tunesien Syrien Tägliche Kosten 45 43 74 56 46 61 Zahlung von Schuhlgebühren 13 12 16 24 31 23 11 Hausbau Firmengründung Investitionen Sonstiges 23 18 4 5 16 34 8 3 5 2 - 5 15 6 5 5 16 - 11 12 5 2 25 20 Anzahl der Befragten 64 31 40 41 40 40 49 Quelle: Marchetta (2012). Diese pessimistische Sicht der Verwendung von Geldüberweisungen wurde kürzlich von Billmeier und Massa (2009), die sich mit den indirekten Auswirkungen von Geldüberweisungen auf Investitionen auseinandersetzten, in Frage gestellt. Die Autoren haben untersucht, ob Geldüberweisungen zur Vertiefung der Kapitalmärkte in einer Reihe von 17 Ländern im Nahen Osten und in Mittelasien, einschließlich Ägypten, Jordanien, Libanon, 59 Marokko und Tunesien, beitragen. Sie fanden heraus, dass Geldüberweisungen von Emigranten sich stark auf das Kapitalisierungsniveau der Aktienmärkte in nichterdölexportierenden Ländern auswirken, da sie eine Quelle privater Ersparnisse darstellen und die im Wirtschaftssystem zirkulierende Liquidität erhöhen. Die Ergebnisse legen daher nahe, dass die Makro-, nicht die Mikroeffekte von Geldüberweisungen auf Investitionen maßgebend sein könnten. Des Weiteren haben die Autoren gezeigt, dass die Auswirkungen von durch Geldüberweisungen finanzierten Investitionen auf den Arbeitsmarkt möglicherweise nicht auf Migrantenbereiche beschränkt sind. Adams und Page (2003) haben die Auswirkungen von Erdölerträgen, Geldüberweisungen und der Beschäftigung im öffentlichen Dienst auf die Reduzierung von Ungleichheit und Armut untersucht. Sie haben gestützt auf eine Gruppe von 50 Entwicklungsländern, einschließlich Ägypten, einfache ökonometrische Modelle durchgerechnet. Diese Modelle verknüpfen entweder das Armuts- oder das Ungleichheitsniveau mit dem Niveau der oben beschriebenen Variablen sowie weiterer Kontrollvariablen. Die Ergebnisse der Auswirkung von Geldüberweisungen auf die Armut legen nahe, dass Geldüberweisungen die Armut in der MENA-Region signifikant reduzieren. Der Effekt ist größer als in anderen Entwicklungsländern. Geldüberweisungen scheinen jedoch keine signifikante Auswirkung auf die Ungleichheit in der Region zu haben. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass sich Geldüberweisungen aus dem Ausland möglicherweise gut über die gesamte Bevölkerung verteilten und die absolute Armut reduzierten, die Ungleichheit insgesamt jedoch unverändert ließen. Sharaf (2014) hat den langfristigen kausalen Zusammenhang zwischen Geldüberweisungen und dem BIP in Ägypten für den Zeitraum von 1977-2012 untersucht. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass zwischen Geldüberweisungen und dem BIP ein langfristiger Zusammenhang besteht, und zwar wirken sich Geldüberweisungen statistisch signifikant kausal positiv auf das BIP aus. Letzteres lässt jedoch langfristig in Ägypten keine Aussage über die Entwicklung von Geldüberweisungen zu. Die Ergebnisse bestätigen die Bedeutung von Geldüberweisungen für die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums in Ägypten. Elseoud (2014) hat die Auswirkungen von Geldüberweisungen von Arbeitnehmern auf diverse makroökonomische Variabeln in Ägypten während des Zeitraums von 1991-2011 untersucht. Die Ergebnisse zeigen das Vorhandensein eines langfristigen Zusammenhangs zwischen den Geldüberweisungen von Arbeitnehmern und den makroökonomischen Variabeln. Insbesondere liegt eine unidirektionale Kausalität von Geldüberweisungen zu privater Vermögensbildung und zu Exporten vor, während eine bidirektionale Kausalität zwischen 60 Geldüberweisungen und privatem Verbrauch, Staatsausgaben und wirtschaftlichem Wachstum besteht. Elbadawy und Roushdy (2009) haben die Auswirkungen der internationalen Migration und Geldüberweisungen auf Schulbesuch und Kinderarbeit Ägypten untersucht, gestützt auf die Erhebungen des ägyptischen Arbeitsmarktspanels (ELMP) von 2006. Sie haben festgestellt, dass Geldüberweisungen sich bei männlichen Jugendlichen im Universitätsalter stark positiv auf die Teilnahme an entsprechenden Bildungsangeboten auswirken. Die Migration hat einen positiven Effekt auf die Wahrscheinlichkeit des Schulbesuchs junger Mädchen und einen leichten Einfluss auf die Beanspruchung von Bildungsangeboten durch Frauen im Universitätsalter. In Bezug auf Kinderarbeit hat sich gezeigt, dass Migration und Geldüberweisungen die Kinderarbeit bei Knaben signifikant reduziert. Das Leben in einem Migrantenhaushalt scheint jedoch die Wahrscheinlichkeit leichter Hausarbeit bei älteren Knaben zu erhöhen. Was die Arbeit von Mädchen anbetrifft, wird die lange Dauer der Hausarbeit durch Geldüberweisungen reduziert. Koska et al. (2013) haben die obigen Befunde in einem gewissen Umfang abgeschwächt. Sie haben die Rollen der Migration und der Geldüberweisungen bei der Bildung von Humankapital von Kindern in Ägypten untersucht, gestützt Erhebungen des ägyptischen Arbeitsmarktpanels (ELMP) von 1998 und 2006. Das Papier prüft zwei gegenläufige Effekte von Geldüberweisungen und Emigration. Einerseits können Geldüberweisungen einen positiven Effekt auf das Einkommen ausüben und daher die Bildung des Haushalts erhöhen. Andererseits können sich Geldüberweisungen nachteilig auswirken, wenn sie signalisieren, dass sich unqualifizierte Arbeit auszahlt und zusätzliches Einkommen unabhängig von der Ausbildung verdient werden kann. Des Weiteren kann die Emigration zu einer Zunahme der häuslichen Arbeitsbelastung von nichtmigrierenden Haushaltsmitgliedern führen, auf Kosten der Zeit für Schulbesuche. Die Ergebnisse zeigen, dass der positive Einkommenseffekt und der negative Effekt der Familienzerrüttung parallel existieren. Durchschnittlich erhöht eine Steigerung von 10% der Wahrscheinlichkeit, Geldüberweisungen zu erhalten, die Wahrscheinlichkeit der Einschulung um 1,5 % und reduziert die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme am Arbeitsmarkt um 3 %. Der befähigende Effekt der Emigration scheint also die schädlichen Effekte der Geldüberweisungen zu überwiegen. Majeed (2014) hat Geldüberweisungen in unter einer Untersuchung Verwendung eines zur Armut die Auswirkungen internationalen Paneldatensatzes von aus 65 Entwicklungsländern, einschließlich Ägypten, für den Zeitraum von 1970-2008 geprüft. Die Studie unterscheidet sich von der vorhandenen Literatur zu den Auswirkungen von 61 Geldüberweisungen auf die Armut, indem sie explizit auf die Bedeutung der finanziellen Entwicklung hinweist, die diesen Zusammenhang beeinflusst. Der Autor hat gezeigt, dass die Auswirkungen von Geldüberweisungen auf die Armut vom Niveau der finanziellen Entwicklung der die Wirtschaftssysteme Geldüberweisungen mit niedrigem empfangenden finanziellen Wirtschaft abhängt. Entwicklungsniveau Auf scheinen Geldüberweisungen einen nachteiligen Effekt zu haben, während Wirtschaftssysteme mit vergleichsweise entwickelten Finanzsystemen nicht unter den nachteiligen Effekten von Geldüberweisungen leiden. Insgesamt führen Geldüberweisungen zur Akzentuierung und nicht zur Linderung der Armut in Ländern mit niedrigem finanziellen Entwicklungsniveau. 4.2 Rückwanderungen Gemäß Wahba (2007) ist das Problem der Rückwanderungen im Fall von Ägypten besonders interessant. Emigration ist naturgemäß zunächst temporär. Die Rückwanderung ist daher nicht notwendigerweise das Ergebnis einer gescheiterten Auslandserfahrung. Zweitens ist der Zweck der Emigration Erwerbstätigkeit und nicht Bildung. Anders ausgedrückt, migrieren ägyptische Migranten nicht, um höhere Abschlüsse und eine formale Bildung zu erwerben. Dies ermöglicht, die Auswirkungen von Arbeitsaufenthalten im Ausland und des Erwerbs einer formalen Ausbildung gesondert zu betrachten. Drittens tendieren Rückkehrmigranten in Ägypten zu heterogenem Bildungsniveau, was eine Differenzierung zwischen den Auswirkungen von Arbeitsaufenthalten im Ausland auf gebildete und ungebildete Arbeitnehmer ermöglicht. In Bezug auf die Auswirkungen der Rückkehrmigration auf das Ursprungsland haben McCormick und Wahba (2001) den Zusammenhang zwischen der Beschäftigung im Ausland und den Ersparnissen, einerseits, und unternehmerischer Tätigkeit nach der Rückkehr, andererseits, untersucht. Sie haben unter Verwendung eines ökonometrischen Modells der Wahrscheinlichkeit, Unternehmer zu sein, Belege für die Hypothese gefunden, dass sowohl Ersparnisse von Arbeit im Ausland als auch die Dauer des Auslandsaufenthalts die Wahrscheinlichkeit, Unternehmer zu werden, unter gebildeten Rückkehrern in Ägypten erhöhen. Unter den ungebildeten Rückkehrern erhöhen Ersparnisse im Ausland allein die Wahrscheinlichkeit, Unternehmer zu werden. Die Ergebnisse für Gebildete legen nahe, dass der Erwerb von Qualifikationen im Ausland möglicherweise bei der Erklärung, wie Chancen im Ausland das Unternehmertum nach der Rückkehr beeinflussen, eine substantiellere Rolle spielt als Ersparnisse. 62 Wahba (2007) hat sich mit den Gehältern von Migranten nach der Rückkehr und damit befasst, wie sie durch die temporäre Arbeitserfahrung im Ausland und das Humankapital beeinflusst werden, das Migranten im Ausland erworben haben. Um zu untersuchen, in welchem Ausmaß sich temporäre Arbeitserfahrung im Ausland bei der Rückkehr auf Humankapital und Gehälter auswirkt, hat sie das Lohngefälle zwischen Rückkehrmigranten, Nicht-Migranten unter angestellten Arbeitskräften geschätzt. Unter Verwendung der Daten aus der Umfrage zum ägyptischen Arbeitsmarkt und der Stichprobenerhebung über Arbeitskräfte von 1998 hat sie festgestellt, dass temporäre Migration bei rückkehrenden Migranten zu einer Gehaltsprämie führt. Rückkehrmigranten verdienen durchschnittlich etwa 38 Prozent mehr als Nicht-Migranten. Wahba und Zenou (2012) haben bei der Frage, ob Rückkehrmigranten eher Unternehmer werden als Nicht-Migranten aus Ägypten, untersucht, wie Sachkapital und Sozialkapital interagieren. Sozialkapital kann als Determinante der Unternehmerschaft eine Rolle spielen, weil Unternehmer sich in Bezug auf Informationen und Dienstleistungen auf ihre Kontakte stützen. Das Leben im Ausland kann den Emigranten einen Teil ihres Sozialkapitals im Ursprungsland entziehen. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass selbst wenn die Rolle des Sozialkapitals konstant gehalten wird, ein Rückkehrer aus dem Ausland wahrscheinlicher Unternehmer wird als ein Nicht-Migrant. Obwohl Migranten der Verlust ihres Sozialkapitals droht , sammeln sie im Ausland Ersparnisse und Erfahrungen, die Ihre Chance, Unternehmer zu werden, erhöhen. Marchetta (2012) hat untersucht, ob Rückkehrer in der Lage sind, ihre Unternehmen in Ägypten am Leben zu erhalten. Der Erwerb von Qualifikationen in den Zielländern kann die unternehmerischen Fähigkeiten der Rückkehrer verbessern. Des Weiteren können ihre angesammelten Ersparnisse nicht nur helfen, die Start-up-Kosten zu decken, sondern auch Kredithürden zu überwinden. Bei der Analyse wurde zudem berücksichtigt, dass Emigranten der Verlust eines Teils ihres Sozialkapitals droht und dass sie zurück in der Heimat bessere Möglichkeiten als angestellte Arbeitnehmer haben. Infolgedessen haben sie möglicherweise weniger Anreize, um für den Erhalt ihres Unternehmens zu kämpfen. Die Ergebnisse zeigen, dass unternehmerische Aktivitäten ägyptischer Rückkehrer eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, langfristig zu überdauern als die von Nicht-Rückkehrern. Sie bestätigen zudem die Länge der Migrationserfahrung und die Ersparnisse als Determinanten der Berufswahl. In Bezug auf das Bildungsniveau gibt es jedoch einen Unterschied: Weniger gebildete investieren mehr. Von den Rückkehrern, die in unternehmerische Tätigkeit investiert haben, verfügen 28% über eine höhere Bildung, und von den Rückkehrern, die 63 keine solche Investition getätigt haben, sind es 47 %, wobei diese Differenz statistisch signifikant ist. Die Daten zeigen zudem, dass das Emigrationsziel eine Rolle spielt: Rückkehrer aus Europa haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Unternehmer zu werden. 4.3 Sonstige Auswirkungen Bislang haben sich die genannten Ergebnisse mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Emigration auf das Ursprungsland auseinandergesetzt. Ein neuer Literaturbereich befasst sich derzeit mit den nicht wirtschaftlichen Auswirkungen der Migration auf das Ursprungsland. Solche Auswirkungen umfassen die verschiedensten Aspekte, einschließlich ethnischer Diskriminierung, Fruchtbarkeit, Demokratie und der Qualität von Einrichtungen. Fargues (2006) hat die Auswirkung von Geldüberweisungen auf die demografische Entwicklung von Entwicklungsländern untersucht. Dazu hat er die Fruchtbarkeitssituation in drei Mittelmeerländern untersucht: Marokko, Türkei und Ägypten. Er hat festgestellt, dass Geldüberweisungen mit geringer Fruchtbarkeit in den ersten beiden Ländern und mit höherer Fruchtbarkeit im dritten Land einhergehen und legte dar, dass das unterschiedliche Fruchtbarkeitsverhalten auf die unterschiedlichen Fruchtbarkeitsraten in den Hauptzielländern zurückzuführen sein könnten. Migranten aus der Türkei und aus Marokko leben überwiegend in Europa, wo die demografische Transformation abgeschlossen ist, während ägyptische Arbeitnehmer hauptsächlich in den Staaten des persischen Golfs leben, wo die Fruchtbarkeitsraten nach wie vor hoch sind. Die obigen Ergebnisse lassen jedoch auch andere Interpretationen zu. Nicht Geldüberweisungen, sondern die Auswirkungen der „Kultur“ im Zielland könnten dafür verantwortlich sein. Das wird in der Literatur als „Normentransfer“ bezeichnet. Die Relevanz der internationalen Migration geht weit über den Personenverkehr an sich hinaus, da sie auch einen leistungsstarken Mechanismus darstellt, Ideen und Verhaltensweisen über Landesgrenzen hinweg zu übertragen. Des Weiteren kann die Rückkehrmigration einen Einfluss ausüben, weil Rückkehrer eine katalytische Rolle spielen können, indem sie sich ändernde Einstellungen bezüglich Fruchtbarkeit auch unter den Nicht-Migranten verbreiten. Beine et al. (2008) finden Anhaltspunkte für einen milden positiven Effekt von internationalen Geldüberweisungen auf die Fruchtbarkeit im Heimatland. Ihre Studie weist jedoch auf eine weitaus größere Auswirkung der Übertragung von Fruchtbarkeitsnormen hin. Bertoli und Marchetta (2015) haben die Idee des „Normentranfers“ untersucht, indem sie der Frage nachgegangen sind, ob eine temporäre Migrationserfahrung in einem arabischen Land einen signifikanten Einfluss auf die Fruchtbarkeitsentscheidungen von ägyptischen 64 Haushalten hat. Genauer geht es um die Frage, ob ein Rückkehrer aus einem Land mit hoher Fruchtbarkeitsrate mehr Kinder hat als im Land gebliebene Paare. Sie haben die Erhebung des ägyptischen Arbeitsmarktspanels von 2006 verwendet, in der die Gesamtanzahl der Lebendgeburten pro Paar angegeben ist. Die Ergebnisse zeigen, dass die Rückkehrmigration einen signifikanten und positiven Einfluss auf die Gesamtanzahl der Kinder hat. Ägyptische Paare, bei denen der Ehemann ein Rückkehrer aus einem arabischen Land ist, haben eine signifikant höhere Anzahl an Kindern. Die Punktschätzungen der Auswirkung der Rückkehrmigration auf die Gesamtanzahl der Kinder in Rückkehrerhaushalten liegen zwischen 1,14 und 1,43 Kindern. Da die durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate in den Zielländern der ägyptischen Migranten zwischen 1,04 und 1,55 Kindern pro Frau liegt, scheinen ägyptische Rückkehrer eine Anzahl an Kindern zu haben, die näher an der Norm des Ziellandes als des Ursprungslandes liegt. Beine und Sekkat (2013) haben sich auf einen anderen Aspekt des „Normentransfers“ konzentriert. Sie haben die Auswirkung von Emigration auf die Qualität von Einrichtungen im Ursprungsland untersucht und fanden Belege dafür, dass die Gesamtmigration sich direkt auf die Veränderung in Einrichtungen auswirkt. Die Auswirkung ist positiv: Die Emigration in Ländern mit Einrichtungen hoher Qualität wird mit einer Verbesserung der Qualität der Einrichtungen im Ursprungsland verbunden. Die Auswirkung qualifizierter Migration ist viel größer. Des Weiteren hängt die Auswirkung von den Einrichtungen im Zielland ab. Die Qualität der Letzteren hat positive und signifikante Auswirkungen auf die Qualität der Einrichtungen im Ursprungsland, besonders, wenn die qualifizierte Migration berücksichtigt wird. Insgesamt stützen diese Ergebnisse die Hypothese der Übertragung von institutionellen Normen aus dem Ziel- auf das Heimatland. Beine und Sekkat (2014) haben sich einer ähnlichen Frage wie in der vorhergehenden Arbeit angenommen (Einfluss der internationalen Emigration auf die Entwicklung der Qualität von Einrichtungen im Heimatland), sich dieses Mal jedoch auf den potenziellen Unterschied der Auswirkungen abhängig vom Status des Ziellands konzentriert (d.h. früherer Kolonisator, wirtschaftliche oder politische Macht). Sie haben zudem untersucht, ob die Auswirkung von der Qualität der Einrichtungen im Zielland abhängt. Die Ergebnisse zeigen, dass der Status und die Qualität der Einrichtungen im Zielland eine Rolle spielen, und dass während der Umstand der Emigration in Länder der ehemaligen Kolonisatoren keine Auswirkung auf die Qualität der Einrichtungen im Ursprungsland hat, die Emigration in wirtschaftlich starke Länder (Gründungsmitglieder der OECD) oder in politisch starke Länder (ständige Mitglieder 65 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen) sich dagegen positiv auf die Qualität der Einrichtungen im Heimatland auswirkte. 5. Fazit Ägyptische Emigranten repräsentieren etwas mehr als 4 % der ägyptischen Bevölkerung, was weit unter dem entsprechenden Anteil in manchen anderen Ländern der Region liegt. Der größte Teil der ägyptischen Emigranten lebt hauptsächlich in anderen arabischen Ländern. Dieser Anteil ist bedeutend höher als der entsprechende Anteil in anderen Ländern der Region. Das Bildungsprofil der Emigranten unterscheidet sich von dem von Nicht-Migranten: Migranten sind in der Regel gebildeter als Nichtmigranten. Das Bildungsprofil ägyptischer Migranten unterscheidet sich zudem nach Zielland: etwa 71 % der Ägypter, die in arabischen Ländern arbeiteten, hatten einen Mittelstufen- oder unteren Mittelstufenabschluss und 25,8 % einen höheren Abschluss. Im Gegensatz dazu hatten 76,2 % der Ägypter, die in die USA emigrierten, einen Hochschulabschluss und 16,1 % einen Mittelstufenabschluss. Solche Unterschiede nach Emigrationszielen zwischen Ländern in der Region erklären möglicherweise einige Unterschiede bei den Auswirkungen der Emigration auf die verschiedenen Länder. So schwankten etwa die ägyptischen Migrationsströme aufgrund von Ölpreisschwankungen, politischen Spannungen in der Region (z. B. Irak-Iran-Krieg, Golfkrieg) und gesetzgeberischen Maßnahmen, die in Golfländern die eigenen Staatsbürger bevorzugen, stark. Die Beweggründe für die Emigration lassen sich in drei Kategorien aufteilen: individuelle Merkmale (Bildungsgrad, Familienstand und Religion), die aktuelle Situation (eine Arbeit finden, Unzufriedenheit mit einem aktuellen Job und fehlendes Vertrauen in die Stabilität von Ägypten) und Kenntnisse der Migration (mit der Migration Anderer und dem fremden Land vertraut sein, in dem Verwandte und Freunde leben). Die Literatur verweist auf Kanäle, über welche die Emigration wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Auswirkungen auf die Wirtschaft des Ursprungslands haben kann. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen gehören mehrere „Feedback-Effekte“, z. B. Geldüberweisungen, Rückwanderungen, der Aufbau von Geschäfts- und Handelsnetzwerken und die Auswirkung von Migrationsaussichten auf die Bildung. Die nicht-wirtschaftlichen Auswirkungen betreffen eine breite Auswahl von Aspekten, einschließlich ethnischer Diskriminierung, Fruchtbarkeit, Korruption, Demokratie und der Qualität von Einrichtungen. Das wird in der Literatur als „Normentransfer“ bezeichnet, weil die internationale Migration 66 auch einen Mechanismus für die Übertragung von Ideen und Verhaltensweisen zwischen Ländern darstellt. Die Daten bezüglich Ägyptens bestätigen die Bedeutung von Geldüberweisungen für die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums und für die Reduzierung der absoluten Armut, jedoch nicht der Ungleichheit. Es wurde zudem festgestellt, dass Geldüberweisungen eine starke positive Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit des Schulbesuchs bei jungen Mädchen, jedoch bei Frauen im Universitätsalter nur einen milden Effekt auf die Beanspruchung von Bildungsangeboten haben. Obwohl Geldüberweisungen einige nachteilige Auswirkungen haben können (z. B. leicht generiertes Einkommen und eine Zunahme der Hausarbeit für die Zurückbleibenden), zeigen die Ergebnisse, dass die positiven Effekte die negativen Auswirkungen überkompensieren. Die Daten für Ägypten stützen zudem die Hypothesen, dass sowohl Ersparnisse im Ausland als auch die Arbeitserfahrungen die Wahrscheinlichkeit, Unternehmer zu werden, unter gebildeten Rückkehrern nach Ägypten erhöhen. Des Weiteren weist die unternehmerische Tätigkeit ägyptischer Rückkehrer eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit langfristig zu bestehen, als die von Nicht-Rückkehrern. Obwohl Migranten der Verlust ihres Sozialkapitals droht, halten diese positiven Auswirkungen an. Schließlich führt die temporäre Migration bei der Rückkehr der Migranten zu höheren Gehältern. Rückkehrmigranten verdienen durchschnittlich etwa 38 Prozent mehr als Nicht-Migranten. In Bezug auf nicht-wirtschaftliche Auswirkungen zeigen verfügbare Daten für Ägypten, dass sich Emigration auf die Fruchtbarkeit und die Qualität von Einrichtungen auswirken kann. Ägyptische Paare, bei denen der Ehemann ein Rückkehrer aus einem arabischen Land ist, haben eine signifikant höhere Anzahl an Kindern. Die Emigration hat zudem eine Auswirkung auf die Qualität von Einrichtungen. Die Auswirkung hängt von den Einrichtungen im Zielland ab. Die gute Qualität der Einrichtungen im Zielland hat positive und signifikante Auswirkungen auf die Qualität der Einrichtungen im Ursprungsland, besonders durch die qualifizierte Migration. 67 Literaturhinweise Adams, R. H. und J. Page (2003), 'Poverty, inequality and growth in selected Middle East and North Africa countries, 1980–2000', World Development, 31:12, S. 2027-2048. Amer, M. und Ph. Fargues (2014), 'Labor Market Outcomes and Egypt’s Migration Potential', European University Institute, No. 2014/55. Bertoli, S. und F. 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Zenou (2012), 'Out of sight, out of mind: Migration, entrepreneurship and social capital', Regional Science and Urban Economics, 42:5, S. 890-903. 69 Kapitel 4: Arbeitsvorschriften, Gewerkschaften und Arbeitnehmer 1. Einführung Fast alle Länder verfügen über ein System von Gesetzen und Institutionen, deren Zweck darin besteht, die Interessen der Arbeitnehmer zu schützen. Dieses System deckt drei Bereiche des Arbeitsmarkts ab: Beschäftigung, Tarifverhandlungen und soziale Sicherheit. Individuelle Arbeitsverträge werden durch Arbeitsgesetze geregelt. In Tarifverhandlungen findet dagegen die Aushandlung, Übernahme und Durchsetzung von Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebergruppen statt. Sie betreffen zudem die Einrichtung von Gewerkschaften und ihre Handlungen. Schließlich decken die Sozialversicherungsgesetze soziale Bedürfnisse und Zustände wie z.B. Krankheit, Pension, Behinderung, Arbeitslosigkeit und Mutterschutz ab (Botero et al. 2004). Die Auswirkungen eines solchen Systems auf die Wirtschaft rufen zwei unterschiedliche Ansichten hervor. Eine Ansicht sieht derartige Regelungen als wichtigen sozialen Schutz für Arbeitnehmer sowie als Instrument, das sich förderlich auf die Wirtschaftsleistung auswirkt. Der andere Standpunkt betrachtet sie dagegen als hinderlich für Anpassungen bei wirtschaftlichen Erschütterungen. Arbeitgeber würden Neueinstellungen meiden und „Insider“ bevorzugen (Betcherman et al., 2001). Solche Regelungen werden zudem in vielen Entwicklungsländern als Hindernisse für die Entwicklung der Fertigungsindustrie gesehen. Die empirischen Belege für die beiden Ansichten sind jedoch zwiespältig und erlauben keine eindeutige Schlussfolgerung. Viele Studien finden keinen Zusammenhang zwischen den Arbeitsmarktgesetzen und den beschäftigungspolitischen Ergebnissen, während andere zu dem Schluss kommen, dass striktere Arbeitsmarktgesetze mit geringerer Beschäftigung einhergehen (Diego et al., 2010). Dieses Problem ist besonders für Ägypten relevant, ein Land, das in Bezug auf die Industrialisierung rückständig ist und eine schwache wirtschaftliche Leistung aufweist. Solche Ergebnisse werden von einigen Beobachtern institutionellen Zwängen zugeschrieben, die die Aktivitäten des privaten Sektors im Allgemeinen und die private Fertigungsindustrie im Besonderen behindert haben. Unter diesen Zwängen sind die am meisten genannten die den Finanzsektor betreffende Politik, die Steuerverwaltung, die Energiepolitik, Arbeitsmarktvorschriften und Verwaltungssysteme. Zu beachten ist jedoch, dass diese Probleme nicht spezifisch für Ägypten sind. Sie sind in vielen Entwicklungsländern weit 70 verbreitet, besonders in denen, die der importsubstituierenden Industrialisierung gefolgt sind (Getachew und Sickles, 2007). Der Zweck dieses Kapitels ist es, die Vorschriften und Institutionen des Arbeitsmarkts in Ägypten zu untersuchen. Das soll in vier Abschnitten geschehen. Der nächste Abschnitt konzentriert sich auf Arbeitsvorschriften. Abschnitt 3 schildert den Rahmen für das Funktionieren der Gewerkschaften. Abschnitt 4 präsentiert das Fazit. 2. Die Arbeitsvorschriften 2.1 Kurzer historischer Überblick Bis 2003 wurden die Arbeitsmarktvorschriften in Ägypten durch das Gesetz 137 (1981 erlassen) und seine zahlreichen Anwendungsdekrete geregelt. Das Gesetz hat den Arbeitnehmern zahlreiche Schutzmaßnahmen garantiert, welche später jedoch für die adäquate Entwicklung des privaten Sektors als zu unflexibel erachtet wurden. So hatten Arbeitnehmer mit schriftlichem Arbeitsvertrag, in dem die Art der Arbeit und die vereinbarte Vergütung angegeben war, eine lebenslange Arbeitsplatzgarantie. Nach der dreimonatigen Probezeit konnte der Arbeitnehmer nicht mehr entlassen werden so lange der Vertrag gültig war. Zeitverträge wurden automatisch zu unbefristeten Verträgen, wenn der anfängliche Vertrag abgelaufen war. Eine Entlassung war nur bei schweren Verstößen des Arbeitnehmers zulässig, wie z.B. der Aneignung einer falschen Identität oder des Begehens eines „schwerwiegenden“ Fehlers, und mit komplexen und kostspieligen Verfahren verbunden (Getachew und Sickles, 2007). In den frühen 1990er Jahren hat Ägypten, wie viele andere Entwicklungsländer, ein Strukturanpassungsprogramm lanciert, das den Zweck verfolgte, die Planwirtschaft auf eine Marktwirtschaft hinzulenken. Die Reformen umfassten eine makroökonomische Stabilisierung, die Handelsliberalisierung, die Beseitigung unnötigen bürokratischen Ballasts und die Verabschiedung von Arbeitsgesetzen. 1991 hat die Regierung einen Ausschuss aus Vertretern der einzigen Gewerkschaft, der Wirtschaft, des Arbeitsministeriums, von Rechtsgemeinschaften und der ILO einberufen, um eine neue Arbeitsgesetzgebung auszuarbeiten. 1994 wurde ein Entwurf vereinbart, der jedoch erst 2003 dem Parlament vorgelegt und von diesem genehmigt wurde. Das neue Gesetz veränderte insbesondere die Praxis der unkündbaren Beschäftigung. Es ermöglicht Arbeitgebern, Arbeitnehmer unbefristet mit „temporären“ Verträgen zu beschäftigen und sie nach Ablauf dieser Verträge nach eigenem Ermessen zu entlassen (Beinin, 2012). 71 2.2 Die aktuelle Situation Derzeit sind die den Arbeitsmarkt betreffenden Hauptvorschriften im Arbeitsgesetz Nr. 12/2003 und im Unterstützungskassengesetz Nr. 156/2002 festgehalten. Hinsichtlich der Sozialversicherung ist das wichtigste Gesetz das Sozialversicherungsgesetz Nr. 79/75. Alle Gesetze zur Regelung von Arbeitsverträgen müssen generell ILO-Konventionen und Empfehlungen befolgen. Es gibt grundlegende ILO-Konventionen und andere ILOKonventionen. Unter den 18 MENA-Ländern haben nur sieben, einschließlich Ägypten, alle grundlegenden ILO-Übereinkommen ratifiziert. Hinsichtlich der anderen ILO-Konventionen ist Ägypten das einzige MENA-Land, das sie alle, 63 an der Zahl, ratifiziert hat. Die wichtigsten Vorschriften bezüglich Arbeitsverträge sind in Tabelle 1 zusammengefasst. 72 Tabelle 1: Die wichtigsten Arbeitsvorschriften Die Vorschriften für befristete Arbeitsverträge (Fixed-Term Contracts, FTC) Für Dauerbeschäftigungen verbotene FTC Nein Maximale Dauer eines FTC, ausschließlich Verlängerungen Regeln für die Verlängerung eines FTC über die urspr. maximale Laufzeit hinaus Unlimitiert Maximale kumulative Dauer eines FTC-Verhältnisses, einschließlich aller Verlängerungen Unlimitiert Unlimitiert, Mitarbeiter kann jedoch nach 5 Jahren kündigen Die Vorschriften zu Mindestlöhnen (Minimum Wages, MW) MW für einen 19 Jahre alten Arbeitnehmer in seinem ersten Job Verhältnis MW/Durchschnittslohn Vereinbarung der Tarifpartner (in der Praxis165 L/Monat) 11% Maximale Dauer eines FTDC (in Monaten), ausschließlich Verlängerungen Nein Die Vorschriften in Bezug auf Standardarbeitstage und Überstunden. Länge des Standardarbeitstags 8 Stunden Maximale Limite von Überstunden unter normalen Umständen 2 Std./Tag Prämie für Überstunden Tage der typischen Arbeitswoche in der Fertigung 5 oder 6 35 % am Tag, 70 % nachts Maximal zulässige Anzahl Arbeitsstunden pro Arbeitstag 10 Die Vorschriften in Bezug auf Standardarbeitstage und Überstunden (Forts.) Maximale Anzahl der Arbeitstage pro Woche 6 Kann die Arbeitswoche für einen Arbeitnehmer für 2 Monate/Jahr auf 50 Std. pro Woche erweitert werden, um auf einen saisonalen Produktionsanstieg zu reagieren? Ja Obligatorische Prämie für Nachtarbeit (in % des Gehalts) Pflichtreduzierte Schichtzeit für Nachtarbeit Nein Nein Die Vorschriften in Bezug auf Erholung und Urlaub Gesetzliche Mindestruhezeit in Stunden zwischen Arbeitstagen 14 Gesetzlich festgelegter, bestimmter wöchentlicher Ruhetag K/A Obligatorischer bezahlter Jahresurlaub (in Arbeitstagen) nach 20 Jahren Beschäftigung 30 Die Vorschriften zum Mutterschaftsurlaub Der Mutterschutz gemäß Gesetz Nr. 12 (2003) schützt Frauen, die im privaten Sektor arbeiten. Von der Anwendung dieses Gesetzes ausgenommen sind Frauen im öffentlichen Dienst, Hausfrauen, Mitglieder der Familie des Arbeitgebers und Landwirtschaftsarbeiterinnen. Frauen im öffentlichen Dienst und Arbeitnehmerinnen in öffentlichen Einrichtungen sind durch separate Gesetze geschützt. Eine Arbeitnehmerin darf während ihres Beschäftigungszeitraums nicht mehr als zweimal Mutterschaftsurlaub nehmen. Die normale Dauer des Zwangsurlaub Die Finanzierung Die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs Diskriminierungsverbot und Mutterschaftsurlaubs der Leistungen Beschäftigungssicherheit 90 Tage vor oder nach der 45 Tage nach der Die Eine Frau, die in einem Unternehmen mit 50 oder mehr Arbeitnehmern K. A. Niederkunft Niederkunft Sozialversicheru arbeitet, kann 2 Jahre unbezahlten Urlaub nehmen, um sich um ihr Kind zu ng und der kümmern (optional Mutterschaftsurlaub). Dieser Urlaub wird ihr während Arbeitgeber ihres Beschäftigungszeitraums höchstens zweimal gewährt. Frauen im öffentlichen Dienst können diese Art Urlaub während ihres gesamten Beschäftigungszeitraums dreimal nehmen. Die Vorschriften in Bezug auf betriebsbedingte Entlassung von Arbeitnehmern Ein Arbeitgeber kann den Arbeitsvertrag eines Arbeitnehmers auf der Basis von betriebsbedingten Kündigungen beenden. Der Arbeitgeber muss einen Dritten benachrichtigen, bevor er einem Arbeitnehmer betriebsbedingt kündigt. Der Arbeitgeber benötigt die Genehmigung eines Dritten, bevor er einem Arbeitnehmer betriebsbedingt kündigt Ja Ja, benachrichtigen und konsultieren Ja Der Arbeitgeber muss einen Dritten benachrichtigen oder konsultieren, bevor er einer Gruppe von 9 Arbeitnehmern betriebsbedingt kündigt. Ja, benachrichtigen und konsultieren Die Vorschriften in Bezug auf betriebsbedingte Entlassung von Arbeitnehmern (Forts.) Bevor ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer betriebsbedingt kündigen kann, muss er einer Umschulungs- oder Neuzuordnungsverpflichtung nachkommen. Nein Für betriebsbedingte Entlassungen oder Freistellungen gelten Prioritätsregeln. Gibt es Prioritätsregeln für die Wiedereinstellung? Ja Nein Die Vorschriften bezüglich Abfindung und Kündigungsfrist Die Kündigungsfrist für betriebsbedingte Entlassung nach 20 Jahren permanenter Beschäftigung Formel für finanzielle Abfindung? 1 Monat für Angestellte, Büroangestellte und Arbeiter; Da betriebsbedingte Entlassungen in kleinem Maßstab nicht zulässig sind, gibt es keine gesetzlich bindende Formel für Abfindungen. Die gesetzlich vorgeschriebene Abfindung bei Massenentlassungen beträgt 1 Monat für jedes der ersten 5 Jahre und 1,5 Monate für jedes Jahr nach dem 5. Jahr. Arbeitslosenversicherungssysteme Das Land hat ein Arbeitslosenversicherungssystem. Ja Die Finanzierung des Arbeitslosenversicherungssystems Der Arbeitgeber entrichtet 2 % der Gehälter der versicherten Personen. Finanzielle Abfindung für Entlassung nach 20 Jahren permanenter Beschäftigung? 27,5 Monate Umfang und Dauer des Arbeitslosenunterstützung 60 % des letzten Gehalts der versicherten Person. Die Versicherungssumme muss der versicherten Person bis zu dem Tag vor dem Datum des Beginns eines neuen Beschäftigungsverhältnisses gezahlt werden, oder bis zum Ablauf von 16 Wochen, je nachdem, was früher eintritt. Wenn die Beitragsdauer 24 Monate übersteigt, muss dieser Zeitraum auf 28 Wochen verlängert werden. Die Entschädigung muss zudem auch während der vom Arbeitsamt festgelegten Berufsausbildung gezahlt werden. Quelle: Übernommen von Angel-Urdinola und Kuddo (2010) 73 Im Vergleich mit anderen Ländern in der Region weist Ägypten einige Besonderheiten auf. Es ist neben Algerien, dem Iran und Kuwait das einzige Land, in dem es eine Arbeitslosenversicherung gibt. Das System wird jedoch nicht vollständig genutzt. In Ägypten haben beispielsweise im Zeitraum von 2001-2007 weniger als 350 Personen pro Jahr solche Leistungen erhalten (Angel-Urdinola und Kuddo, 2010). Die Gründe dafür sind u. a. mangelndes öffentliches Bewusstsein für die Arbeitslosenversicherung, restriktive Anspruchsbedingungen und die Schwierigkeit, Entlassungsentscheidungen „aus triftigem Grund“ zu dokumentieren. Ägypten gehört zudem zu der Hälfte der Länder in der MENA-Region, die einen Mindestlohn festgelegt haben. In den Fällen, in denen viele Unternehmen „monopsonistische“ Macht auf dem Arbeitsmarkt haben und Arbeitnehmer wenig mobil sind, sind Mindestlöhne besonders hilfreich. Dies ist der Fall in Ägypten, wo die Arbeitslosenquoten etwa zwischen Gouvernementen stark variieren (von weniger als 5 % in Luxor, Fayoum und Suhag bis zu 16 % in Dakhalia). Ungeachtet dessen scheinen Arbeitnehmer, besonders Frauen, nicht von schlechteren zu besseren Standorten zu ziehen, um nach besseren Arbeitsmöglichkeiten zu suchen (Angel-Urdinola und Kuddo, 2010). Es ist jedoch zu beachten, dass, wie in vielen MENA-Ländern, Sanktionen für die Nichteinhaltung der Mindestlohnvorschriften existieren, diese jedoch kaum durchgesetzt werden. In Bezug auf Jahresurlaub gehört Ägypten mit bis zu 30 Ferientagen zu den großzügigsten Ländern in der MENA-Region. Den kürzesten vorgeschriebenen Jahresurlaub gibt es mit 5 Ferientagen im Libanon. Dies entspricht dem von der ILO-Konvention empfohlenen Minimum. In europäischen Ländern hingegen variiert der vorgeschriebene bezahlte Jahresurlaub in Unternehmen des privaten Sektors zwischen 20 und 25 Ferientagen (Kuddo, 2009). Wie die meisten MENA-Länder gewährt auch Ägypten Mutterschaftsurlaub, dieser gehört jedoch zu den knappsten – 90 Tage vor oder nach der Niederkunft, wobei mindestens 45 Tage nach der Niederkunft vorgeschrieben sind. Im Gegensatz dazu dauert der Mutterschaftsurlaub in Algerien und Marokko 14 Wochen. Am kürzesten dauert er in Tunesien (30 Tage). Ägypten hat zudem bestimmte Einschränkungen in Bezug auf den Mutterschaftsurlaub festgelegt. Eine Frau darf beispielsweise während ihres Beschäftigungszeitraums nicht mehr als zweimal Mutterschaftsurlaub nehmen. Die Freistellung von Arbeitnehmern aufgrund betriebsbedingter Umstände ist mit einigen Einschränkungen zulässig. Arbeitgeber sind gehalten, individuelle Entlassungen von einer dritten Partei beurteilen und bestätigen zu lassen. Außerdem gibt es für Wiedereinstellungen 74 Prioritätsregeln. Arbeitgeber müssen bei betriebsbedingten Kündigungen eine Kündigungsfrist von 3 Monaten einhalten, und die finanzielle Abfindung für Arbeitnehmer mit 20 Dienstjahren entspricht 27,5 Monatsgehältern. Während in den meisten MENALändern die Kündigungsfrist einen Monat beträgt, beträgt sie in Ägypten drei Monate. Ägypten ist schließlich in Bezug auf Arbeitsstunden weniger restriktiv als andere Länder in der Region. Es gibt keine Einschränkungen für Nachtarbeit oder Arbeit an wöchentlichen Feiertagen. Es erlaubt 6-Tage-Arbeitswochen und 50-Stunden-Arbeitswochen für 2 Monate. 2.3 Die Anwendung der Vorschriften Während diese Vorschriften für Unternehmen sehr einschränkend zu sein scheinen, werden sie in den verschiedenen Ländern unterschiedlich um- und durchgesetzt. In einigen Ländern (Jordanien, Ägypten) gelten etwa in Sonderwirtschaftszonen andere Arbeitsgesetze.. Zugleich werden Arbeitsvorschriften in einigen Ländern (hauptsächlich Libanon, Oman, Syrien und Ägypten) von Unternehmen als wesentliche Einschränkung wahrgenommen, während dies in anderen Ländern wie Jordanien, Algerien, Marokko, im Westjordanland und in Gaza in geringerem Maße zutrifft. Gemäß der Investment Climate Assessment (ICA)Umfrage von 2008 werden Arbeitsvorschriften und Pflichtbeiträge in Ägypten als wesentliche Hindernisse wahrgenommen, welche die formale Beschäftigung für viele Unternehmen einschränken. Produktionsfirmen, Dienstleistungsunternehmen und Hotels haben angegeben, dass sie netto 21, 9 bzw. 15 Prozent mehr Arbeitnehmer einstellen würden, wenn es in Bezug auf die Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern keine Einschränkungen gäbe (AngelUrdinola und Kuddo 2010). Um die realen Stärken der Einschränkungen von Arbeitsvorschriften zu beurteilen, haben Angel-Urdinola und Kuddo (2010) mehrere weitverbreitete Indizes präsentiert. Der Employing Workers-Index (EWI, ein höherer Wert des Index deutet auf strengere Arbeitsgesetze hin) zeigt, dass Ägypten (und auch der Libanon, Jordanien, Jemen, der Irak, der Iran, Syrien und das Westjordanland und Gaza) den Standards anderer Entwicklungsregionen wie Lateinamerika und Südasien entsprechen. Tunesien, Algerien und Marokko weisen einen höheren Index auf. Ein weiterer hilfreicher Index ist der so genannte Difficulty of Hiring-Index (DHI). Dieser Index ist in Ägypten, im Iran, in Syrien und in Jordanien tief. In Algerien, Libanon, Dschibuti und Marokko ist der DHI verglichen mit regionalen und internationalen Standards hingegen hoch. 75 Der 'Rigidity of Hours-Index' (HDI) weist darauf hin, dass der HDI in der MENA-Region geringer als in der OECD, ECA und in Subsahara-Afrika, nahe an dem in LAC und höher als in Süd- und Ostasien ist. In der MENA-Region ist der HDI gering im Libanon, in Syrien, Jordanien und Kuwait, während er in Ägypten, Katar, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Jemen, Iran und Irak internationalen Standards entspricht. In Oman, SaudiArabien, WBG, Algerien, Dschibuti und Marokko ist der DHI hoch im Vergleich zu regionalen und internationalen Standards (was strengere Arbeitsgesetze nahe legt). Schließlich reflektiert der „Difficulty of Redundancy-Index“ (DRI) das Ausmaß der Einschränkung von Entlassungen durch gesetzgeberische Maßnahmen. Er basiert auf den Anforderungen für Kündigungsfristen/Begründungen für Entlassungen, der Genehmigung für die Kündigung durch Dritte, Verpflichtungen, Arbeitnehmer nach der Kündigung neu zuzuordnen/umzuschulen und anderen Prioritätsregeln für die Wiedereinstellung. Die Ergebnisse zeigen, dass der DRI in Nicht-GCC-MENA-Ländern zu den höchsten der Welt gehört. Unter den Nicht-GCC-MENA-Ländern orientiert sich der DRI im Irak, in Katar, in der Westbank und im Gazastreifen, Jemen, Dschibuti, Libanon und Algerien an internationalen Standards. Iran, Syrien, Marokko, Ägypten, Jordanien und Tunesien weisen im Vergleich zu regionalen und internationalen Standards einen hohen DHI auf (was auf striktere Vorschriften in Bezug auf Entlassungen hindeutet). Die Analyse von Angel-Urdinola und Kuddo (2010) legt interessanterweise nahe, dass Arbeitgeber in Ländern mit „scheinbar“ strikteren Arbeitsvorschriften, z. B. Algerien und Marokko, Arbeitsgesetze nicht als wesentliche Einschränkung für ihre Geschäftstätigkeit identifizieren, während in Ländern mit vordergründig weniger strikten Arbeitsgesetzen, z. B. Ägypten, Libanon und Syrien, Arbeitgeber Arbeitsgesetze als wesentliche Einschränkung für ihre Geschäftstätigkeit betrachten. Ein möglicher Grund ist, dass die Arbeitsgesetze in einigen Ländern, in denen die Durchsetzung mangelhaft ist, möglicherweise vollständig umgangen werden. In solchen Fällen ist der Arbeitsmarkt trotz vorhandener strikter Arbeitsgesetze praktisch unreguliert (und somit vergleichsweise flexibel). Cammett und Posusney (2012) ergänzten die obige Analyse, indem sie die Indizes der rechtlichen und faktischen Arbeitsflexibilität in der Region berechneten. Eine kurze Darstellung ihrer Methode ist in Anhang A enthalten. Tabelle 2 präsentiert die Ergebnisse und zeigt, dass in Ägypten die rechtliche Flexibilität höher ist als die faktische Arbeitsflexibilität. Dies bedeutet, dass der Arbeitsmarkt in der Praxis durch Vorschriften weniger eingeschränkt ist, als es das formale Gesetz nahe legt. Im Vergleich zu anderen Ländern in der Region ist jedoch selbst die faktische Arbeitsflexibilität in Ägypten (nach Marokko) am geringsten, was 76 nahe legt, dass die Arbeitsmärkte in der Praxis in beiden Ländern die am wenigsten flexiblen in der Region sind. Tabelle 2: Die gesetzliche und die faktische Flexibilität Kategorie/Land Ölmonarchien Bahrain Kuwait Oman Katar Saudi-Arabien UAE Von Einheitsparteien regierte Staaten Algerien Ägypten Syrien Tunesien Jemen Nicht-Ölmonarchien Jordanien Marokko Regionaler Durchschnitt Weltweiter Durchschnitt Rechtliche Arbeitsflexibilität 62,5 75,3 57,7 72,8 51,7 60,5 57,1 51,5 52,3 46,4 47,0 51,8 59,8 51,9 71,8 32,0 57,1 52,2 Tatsächliche Arbeitsflexibilität 66,2 76,9 62,0 74,6 56,8 65,4 61,6 60,7 61,8 56,6 59,0 58,5 67,5 61,1 74,0 48,2 63,7 60,9 Quelle: Cammett und Posusney (2012) entnommen 3. Die Gewerkschaften 3.1 Kurzer Überblick Der Organisierungsgrad der Arbeitnehmerschaft in Gewerkschaften ist in der MENA-Region traditionell gering. Daten und Literatur legen nahe, dass die gewerkschaftliche Organisierung weitgehend auf Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor und in privatisierten öffentlichen Unternehmen beschränkt ist. Im privaten Sektor war sie bislang selten präsent (Gatti et al., 2013). Die neuesten Schätzungen zur Gewerkschaftsdichte und Tarifverhandlungen in verschiedenen Ländern sind in Tabelle 3 dargestellt. In Bezug auf die Dichte befindet sich Ägypten mit einer Rate von 16,1 %, die höher als in einigen Entwicklungsländern wie Kolumbien, Nicaragua, El Salvador und Costa Rica, jedoch niedriger als in anderen Ländern wie Brasilien, Syrien und Guatemala ist, in der Mitte der Rangliste. Betreffend Tarifverhandlungen steht Ägypten von 24 Ländern in der Tabelle an fünfter Stelle (2,1 %). Es liegt weit hinter Mexiko, Chile und Costa Rica (über 9 %). 77 Tabelle 3: Gewerkschaftsdichte und Tarifverhandlungen 2007-2010 Dichte (in % der Gesamtbeschäftigung) Brasilien 17,8 Kolumbien 2,2 Costa Rica 10,3 Zypern 55,1 Ägypten 16,1 El Salvador 8,1 Deutschland 16,2 Guatemala 34 Nicaragua 3,4 Norwegen 65,2 Spanien 15,7 Schweden 74,8 Schweiz 17,7 Syrien 19,4 Großbritannien 24,5 Tarifbindung (in % Beschäftigung) Australien Österreich Kanada Chile Costa Rica Ägypten El Salvador Finnland Deutschland Italien Luxemburg Mexiko Nicaragua Niger Paraguay Peru Philippinen Portugal Sierra Leone Spanien Schweiz Großbritannien USA Venezuela 34,7 79,4 26,4 9,8 11,8 2,1 2,5 67,8 54,6 73,6 60,7 9 3,5 0,2 1,2 2,4 0,6 25,8 3,5 61,2 39,8 32,2 12,3 4,7 Quelle: Übernommen von Hayter und Stoevska (2011). In einer großen Mehrheit der arabischen Länder haben Gewerkschaften bei der vom Staat geführten Industrialisierung und Modernisierung explizit als Partner mitgewirkt. Tabelle 4 zeigt, dass es pro Land, außer in Marokko (drei Gewerkschaften), eine einzige Gewerkschaft gibt. Die dominante Einheitsgewerkschaft ist, wieder außer in Marokko, einer Partei angegliedert, bei der es sich in der Regel um die regierende Einheitspartei handelt, oder in ihr integriert. In Ägypten waren Arbeitnehmer nicht vertreten in den Gewerkschaftsgremien, die nur aus Bürokraten bestanden und deren Aufgabe darin bestand, das politische und wirtschaftliche System stabil zu halten. Die Leitung des nationalen Gewerkschaftsbundes wurde zudem vom Arbeitsministerium wahrgenommen (Gatti et al., 2013). 78 Tabelle 4: Die Struktur der Gewerkschaften Land Marokko Jordanien Ägypten, arab Rep.a Tunesiena Algerien Syrische Arabische Republik Iraka Struktur 3 Gewerkschaften 1 Gewerkschaft 1 Gewerkschaft 1 Gewerkschaft 1 Gewerkschaft 1 Gewerkschaft Zugehörigkeit lose Parteizugehörigkeit parteiunabhängig parteizugehörig parteizugehörig parteizugehörig gehört zur Einheitspartei 1 Gewerkschaft gehört zur Einheitspartei Quelle: Gatti et al. (2013). Hinweis: „a“ beschreibt die Aufstellung vor der Revolution in der Arabischen Republik Ägypten und in Tunesien und vor dem Regimewechsel im Irak. Der staatlich getragene ägyptische Gewerkschaftsbund (Egyptian Trade Union Federation, ETUF) ist seit 1957 der alleinige gesetzliche Gewerkschaftsbund in Ägypten, ein Status, der in Gesetz 35 von 1976 formalisiert wurde. In den 2000er Jahren verzeichnete der ETUF 3,8 Millionen Mitglieder von insgesamt rund 27 Millionen Werktätigen. Nahezu alle Gewerkschaftsmitglieder arbeiten im Staatsdienst oder in öffentlichen kommerziellen Unternehmen. Die Struktur des ETUF basiert auf der Dominanz des öffentlichen Sektors (Beinin, 2012). Mit dem Aufstand gegen das Mubarak-Regime wurden etwa 1.000 neue, vom ETUF unabhängige Gewerkschaften gegründet (Beinin, 2013). Manche von ihnen sind einem der zwei neuen Verbänden angegliedert: dem ägyptischen Bund unabhängiger Gewerkschaften (Egyptian Federation of Independent Trade Unions – EFITU) oder dem ägyptischen demokratischen Arbeitskongress (Egyptian Democratic Labor Congress – EDLC). 3.2 Der gesetzliche Rahmen der Gewerkschaften Der Internationale Gewerkschaftsbund (International Trade Union Confederation – ITUC, 2014) verweist auf die folgenden Rechtsvorschriften, welche die Gewerkschaftsaktivität in Ägypten einschränken: 1. Die Vereinigungs- und Organisationsfreiheit a. Die Einschränkungen des Rechts von Arbeitnehmern, eine Gewerkschaft ihrer Wahl zu gründen und ihr beizutreten. Das Gesetz legt ein System des Gewerkschaftsmonopols fest, in dem Arbeitnehmer nicht das Recht haben, außerhalb der vorhandenen Gewerkschaftsstruktur Berufsverbände zu bilden. Bei freien Berufen erlaubt die Verfassung die Gründung lediglich einer Gewerkschaft pro Beruf. 79 b. Einschränkungen des Rechts von Gewerkschaften, ihre Verwaltung zu organisieren: Einschränkungen des Rechts, Vertreter zu wählen und sich vollständig frei selbst zu verwalten. Die Regierung kann die Absetzung des Exekutivkomitees einer Gewerkschaft verlangen, wenn er Arbeitsunterbrechungen oder Arbeitsabwesenheit in einem öffentlichen Dienst oder in kommunalen Diensten provoziert hat. Außerdem kann die Gewerkschaft nicht frei Aktivitäten organisieren und Programme formulieren. 2. Tarifverhandlungen a. Einschränkungen freier und freiwilliger Verhandlungen: Frei verhandelte Tarifverträge und obligatorische Schlichtungsverfahren und/oder verbindliche Schiedsverfahren im Fall von Meinungsverschiedenheiten während der Tarifverhandlungen müssen vom Staat genehmigt werden. Die Behörden oder Arbeitgeber haben zudem das Recht, die Tarifverträge einseitig außer Kraft zu setzen oder deren Inhalt oder Umfang zu ändern oder zu erweitern. b. Einschränkungen oder Verbot von Tarifverhandlungen in bestimmten Sektoren: Beamte Kommunalverwaltungen, öffentlicher Ämter, haben Recht kein einschließlich auf der Tarifverhandlungen. Hausangestellte und ihnen gleichgestellte Arbeitnehmer sowie Arbeitnehmer, die Mitglieder der Familie des Arbeitgebers und von diesem abhängig sind, haben kein Recht auf Tarifverhandlungen. 3. Streiks a. Gesetzlich zugelassene Streikmaßnahmen sind Beschränkungen unterworfen, z. B. wenn unzulässige, unangemessene oder ungerechtfertigte Voraussetzungen vorliegen. Für die Organisation von Streikmaßnahmen müssen Arbeitnehmer die vorherige Genehmigung des Gewerkschaftsbundes einholen. b. Arbeitnehmer und Streikmaßnahmen Gewerkschaften, teilnehmen, müssen die an nicht mit erheblichen autorisierten zivil- oder strafrechtlichen Sanktionen rechnen. Arbeitnehmer, die an einer legitimen Streikmaßnahme teilgenommen haben, dürfen etwa aufgrund dessen bestraft werden, dass in der Streikankündigung die Dauer des Streiks nicht angegeben wurde. c. Zudem gibt es in bestimmten Sektoren Einschränkungen oder Verbote in Bezug auf Streiks. Beamte der staatlichen Behörden, einschließlich der 80 Kommunalverwaltungen und öffentliche Behörden, haben kein Recht auf Streik. Ermessensentscheidungen oder übermäßig lange Listen „essentieller Dienstleistungen“, für die das Recht zu streiken untersagt oder erheblich eingeschränkt ist. Das Gesetz schreibt verbindliche Schiedsverfahren für Dienstleistungen vor, die im engeren Sinn des Begriffs nicht essentiell sind. Spezifische Einschränkungen betreffen die EPZ. Hausangestellte und ähnliche Arbeitnehmer sowie Arbeitnehmer, die Mitglieder der Familie des Arbeitgebers und abhängig von diesem sind, haben kein Recht auf Streik. Als ob die genannten Einschränkungen nicht schon strikt genug wären, zeigt die Praxis, dass nahezu alle Rechte in der Regel verweigert werden. Manche von ihnen sind auf der ITUCWebsite angegeben: HTTP://SURVEY.ITUC-CSI.ORG/EGYPT.HTML?LANG=EN#TABS-2 In Bezug auf Arbeitsvorschriften präsentieren wir in Tabelle 5 die Indizes von Cammett und Posusney (2012) zur rechtlichen und faktischen Gewerkschaftsbewegung in der MENARegion. Die Tabelle bestätigt das Vorhandensein der oben erwähnten Einschränkungen im Zusammenhang mit der Gewerkschaftsbewegung in Ägypten. Abgesehen von den Golfmonarchien ist Ägypten in der Rangordnung der Länder bei den rechtlichen Aspekten zuunterst anzutreffen. Das bedeutet, dass das Gesetz restriktiver als in anderen Ländern ist. Zudem ist die Praxis, wie oben erwähnt, noch restriktiver als das Gesetz. Die Punktzahl auf der faktischen Ebene ist viel höher als auf der rechtlichen Ebene. Im Vergleich mit anderen Ländern in der Region ist die Punktzahl auf faktischer Ebene in Ägypten am niedrigsten, was nahe legt, dass die Tätigkeit der Gewerkschaften dort am meisten eingeschränkt wird. 81 Tabelle 5: Die gesetzliche und faktische Gewerkschaftsbewegung Kategorie/Land Ölmonarchien Bahrain Kuwait Oman Katar Saudi-Arabien UAE Von Einheitsparteien regierte Staaten Algerien Ägypten Syrien Tunesien Jemen Nicht-Ölmonarchien Jordanien Marokko Regionaler Durchschnitt Weltweiter Durchschnitt Rechtliche Arbeitsstandards 42,7 68,6 47,9 72,9 67,1 0,0 0,0 66,9 78,6 53,6 61,4 84,3 56,4 78,2 71,4 85,0 58,6 72,2 Tatsächliche Arbeitsstandards 31,4 48,0 32,8 50,6 56,8 0,0 0,0 38,1 51,5 26,8 27,2 55,7 29,5 51,4 45,3 57,5 37,1 45,7 Quelle: Cammett und Posusney (2012) entnommen 3.3 Jüngste Entwicklungen Einige Jahre vor dem Aufstand in Ägypten haben unterschiedliche Bewegungen die Gründung unabhängiger Gewerkschaften veranlasst. Die größte und einflussreichste dieser Bewegungen war die unabhängige Gewerkschaft der Arbeitnehmer der Grundsteuerbehörde (Independent General Union of Real Estate Tax Authority Workers – IGURETA), welche die Angestellten bei den Kommunalverwaltungen vertritt. Die Bewegung, die zur Gründung dieser Gewerkschaft führte, bildete sich 2007. Ein Jahr später traten der neuen Gewerkschaft über 30.000 von etwa 50.000 betroffenen Angestellten bei. Die neue Gewerkschaft wurde, obwohl illegal, 2009 vom Arbeitsministerium anerkannt. Vor Ende 2010 wurden zudem zwei unabhängige Gewerkschaften der Techniker im Gesundheitswesen und der Lehrer gegründet. IGURETA und die unabhängigen Gewerkschaften der Techniker im Gesundheitswesen und der Lehrer haben einen neuen Bund lanciert (Federation of Independent Trade Unions – EFITU). Die Gründung des EFITU wurde im Januar 2011 bekanntgegeben. Der ursprünglichen Bewegung schlossen sich die Rentnervereinigung (Retirees’ Association) und Vertreter der Arbeitnehmer in der Textil-, Pharmazie-, Chemie-, Eisen- und Stahl- sowie Automobilbranche aus den Industriegebieten in Kairo, Helwan, Mahalla al-Kubra usw. an. Der EFITU gibt eine Mitgliedschaft von etwa 200 Gewerkschaften und 2 Millionen Arbeitern 82 und Angestellten an. Der EFITU war unter Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst am stärksten vertreten und ist im Fertigungssektor vergleichsweise schwächer (Beinin, 2012). Der ägyptische demokratische Arbeitskongress (Egyptian Democratic Labor Congress – EDLC) wurde offiziell 2011 als unabhängiger Gewerkschaftsbund mit einer angegebenen Mitgliedschaft von 186 Gewerkschaften gegründet. Er wurde vom Präsidenten des NGOs CTUWS und dem früheren Arbeiterführer der Helwan Iron and Steel Factory gegründet (Abdalla, 2012). Das CTUWS ist das Zentrum für Gewerkschaften und Arbeitnehmer, eine bekannte ägyptische Nichtregierungsorganisation, die seit 1999 Arbeitsrechte verteidigt. Siehat bei der rechtlichen und technischen Unterstützung von Arbeiterführern stets eine wichtige Rolle gespielt. Das CUTWS glaubt, dass die Effizienz der neuen Institution nur dann garantiert werden kann, wenn der Transformationsprozess als langfristiger Integrationsprozess erfolgt. Heute arbeitet es daran, den EDLC in einen nachhaltigen Bund zu transformieren. Die beiden neuen Verbände (EFITU und EDLC) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer strategischen und organisatorischen Visionen und ihrer Ansichten in Bezug auf ihr politisches Engagement. Im Gegensatz zum EFITU sieht sich der EDLC nicht als Gewerkschaftsbund, sondern eher als eine arbeitnehmerorientierte Koalition lokaler Gewerkschaften. Er verfolgt einen“Bottom-up“-Ansatz, basierend auf dem ethischen Vorhaben, Arbeiter vom Sinn der demokratischen gewerkschaftlichen Organisierung als langfristige Garantie für eine nachhaltige und effektive Institutionalisierung der Arbeitervertretung zu überzeugen. Der EFITU wird im Gegensatz dazu offiziell als Gewerkschaftsbund mit institutioneller und rechtlicher Kompetenz für die politische Arbeitervertretung genannt. Er verfolgt einen „Topdown“-Ansatz für die Förderung der Interessen der Arbeitnehmer und strebt eine Rolle in der politischen Arena an. Er ist zudem hierarchisch organisiert und hat eine zentralisierte interne Struktur. Um politisch mehr Einfluss auszuüben, versucht der EFITU so viele der neu gegründeten Gewerkschaften wie möglich aufzunehmen und damit die Integrierung in der politischen Arena voranzutreiben. Tabelle 5 zeigt, dass während der alte ETUF den größten Teil der Werktätigen repräsentiert, der Anteil des neuen EFITU nicht unerheblich ist. Tabelle 5: Die Gewerkschaftsverbände Bezeichnung ETUF EFITU EDLC Anzahl angegliederte Gewerkschaften 23 261 246 Quelle: Abdalla (2012). 83 Arbeitnehmer Anteil an der (in Millionen) Beschäftigtenzahl 3,8 16,2% 2,4 10,2% k. A. k. A. Die künftige Entwicklung der Gewerkschaften in Ägypten ist jedoch von mehreren Faktoren abhängig: Rechtliche Hindernisse: Das Gesetz 35 erkennt den ETUF als einziges legitimes und legales Bundesorgan der Arbeiternehmervertretung an, was im Widerspruch zu den von der ägyptischen Regierung ratifizierten ILO-Konventionen steht. Die Diskussionen zur Ausweitung der Gewerkschaften dauern an. Anerkennung und Legitimität: In Bezug auf den vorherigen Punkt sehen sich neue Gewerkschaften Schwierigkeiten gegenüber, wenn es darum geht, ihre neuen Organisationen offiziell zu registrieren, da der rechtliche Rahmen noch nicht geklärt ist. Des Weiteren bevorzugen Arbeitgeber des öffentlichen Sektors Verhandlungen mit den Führungskräften der offiziell registrierten und traditionell etablierten Verbände. Im privaten Sektor spielen Arbeitgeber ihre Macht gegenüber Arbeitnehmern aus, um sie von gewerkschaftlichen Aktivitäten abzuhalten. Ressourcen und Kapazität: Den neuen Führungskräften fehlt die Erfahrung in den meisten grundlegenden gewerkschaftlichen Funktionen. Dies ist ein Schwachpunkt, der im Wesentlichen aus dem Fehlen jeglicher Tradition von unabhängigen Gewerkschaftsbewegungen in Ägypten resultiert. Des Weiteren fehlen den neuen Gewerkschaften die finanziellen Ressourcen, und zwar aufgrund des Unvermögens, regelmäßige Mitgliederbeiträge zu kassieren, besonders weil viele Arbeitnehmer bereits die ETUF-Mitgliedsbeiträge zahlen. 4. Fazit Das System der Gesetze und Institutionen zur Regulierung der Arbeitsmärkte verfolgt das Ziel, Arbeitnehmer zu schützen und der Tarifpartnerschaft einen geordneten Rahmen zu geben. Während die einen solche Systeme als vorteilhaft sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber erachten, sind andere der Auffassung, dass sie Anpassungen an wirtschaftliche Erschütterungen erschweren, Neueinstellungen verhindern und ein Hindernis für die Entwicklung des Fertigungssektors in Entwicklungsländern darstellen. Die empirischen Belege für die jeweiligen Ansichten sind zwiespältig und erlauben keine eindeutige Schlussfolgerung. Dieses Papier untersucht das System der Gesetze und Institutionen, die den ägyptischen Arbeitsmarkt regeln. Das Land ist in Bezug auf die Industrialisierung im Rückstand und weist eine schwache wirtschaftliche Leistung auf, was von einigen Beobachtern institutionellen 84 Hemmnissen, einschließlich Arbeitsmarktvorschriften, zugeschrieben werden, die die Aktivitäten des privaten Sektors im Allgemeinen und die private Fertigungsindustrie im Besonderen behindert haben. Die Analyse hat gezeigt, dass das Land im Rahmen des strukturellen Anpassungsprogramms wichtige Reformen verabschiedet hat, besonders in Bezug auf den Arbeitsmarkt. Das alte Gesetz (von 1981), das den Arbeitnehmern zahlreiche Schutzmaßnahmen garantiert, welche jedoch für den privaten Sektors als zu unflexibel erachtet wurden, wurde 2004 durch ein neues Gesetz ersetzt. Das neue Gesetz hat insbesondere die Praxis der unkündbaren Beschäftigung verändert und es Arbeitgebern ermöglicht, Arbeitnehmer mit „temporären“ Zeitarbeitsverträgen unbefristet zu beschäftigen und sie nach Ablauf dieser Verträge zu entlassen. Der Vergleich mit den Gesetzen in anderen MENA-Ländern zeigt, dass das neue Gesetz in der Mehrheit der Fälle für die Arbeitgeber restriktiver ist. Der Blick auf die Situation in der Praxis legt jedoch nahe, dass die Durchsetzung derartiger Rechtsvorschriften nicht so streng ist und Raum für ein nicht unerhebliches Maß an Flexibilität lässt. Ein wichtiger Aspekt der Arbeitsmarkteinrichtungen ist das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen und zu betreiben. In dieser Hinsicht ist Ägypten sehr restriktiv. Bis in die 2000er Jahre war die Vertretung der Arbeitnehmer per Gesetz das Monopol einer Gewerkschaft: Der ägyptische Gewerkschaftsbund (Egyptian Trade Union Federation – ETUF). Dieser ist an die regierende Partei angegliedert und seine Führung bestand ausschließlich aus einem Verwaltungsapparat ohne Arbeitnehmervertreter. Inzwischen wurden aber zwei unabhängige Gewerkschaften gegründet: Der ägyptische Bund unabhängiger Gewerkschaften (Egyptian Federation of Independent Trade Unions – EFITU) und der ägyptische demokratische Arbeitskongress (Egyptian Democratic Labor Congress – EDLC). Die weitere Entwicklung und Unabhängigkeit der Gewerkschaftsbewegung in Ägypten könnte jedoch durch mehrere Hindernisse beeinträchtigt werden, seien diese gesetzlicher Art (das Gesetz erkennt immer noch ausschließlich den ETUF an), operativ (neue Gewerkschaften haben Schwierigkeiten bei der offiziellen Registrierung, öffentliche Arbeitgeber bevorzugen die Verhandlung mit den Führern des ETUF, und private Arbeitgeber halten Arbeitnehmer von Gewerkschaftsaktivitäten ab) oder finanzieller und organisatorischer Natur (mangelnde Erfahrung der Führungskräfte und die Unfähigkeit, regelmäßige Mitgliedsbeiträge zu generieren). 85 Anhang A: Die Berechnung der rechtlichen und faktischen Indizes (Quelle: Stallings, 2010) Gesetzliche Arbeitsstandards (De jure labor standards – DJLS) werden beurteilt, indem die nationale Arbeitsgesetzgebung in Bezug auf 17 Indikatoren evaluiert wird, die sich auf die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Tarifverhandlungen und das Recht auf Streik beziehen. Die Autoren haben Texte des Arbeitsgesetzes, ICFTU-Jahresberichte, Jahresberichte des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika über Menschenrechte, Berichte des IAO-Ausschusses für Vereinigungsfreiheit und andere sekundäre Quellen konsultiert, um die Punktzahlen zu ermitteln. Die Formel der Indexberechnung lautet wie folgt: DJLS = 100 – {[(FA + CB + RS)/35]*100} Wobei FA die Vereinigungsfreiheit, CB die Tarifverhandlungen und RS das Recht auf Streik ist. Die Methode der Berechnung von FA, CB und RS variiert abhängig davon, ob ein Land Verbote in diesen Bereichen hat oder nicht. In Fällen von allgemeinen Verboten lautet der gewichtete Wert der einzelnen Bewertungen wie folgt: 1. FA = 15 2. CB = 10 3. RS = 10 In Fällen, in denen es keine allgemeinen Verbote gibt, wird der gewichtete Wert der einzelnen Bewertungen durch die Summe der spezifischen Verstöße ermittelt. Um die faktischen Arbeitsstandards (de facto labor standards, DFLS) zu beurteilen, haben die Autoren Indikatoren für Rechtsstaatlichkeit, Vereinigungs- und Organisationsrechte und beobachtete Verstöße aufgenommen. Die Formel zur Berechnung des Index lautet wie folgt: DJLS = 100 – {[(FA + CB + RS + VIOL + ROLW + AOR)/45.83]*100} Wobei VIOL die Summe der Verstöße gegen Arbeitsrechte, ROLW der umskalierte Weltbank-Indikator für Rechtsstaatlichkeit und AOR der umskalierte Freedom HouseIndikator für Vereinigungs- und Organisationsrechte ist. Wie bei DJLS werden die Rohwerte der Resultate auf einer Skala von 0-100 angepasst, wobei höhere Scores höhere Arbeitsstandards reflektieren. 86 Literaturhinweise Abdalla, N. (2012), 'Egypt's Workers-From Protest Movement to Organized Labor' Stiftung Wissenschaft Und Politik German Institute for International and Security Affairs 32.2012. Angel-Urdinola D. F. und A. Kuddo (2010), 'Key Characteristics of Employment Regulation in the Middle East and North Africa', The World Bank. http://siteresources.worldbank.org/SOCIALPROTECTION/Resources/SP-Discussionpapers/Labor-Market-DP/1006.pdf Beinin, J. (2012), 'The Rise of Egypt's Workers”, Carnegie Endowment for International Peace. Beinin, J. (2013), 'Workers, Trade Unions and Egypt's Political Future', Middle East Research and Information Project. http://www.merip.org/mero/mero011813 Betcherman, G. A. Luinstra und M. Ogawa (2001), 'Labor market regulation: international experience in promoting employment and social protection', World Bank, Social Protection Discussion Paper Series 128. Botero, J. C., S. Djankov, R. La Porta, F. Lopez-de-Silanes und A. Shleifer, A. (2004), 'The Regulation of Labor', Quarterly Journal of Economics, 119:4, S. 1339-1382. Cammett, M. und M. P. Posusney (2010), 'Labor standards and labor market flexibility in the Middle East: free trade and freer unions?', Studies in Comparative International Development 45.2, S. 250-279. Gatti, R., M. Morgandi, R. Grun, S. Brodmann, D. Angel-Urdinola, J. M. Moreno, D. Marotta, M. Schiffbauer und E. M. Lorenzo (2013), 'Jobs for shared prosperity: time for action in the Middle East and North Africa', The World Bank. Getachew L. und R. C. Sickles (2007), 'The policy environment and relative price efficiency of Egyptian private sector manufacturing: 1987/88–1995/96', Journal of Applied Econometrics, 22:4, S. 703-728. Hayter, S. und V. Stoevska (2011), 'Social Dialogue Indicators: International Statistical Inquiry 2008-09', Technical Brief, ILO International Trade Union Confederation (ITUC): HTTP://SURVEY.ITUCCSI.ORG/EGYPT.HTML?LANG=EN#TABS-2, besucht: 18. Februar 2014 Kuddo, A. (2009); 'Labor Laws in Eastern European and Central Asian Countries: Minimum Norms and Practices', SP Discussion Paper No. 0920, The World Bank. Stallings, B. (2010), 'Globalization and Labor in Four Developing Regions: An Institutional Approach', Studies in Comparative International Development, 45:2, S. 127-150 Wahba, J. and R. Assaad (2015), 'Flexible Labor Regulations and Informality in Egypt', Economic Research Forum, Working Paper 915 87 Kapitel 5: Handelsabkommen 1. Einführung Ägypten ist Vertragspartner mehrerer Handelsabkommen. Das Land ist seit 1970 Vertragspartner des GATT und seit 1995 WTO-Mitglied. Als solches nimmt es aktiv am multilateralen Handelssystem teil. Es gewährt seinen sämtlichen WTO-Handelspartnern MFN-Status. Ägypten hat zudem 1997 das Freihandelsabkommen der Staaten der Arabischen Liga (Greater Arab Free Trade Area – GAFTA) unterzeichnet. Das GFTA hat das Ziel, den Handel zwischen arabischen Ländern zu erleichtern und zu fördern. Dieses Abkommen, das am 01. Januar 1998 in Kraft trat, wird als neuer Antriebsfaktor für die wirtschaftliche Integration der arabischen Welt betrachtet. 2004 hat Ägypten dann das so genannte AgadirAbkommen mit Jordanien, Marokko und Tunesien unterzeichnet, das eine schnellere und umfassendere Implementierung der Integration als unter dem GAFTA bezweckt. Was die Beziehungen zwischen Ägypten und Europa anbetrifft, wurde das erste Kooperationsabkommen zwischen der EG und Ägypten 1977 unterzeichnet. Im Juni 2001 folgte das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Ägypten, das 2004 in Kraft trat. Die EU und Ägypten haben zudem im November 2010 ein Protokoll unterzeichnet, das einen Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten festlegt. Bilaterale Verhandlungen zur Liberalisierung des Austauschs von Dienstleistungen und des Niederlassungsrechts finden derzeit ebenfalls statt. Im Anschluss an Sondierungsgespräche 2012 wurde im Juni 2013 mit einem Dialog zur Errichtung einer weitreichenden und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area, DCFTA) begonnen. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass obwohl jedes Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen, das von der EU und seinen Mittelmeer-Partnern unterzeichnet wurde, bilateraler Natur ist, die EU besonderes Augenmerk auf Maßnahmen legt, welche geeignet sind, die regionale wirtschaftliche Integration voranzutreiben, insbesondere den Prozess, der von den vier südlichen Mittelmeeranrainerstaaten im Rahmen des Agadir-Abkommens begonnen wurde. Im Juli 1999 haben Ägypten und die Vereinigten Staaten von Amerika ein Handels- und Investitionsabkommen unterzeichnet. Das Abkommen hat das Ziel, einen Rat zu Handels- und Investitionsfragen zu bilden, der aus Vertretern beider Regierungen besteht. Der Rat trifft regelmäßig zusammen, um bestimmte Handels- und Investitionsangelegenheiten zu diskutieren. Es wurden Arbeitsgruppen für Fragen der Zollverwaltung und -reform, 88 öffentliche Auftragsvergabe, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen und Angelegenheiten in Bezug auf den Agrarzoll eingerichtet. Unter der Schirmherrschaft Handelsprotokoll mit Israel der USA hat Ägypten unterzeichnet. Dieses am 14. Dezember 2004 Protokoll legt ein sogenannte „Sonderwirtschaftszonen“ (qualified industrial zones) in Ägypten fest. Produkte aus diesen Zonen haben zollfreien Zugang zu den USA, vorausgesetzt, dass 35 % ihrer Bestandteile das Produkt der israelisch-ägyptischen Kooperation sind. Am 31. Oktober 2000 hat Ägypten das Abkommen für einen gemeinsamen Markt für das östliche und südliche Afrika (Common Market for Eastern and Southern Africa – COMESA) unterzeichnet. Die Vertragspartner sind Djibouti, Kenia, Madagaskar, Malawi, Mauritius, Sudan, Sambia und Simbabwe. Das Abkommen bezweckt die Abschaffung von Zöllen für Produkte aus dem COMESA-Raum. Schließlich hat Ägypten mehrere andere bilaterale und regionale Handelsabkommen unterzeichnet oder verhandelt diese derzeit (z. B. mit der EFTA und der Türkei). In diesem Kapitel werden die wichtigsten ägyptischen Freihandelsabkommen mit der EU und arabischen Ländern analysiert, um ihre Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aufzuzeigen. Abschnitt 2 analysiert die beiden wichtigsten Handelsabkommen Ägyptens: das Integrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Ägypten und das Panarabische Abkommen. Abschnitt 3 untersucht den ägyptischen Handel mit Waren und kommerziellen Dienstleistungen, einschließlich Entwicklung, Zusammensetzung und Ursprung/Ziel. Abschnitt 4 befasst sich mit den Auswirkungen der beiden wichtigsten ägyptischen Handelsabkommen sowie mit der vorgesehenen Erweiterung des Abkommens mit der EU (DCFTA). 2. Integrationsabkommen In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit zwei Hauptprozessen: mit dem Integrationsabkommen zwischen der EU und Ägypten und dem panarabischen Abkommen. Zur Einordnung der ägyptischen Handelsabkommen erweist sich die Balassa-Klassifizierung als hilfreich. Sie unterscheidet fünf Phasen der wirtschaftlichen Integration: 6 1. Freihandelszonen (Free Trade Areas – FTAs): Es handelt sich um Abkommen, durch die Partnerstaaten Handelsbarrieren untereinander abschaffen, während sie ihre nationalen Barrieren gegen Drittländer aufrechterhalten. Dies erfordert in der Regel 6 Einige fügen eine sechste Phase in Bezug auf den politischen Einigungsprozess hinzu. 89 strikte Ursprungsregeln und kostspielige Zollprüfungen, um die künstliche Umlenkung der Handelsströme zu verhindern. 2. Zollgemeinschaften (Customs Unions – CUs): Im Rahmen dieser Art von Abkommen schaffen die Partnerstaaten alle Barrieren für den Handel untereinander ab und übernehmen einen gemeinsamen Zollsatz gegenüber Drittländern. Damit erübrigt sich die Übernahme von Intra-CU-Ursprungsregeln und der Bedarf an Zollprüfungen.. 3. Gemeinsame Märkte (Common Markets – CMs): Abkommen, die alle Merkmale einer CU haben, aber zusätzlich die Mobilität der Produktionsfaktoren ermöglichen. 4. Wirtschaftsgemeinschaften (Economic Unions – EUs): Zusätzlich zu den Merkmalen eines CM, implizieren EUs die Harmonisierung der Finanz-, Steuer-, Industrie- und Sozialpolitik sowie die Einrichtung eines gemeinsamen Handlungsmusters für auswärtige Beziehungen. 5. Währungsunion (Monetary Union): Impliziert zusätzlich zur Harmonisierung der Wirtschaftspolitik die Einführung einer gemeinsamen Währung. In jüngeren Analysen von Handelsintegrationen wird zudem zwischen solchen oberflächlicher tiefgreifender Art unterschieden. Die oberflächliche Integration umfasst die Absenkung oder Abschaffung von Barrieren für den Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen Ländern innerhalb der Region. Die tiefgreifende Integration bezieht die Reformierung oder Erweiterung des institutionellen Umfelds mit ein, um den Handel und Standort der Produktion ungeachtet nationaler Grenzen freier zu gestalten. Zu den Elementen der tiefgreifenden Integration gehören u. a. die Harmonisierung der Gesetzgebung, die Festlegung gemeinsamer Normen und technischer Vorschriften, den Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen und die Anpassung der Rechtsvorschriften in Bezug auf das geistige Eigentum. Wie in der Einführung erwähnt wird, ist Ägypten Partner mehrerer Integrationsabkommen. Sie sind überwiegend der ersten Balassa-Stufe zuzurechnen und von oberflächlicher Art. Die Verhandlungen mit der EU in Bezug auf den Übergang von der oberflächlichen zur tiefgreifenden Integration, d. h. DCFTA, dauern an. 2.1 Der Integrationsprozess zwischen Ägypten und der EU Das erste Kooperationsabkommen zwischen der EG und Ägypten wurde 1977 unterzeichnet. Es wurde anschließend durch den Abschluss von vier bilateralen Protokollen von 1977 bis 1995 umgesetzt. Das Kooperationsabkommen bildete die Grundlage für wirtschaftliche, technische und finanzielle Hilfe sowie für die kommerzielle Zusammenarbeit. Im Juni 2001 wurde das Kooperationsabkommen von 1977 dann vom einem Assoziierungsabkommen 90 zwischen der EU und Ägypten abgelöst. Es trat 2004 in Kraft und wurde zu jenem Zeitpunkt für beide Parteien rechtsverbindlich. Der Integrationsprozess zwischen der EU und Ägypten beruht nach wie vor auf diesem Abkommen. Das Assoziierungsabkommen ist für Ägypten von besonderer Bedeutung, da die Europäische Union sein wichtigster Handelspartner, seine Hauptquelle für ausländische Direktinvestitionen und sein wichtigster bilateraler Geldgeber ist. Das Abkommen umfasst ferner Vereinbarungen zur politischen, wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Zusammenarbeit. Es sieht die Einrichtung eines jährlich auf Ministerebene tagenden Assoziationsrats vor sowie einen Assoziationsausschuss, der für die Umsetzung des Abkommens verantwortlich ist. Das Abkommen sieht die Einrichtung einer Freihandelszone innerhalb von 15 Jahren vor. Quantitative Einschränkungen und andere Maßnahmen mit entsprechendem Effekt auf den Handel wurden nach Inkrafttreten des Abkommens abgeschafft. Mit Ausnahme einiger Produkte (einschließlich Wolle, Baumwolle, Häute und Felle und verschiedener Öle) sind Exporte in die EU zollfrei. Auf der anderen Seite sollen Zollabgaben für EU-Importe in Ägypten abhängig vom Produkt und gemäß der dem Abkommen beigefügten Produktlisten in einem Zeitraum von maximal 15 Jahren auslaufen. Das Abkommen legt zudem fest, dass die EU und Ägypten den größten Teil ihres Handels mit landwirtschaftlichen Produkten und Fischereierzeugnissen schrittweise liberalisieren. Beide Parteien bekräftigen ihre Rechte und Pflichten unter dem GATS- und dem WTOAbkommen zu Schutzmaßnahmen, Antidumping, Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Hinsichtlich des Austauschs von Dienstleistungen haben beide Parteien vereinbart, eine Erweiterung des Abkommens in Erwägung zu ziehen, um die Liberalisierung von Dienstleistungen hinzuzufügen, einschließlich des Rechts der Gründung von Unternehmen der einen Partei auf dem Territorium der anderen. Des Weiteren garantieren beide Parteien den ungehinderten Kapitalverkehr für ausländische Direktinvestitionen und die freie Rückführung etwaiger Gewinne aus solchen Investitionen. 2011 hat der Rat der EU-Außenminister die Europäische Kommission ermächtigt, Handelsgespräche mit Ägypten, Jordanien, Marokko und Tunesien zu beginnen, um weitreichende und umfassende Freihandelszonen (Deep and Comprehensive Free Trade Areas – DCFTAs) einzurichten. Im Vergleich zu den ktuellen Handelsbeziehungen werden die zukünftigen DCFTAs Teil der vorhandenen Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen sein und einen vollständigen Handelserleichterungen, Bereich technische von beiderseitigen Handelsbarrieren, 91 Interessen abdecken, z. B. gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, Investitionsschutz, öffentliche Beschaffung und Wettbewerbspolitik. Während der Verhandlungen müssen die unterschiedlichen Niveaus der wirtschaftlichen Entwicklung und der regulatorischen Prioritäten der Partner im südlichen Mittelmeerraum berücksichtigt werden. Die EU legt zudem besonderes Augenmerk auf Maßnahmen zur Förderung der regionalen wirtschaftlichen Integration. Dies gilt insbesondere für den Prozess, der unter den vier Partnern im südlichen Mittelmeerraum im Rahmen des Agadir-Abkommens begonnen wurde. Im Anschluss an Sondierungsgespräche in 2012 wurde im Juni 2013 ein Dialog zur DCFTA gestartet. Vorerst sind keine weiteren Treffen vorgesehen. 2.2 Der Prozess der panarabischen Integration Seit den 1950er Jahren ist der Integrationsgedanke Gegenstand von über 20 Abkommen zwischen arabischen Ländern. Diese umfassen panarabische Abkommen wie die Convention for Facilitating Trade and Regulating Trade Transit, das 1953 unterzeichnet wurde, oder die Greater Arab Free Trade Area (GAFTA), die 1998 eingeführt wurde. Zudem gab es subregionale Abkommen, z. B. der Arab Common Market von 1964 (Ägypten, Irak, Jordanien und Syrien), die Union des arabischen Maghreb von 1989 (Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien) und der 1981 gegründete Golfkooperationsrat (Bahrain, Kuwait, Oman, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate). Fast alle diese Initiativen sind zum Stillstand gekommen, obwohl das Freihandelsabkommen der Staaten der Arabischen Liga (Greater Arab Free Trade Area – GAFTA) und der Golfkooperationsrat (Gulf Cooperation Council – GCC) einige Erfolge erringen konnten. Des Weiteren ist der Fluss von Kapital und Arbeit zwischen arabischen Ländern alles andere als unbedeutend, obwohl nicht das Ergebnis formaler Abkommen wie etwa des arabischen Abkommens zur Mobilität arabischer Arbeitskräfte oder des Abkommens zur arabischen wirtschaftlichen Einheit, das die Freiheit des Kapitalverkehrs garantieren soll (siehe IOM 2010). 1997 haben vierzehn arabische Länder Gespräche über die Bildung des GAFTA begonnen und sich nach mehreren Gesprächsrunden darauf geeinigt, das Zieldatum der Implementierung des GAFTA auf den 1. Januar 2007 festzulegen. Achtzehn der zweiundzwanzig Mitglieder der Arabischen Liga haben das Abkommen unterzeichnet. 7 Die wichtigsten Regelungen betrafen die progressive Abschaffung von Zoll- und Nicht-ZollBarrieren für den Handel von Fertigwaren unter den GAFTA-Vertragspartnern. Nach 7 Algerien, Bahrain, Ägypten, Irak, Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Tunesien und die Vereinigten Arabischen Emirate. 92 mehreren Verzögerungen bei der Umsetzung wurde die Abschaffung der Zölle am 1. Januar 2005 abgeschlossen, also zwei Jahre früher als geplant. Es existieren jedoch immer noch mehrere Nicht-Zoll-Barrieren, und der Freihandel deckt bis jetzt nur industrielle Produkte, aber keine Dienstleistungen und landwirtschaftliche Erzeugnisse ab. Selbst wenn das GAFTA zu einigen positiven Ergebnissen führte, bleiben seine Erfolge bislang weit hinter den Erwartungen zurück. Die GAFTA-Regelungen sehen zwei Arten von Ausnahmen in Bezug auf die Handelsliberalisierung vor. Die erste betrifft ständige Ausnahmen im Zusammenhang mit religiösen, hygienischen, ökologischen oder sicherheitstechnischen Faktoren. Die zweite bezieht sich auf temporäre Ausnahmen, die nicht mehr als 15 % der Gesamtimporte der einzelnen GAFTA-Länder aus anderen GAFTA-Ländern ausmachen dürfen. Sechs Mitgliedsstaaten haben die Implementierung dieser temporären Einschränkungen bis 2002 abgeschlossen – Jordanien, Tunesien, Syrien, Libanon, Ägypten und Marokko. Die Anzahl der temporär ausgeschlossenen Produkte reichte von 35 für Ägypten bis 898 für Marokko. Diese Produkte standen für 0,3 % bzw. 6,7 % des Handels (Abedini und Péridy, 2008) Aufgrund des starken landwirtschaftlichen Sektors in der Region unterlagen die Landwirtschaft und landwirtschaftliche Produkte einem „Landwirtschaftskalender“, der jedem Staat die Anwendung von Handelsschutzmaßnahmen für höchstens zehn landwirtschaftliche Produkte aus dem Abkommen während der Erntezeit erlaubte, und zwar höchstens sieben Monate pro Jahr und maximal insgesamt45 Monate für alle aufgelisteten Produkte (Abedini and Péridy, 2008). Das GAFTA wird von den Ministerräten der Mitgliedsländer und von einem ständigen Exekutivorgan verwaltet. Es hat ein funktionierendes Sekretariat, das zur Wirtschaftsabteilung der Arabischen Liga gehört. Das Programm auferlegt zudem den Industrie- und Handelskammern in arabischen Ländern die Überwachung der Umsetzung. Am 25. Februar 2004 hat Ägypten ein Freihandelsabkommen mit Jordanien, Marokko und Tunesien unterzeichnet. Das sogenannte Agadir-Abkommen verpflichtete die Parteien im Wesentlichen, alle Zollabgaben für den gegenseitigen Handel bis zum 1. Januar 2005 abzuschaffen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bezug auf Normierungs- und Zollverfahren zu intensivieren. Das Abkommen deckt zudem die öffentlichen Ausschreibungen, Finanzdienstleistungen, Notfallmaßnahmen, geistiges Eigentum und die Beilegung von Streitigkeiten ab. Es wurde als großer Schritt in Richtung einer EuropaMittelmeer-Freihandelszone 2010 erachtet, da es auch Regelungen zur bilateralen und diagonalen Kumulation enthält. 93 3. Handel In diesem Abschnitt wird der ägyptische Handel sowohl in Bezug auf Waren und kommerzielle Dienstleistungen analysiert, einschließlich Entwicklung, Zusammensetzung und Ursprung/Ziel. 3.1 Gesamthandel Abb. 1 und 2 stellen die Ausrichtung der Exporte Ägyptens und anderer Länder der Region dar, gemessen am Export von Waren und kommerzieller Dienstleistungen in Prozent des BIP. In Bezug auf die Warenexporte weist Ägypten den niedrigsten und über den gesamten Zeitraum hinweg leicht rückläufigen Anteil auf. Der Anteil des Exports kommerzieller Dienstleistungen am BIP gehörte zu Beginn des Zeitraums hingegen zu den höchsten und nahm dann kontinuierlich ab, bis er 2012 unter den niedrigsten war. Bis 2010 waren die Anteile der Exporte von Waren und kommerziellen Dienstleistungen am ägyptischen BIP weitgehend ausgeglichen. In den anderen Ländern verkörpern kommerzielle Dienstleistungen in der Regel einen geringeren Anteil am BIP als Warenexporte. Nach 2008 ist der Anteil der Exporte kommerzieller Dienstleistungen stark zurückgegangen. Der Anteil der Warenexporte ging auch zurück, aber weniger deutlich. Während die anderen Länder nach 2008 ebenfalls einen Rückgang verzeichneten, haben sich diese Werte nach 2009 außer in Ägypten überall wieder erholt. Abb. 1: Warenexporte (in % des BIP) 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Ägypten Israel Jordanien Marokko Syrien Tunesien Türkei 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 94 2012 Abb. 2: Exporte kommerzieller Dienstleistungen (in % des BIP) 25 Ägypten 20 Israel 15 Jordanien Marokko 10 Syrien 5 Tunesien Türkei 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 3.2 Handel nach Hauptpartnern Zur vorläufigen Darstellung der Auswirkungen der beiden genannten Handelsabkommen auf Ägypten befasst sich dieser Abschnitt mit dem ägyptischen Handel mit seinen Vertragspartnern. Aus Abb. 3 geht hervor, dass Ägypten nach Jordanien das Land ist, das sowohl in Bezug auf Importe als auch auf Exporte am meisten mit anderen arabischen Ländern handelt. Der Unterschied zu Jordanien zeigt sich am deutlichsten bei den Exporten. Im relevanten Zeitraum haben sowohl ägyptische Importe aus anderen arabischen Ländern als auch Exporte dorthin zugenommen. Abb. 3: Der Anteil des Warenexports in die arabische Welt und des Imports aus diesen Ländern (in % der gesamten Ein- und Ausfuhren) 70 40 Exporte 60 Importe 35 30 50 25 40 20 30 15 20 10 10 5 0 0 Ägypten, arab. Rep. Jordanien Ägypten, arab. Rep. Jordanien Marokko Tunesien Marokko Tunesien Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 95 Verglichen mit den Hauptpartnern ist der Anteil der ägyptischen Exporte in die EU, mit Ausnahme von Jordanien, tiefer. Er ist weitaus geringer als von Marokko, Tunesiens und der Türkei. Der Anteil der Exporte in die EU ist in allen Ländern, außer in Israel, abnehmend. Der Anteil der ägyptischen Exporte nach Nordamerika gehört zu den niedrigsten und liegt weit unter den entsprechenden israelischen und jordanischen Werten. Dieser Anteil ist zudem rückläufig. In Bezug auf Importe ist der Anteil der ägyptischen Importe aus der EU, mit Ausnahme von Jordanien, geringer als bei den anderen Ländern. Er ist weitaus geringer als in Marokko, Tunesien und in der Türkei. Der Anteil der Importe aus der EU ist in allen Ländern rückläufig. Der Anteil der ägyptischen Importe aus Nordamerika ist gering und vergleichbar mit dem anderer Länder, außer Israel, wo er am höchsten ist. Abb. 4: Der Anteil der Warenexporte in die EU und nach Nordamerika (in % des Gesamtexports) 70 70 EU 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 Quelle: COMTRADE 96 Nordamerika Abb. 5: Der Anteil der Warenimporte aus der EU und aus Nordamerika (in % des Gesamtimports) 60 60 Die EU 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 Nordamerika Quelle: COMTRADE 3.3 Die Zusammensetzung des Handels Da die Zusammensetzung der Ausfuhren eines Landes für sein Wachstum von Bedeutung ist (Hausmann et al., 2007), befasst sich dieser Abschnitt mit diesem Aspekt. Angesichts ihrer Bedeutung für die ägyptischen Exporte deckt die Analyse neben den Warenexporten auch Exporte kommerzieller Dienstleistungen ab. Abb. 6 zeigt, dass Ägypten sich insofern vom Rest der Länder abhebt, als ein großer Anteil seiner Warenexporte aus Öl besteht. Dieser Anteil hat über den Zeitraum der Beobachtung jedoch kontinuierlich zugunsten von gefertigten Produkten abgenommen, die seit 2009 den größten Anteil der ägyptischen Exporte ausmachen, wenn dieser Anteil auch geringer ausfällt als in den anderen Ländern. 97 Abb. 6: Die Aufgliederung der Warenexporte nach Art der Ware (in %) Ägypten Israel 100% 100% 80% 80% 60% 60% 40% 40% 20% 20% 0% 0% Jordanien Marokko 100% 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 80% 60% 40% 20% 0% Tunesien Türkei 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 98 Abb. 7 zeigt, dass Tourismus und Transport über 80 % der ägyptischen Exporte kommerzieller Dienstleistungen repräsentieren. Diese beiden Sektoren belegen zudem einen großen Anteil in den anderen Ländern, außer in Israel, wo ICT-Dienstleistungen die wichtigste Komponente (über 60 %) der kommerziellen Dienstleistungen darstellen. Obwohl geringer als in Israel ist der Anteil der ICT-Dienstleistungen auch in Marokko von einiger Bedeutung (etwa 33 %). Wie bei den Waren scheinen ägyptische Exporte auch bei den kommerziellen Dienstleistungen noch von traditionellen Strukturen bestimmt. 99 Abb. 7: Die Aufgliederung der Exporte kommerzieller Dienstleistungen nach Art der Dienstleistung (in %) 120 120 Ägypten 100 100 80 80 60 60 40 40 20 20 0 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 120 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 120 Jordanien 100 100 80 80 60 60 40 40 20 20 0 0 120 Tunesien 100 100 80 80 60 60 40 40 20 20 0 Marokko 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 120 Israel Türkei 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Weltentwicklungsindikatoren 100 4. Die Auswirkungen ägyptischer Handelsabkommen 4.1 Aktuelle Abkommen Zur Beurteilung der tatsächlichen Erträge aus der wirtschaftlichen Integration wird häufig ein auf der ökonometrischen Einschätzung von Gravitationsmodellen basierender Ansatz verwendet. De Wulf und Maliszewska (2009) haben die Literatur zum Barcelona-Prozess studiert 8 und eine qualitative und sektorale Beurteilung der Auswirkungen auf den Handel und die Investitionen in Ägypten, Israel, Jordanien, Marokko und Tunesien geliefert. Ihre Analyse zeigt, dass der Barcelona-Prozess nur im Fall von Ägypten und Tunesien zu einem verstärkten Handel mit der EU beigetragen hat. Es wurden keine Anhaltspunkte für die Auswirkungen des Prozesses auf den Handel von Marokko, Jordanien und Israel mit der EU gefunden. Zusätzlich zur Beurteilung der Auswirkungen des Barcelona-Prozesses hat Söderling (2005) die folgende Frage gestellt: Gibt es signifikante unerschlossene Exportmärkte für die MENARegion? Der Autor hat das Gravitätsmodell mit einem Panel-Datensatz gespeist, der 90 Länder und etwa 90 Prozent des gesamten Welthandels abdeckt. Die Ergebnisse haben zuerst gezeigt, dass es viele Nicht-EU-Exportmärkte gibt, die von den Ländern im südlichen Mittelmeerraum noch nicht erschlossen sind. An erster Stelle dieser Märkte stehen die USA. Dieser Markt bleibt von Jordanien, Marokko, Syrien und Tunesien weitgehend ungenutzt, während Algerien und Ägypten einen Exportüberschuss in die Vereinigten Staaten aufweisen. Japan und mehrere andere asiatische Länder sind ebenfalls wichtige unerschlossene NichtEU-Märkte. Israel ist ein weiterer unerschlossener Markt, insbesondere für Jordanien und Ägypten, trotz des von Ägypten, Israel und den USA unterzeichneten Abkommens. Hinsichtlich des Barcelona-Prozesses selbst zeigen die Ergebnisse, dass Ägypten einen leichten Exportüberschuss in die EU aufweist, während Algerien und Syrien, beide überwiegend Exporteure von Kohlenwasserstoffen, einen signifikanten Exportüberschuss in die EU aufweisen. Insgesamt legen die Ergebnisse nahe, dass mehrere MENA-Länder die Vereinigten Staaten von Amerika als Exportmarkt viel zu wenig nutzen. Auch die Auswirkungen der Integrationsmaßnahmen mit der Europäischen Union waren demnach bislang moderat, in einzelnen Fällen jedoch signifikant. 8 Der Barcelona-Prozess wurde im November 1995 von den Außenministern der 15 EU-Mitglieder und 12 Partnern aus dem Mittelmeerraum lanciert. Er hat die Grundlage für die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft geschaffen, die sich inzwischen erweitert und zur Union für den Mittelmeerraum entwickelt hat. Er basierte auf den Grundsätzen der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen, des Dialog und der Zusammenarbeit, und versuchte, einen Mittelmeerraum des Friedens, der Sicherheit und des gemeinsamen Wohlstands zu schaffen. 101 Cieślik und Hagemejer (2009) haben eine ähnliche Analyse wie Söderling (2005) durchgeführt. Der Hauptunterschied liegt darin, dass sie die Auswirkungen anderer multilateraler und bilateraler Freihandelsabkommen untersucht haben, die von den MENALändern untereinander und mit anderen Ländern außerhalb der Region abgeschlossen wurden. Dazu gehören die EFTA-Abkommen, die Union des arabischen Maghreb, der arabische Kooperationsrat, unterschiedliche bilaterale Abkommen zwischen MENA-Ländern sowie bilaterale Abkommen mit den EU-assoziierten Staaten (jetzt neue EU-Mitgliedsländer) in Zentral- und Osteuropa und den NAFTA-Ländern: Kanada, Mexiko und die USA. Die Stichprobe deckt den Zeitraum von 1980-2004 und 196 Handelspartner von sieben MENALändern ab: Algerien, Ägypten, Marokko, Tunesien, Israel, Jordanien und Türkei. Die Autoren haben festgestellt, dass während die EU-Gemeinschaftsabkommen Importe der MENA-Länder signifikant erhöht haben, sie nicht zur Ausweitung ihrer Exporte in die EUMärkte beigetragen haben. Ferragina et al. (2009) liefern einen Vergleich des relativen Erfolgs der innereuropäischen Abkommen (d. h. mit den MOEL) gegenüber dem Barcelona-Prozess. Sie haben zuerst den potenziellen (nicht tatsächlichen) Handel zwischen den Mitgliedern der innereuropäischen Abkommen einerseits und zwischen den Mitgliedern des Barcelona-Prozesses andererseits berechnet. Anschließend haben die den potenziellen und den tatsächlichen Handel über die beiden Liberalisierungszeiträume hinweg verglichen, um den Beitrag der einzelnen Prozesse zu dokumentieren. Die Ergebnisse zeigen, dass das Handelspotenzial zwischen der EU und dem südlichen Mittelmeerraum bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist, und dass sich die Situation verschlechtert. Das Verhältnis zwischen dem tatsächlichen Handelsvolumen und dem Handelspotential liegt zwischen 20 % und 30 % des Handespotentials. MOEL zeigen hingegen viel höhere und steigende Verhältnisse. Abedini und Péridy (2008) haben versucht, den Ex-post-Effekt des GAFTA zu beurteilen. Sie haben festgestellt, dass das Abkommen im Zeitraum von 1988-2005 zu einer Bruttoerhöhung des Handels von etwa 20 % geführt hat. Ein Problem mit diesem Ergebnis ist der Umstand, dass das GAFTA nach 1998 nur graduell implementiert wurde (in anfänglichen Schritten von 10 %, später auf 20 % pro Jahr, und die vollständige Implementierung erst 2005 erreicht wurde). Daher gibt es ein Attributions- bzw. Identifikationsproblem. Der Effekt anderer Ereignisse muss ebenfalls genauer geprüft werden, z. B. die Erweiterung der EU, der Ausschluss einiger landwirtschaftlichen Produkte aus dem GAFTA während eines Großteils des Zeitraums (z. B. ist die Landwirtschaft der dynamischste Importzweig Syriens), und die graduelle Abschaffung von Textilquoten unter der WTO während des Zeitraums. 102 Péridy (2005) hat das Handelspotenzial unter den Ländern des Freihandelsabkommens von Agadir geschätzt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Handelsflüsse zwischen diesen Ländern aufgrund der hohen Handelskosten äußerst gering bleiben. Insbesondere reflektieren die geschätzten Auswirkungen der Grenzen ein signifikantes Defizit der Handelsintegration in diesem Gebiet. Auch das Exportpotenzial zwischen diesen Ländern bleibt aufgrund der mangelnden Handelskomplementarität beschränkt. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass das Agadir-Abkommen möglicherweise nur eingeschränkte Auswirkungen auf den Handel hat. Freund und Portugal-Perez (2012) haben die Auswirkungen der unterschiedlichen Abkommen, an denen arabische Länder beteiligt sind (z. B. GAFTA, EU-MENA, TürkeiMENA, Agadir und US-MENA), auf den Handel nach ihrem Inkrafttreten und ihrer Implementierung untersucht. Sie haben geringe Auswirkungen der GAFTA-, EU-MENA- und der Türkei-MENA-Abkommen festgestellt, die unter denen standardmäßiger präferentieller Handelsabkommen anzusiedeln sind. Im Gegensatz dazu liegen die Auswirkungen des Agadir- und des USA-MENA-Abkommens auf demselben Niveau oder über dem gewöhnlicher präferentieller Handelsabkommen. Es gibt jedoch wichtige Unterschiede zwischen den Auswirkungen von Exporten und Importen sowie zwischen den einzelnen Ländern. Durch die Aufschlüsselung der Auswirkungen haben die Autoren festgestellt, dass sich die Abkommen mit der EU positiv auf die EU-Exporte auswirkten. Für signifikante positive Auswirkungen auf die MENA-Exporte fanden sie keine Bestätigung. Erfolge von Abkommen mit den USA sind auf das Abkommen zwischen den USA und Jordanien begrenzt. Nur Agadir hatte Auswirkungen, die mit jenen gewöhnlicher präferentieller Handelsabkommen vergleichbar waren. Insgesamt haben die aktuellen Handelsabkommen den Handel demnach nicht auf wirtschaftlich sinnvolle Weise stimuliert. Die bislang erwähnten Studien haben sich auf den Warenhandel konzentriert. Konan (2003) hat die Auswirkungen des Handels sowohl von Waren als auch von Dienstleistungen für Tunesien und Ägypten untersucht. Sie hat insbesondere drei verschiedene Stufen der Integration geprüft: die oberflächliche Integration, die Reduzierung von Nicht-Zoll-Barrieren (Non-Tariff Barriers, NTBs) und die Liberalisierung der Barrieren für den Handel mit Dienstleistungen. Die Kombination der drei Stufen hat zur Formulierung von fünf Szenarien geführt: i) oberflächliche Integration, ii) präferenzielle Liberalisierung, entweder durch die Europa-Mittelmeer-Initiative oder das PAFTA; iii) multilaterale Liberalisierung, iv) tiefgreifende Integration, bei der NTBs auf Waren abgeschafft werden, und v) Liberalisierung der Dienstleistungen, die aus der Reduzierung von Barrieren für den grenzübergreifenden 103 Handel sowie von Barrieren für ausländische Direktinvestitionen (Foreign direct investment, FDI) im Dienstleistungssektor besteht. In Tabelle 1 sind die Auswirkungen der unterschiedlichen Kombinationen auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) zusammengefasst. Die Erträge aus einer Handelsliberalisierung, die nur die Abschaffung der Zölle bezweckt, ist, außer in einem Fall, für Tunesien prozentual signifikant höher als für Ägypten. Die Erträge aus dem GAFTA allein betragen zwei Prozent des ägyptischen BIPs, während für ein oberflächliches Handelsabkommen zwischen der EU und Ägypten ein vernachlässigbarer Effekt errechnet wurde. Hinsichtlich der Szenarien einer tiefergreifenden Integration zeigen die Ergebnisse, dass eine Liberalisierung, die sowohl die Abschaffung von Zoll- und Nicht-Zoll-Barrieren für den Handel mit Waren umfasst, zu signifikant höheren Erträgen als die bei der oberflächlichen Integration führt. Insgesamt sind die BIP-Zuwächse in Ägypten zweimal höher, obwohl ihre Niveaus im Vergleich zu denen in Tunesien immer noch bescheiden sind. Die Ergebnisse in Bezug auf die Szenarien der Liberalisierung von Dienstleistungen zeigen, dass während die Effekte der Aufhebung von Grenzen allein bereits positiv sind, die Durchführung von Reformen, die ausländische Direktinvestitionen ermöglichen, in beiden Ländern substanzielle zusätzliche Erträge generiert. Die Erträge sind in beiden Ländern vergleichbar. Während in Tunesien BIP-Zuwächse mit denen vergleichbar sind, von denen ausgegangen wird, dass sie über eine tiefgreifende Liberalisierung des Warenhandels erreichbar sind, scheint Ägypten mehr von einer Liberalisierung zu profitieren, die sich auf den Handel mit Dienstleistungen statt mit Waren konzentriert. 104 Tabelle 1: Die Veränderung des BIPs (in %) gestützt auf Integrationsszenarien Szenarien Oberflächlich: nur Zölle Europa-Mittelmeer-Abkommen GAFTA GAFTA plus Europa-Mittelmeer MFN Europa-Mittelmeer-PAFTA und MFN Tunesien Ägypten 3,03 -0,07 3,02 2,12 2,20 0,90 2,05 0,85 0,45 0,45 Tiefgreifend: Zölle plus Waren-NTBs GAFTA plus Europa-Mittelmeer Unilaterales MFN-Europa-Mittelmeer-Abkommen GAFTA und MFN 8,26 8,82 8,85 1,87 1,33 1,49 Die Liberalisierung von Dienstleistungen Aufhebung der Grenzen für Dienstleistungen Die Liberalisierung von Investitionen in Dienstleistungen Die vollständige Liberalisierung von Dienstleistungen 0,74 7,79 8,78 2,49 8,39 8,71 Kombination GAFTA (nur Zölle) -0,07 2,05 GAFTA, Europa-Mittelmeer, MFN (nur Zölle) 4,31 0,45 GAFTA plus Europa-Mittelmeer (Zölle plus Waren-NTBs) 8,26 1,87 GAFTA, Europa-Mittelmeer, MFN (Zölle plus Waren-NTBs) 8,85 1,49 Liberalisierung von Dienstleistungen (keine Änderung der Warenbarrieren) 8,78 8,71 GAFTA plus oberflächliche Liberalisierung von Warenverkehr und Dienstleistungen 4,85 0,81 GAFTA plus tiefgreifende Liberalisierung von Warenverkehr, Dienstleistungen und FDI 16,49 8,2 Quelle: Konan (2003). MFN = 'most favored nation' (meistbegünstigte Nation), unilaterale Zollsenkung. 4.2 Projektierte Abkommen: Freihandelsabkommen (DCFTA) zwischen der EU und Ägypten. Das DCFTA zwischen der EU und Ägypten wird derzeit noch verhandelt. Die Evaluierung seiner Auswirkungen betrifft daher nur die erwarteten Effekte. Eine erste Studie wurde von der EU an ein externes Beratungsunternehmen in Auftrag gegeben. Der Ergebnisbericht (ECORYS, 2014) präsentiert die voraussichtlichen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen des DCFTA zwischen der EU und Ägypten. Die Studie basiert auf einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Analysen sowie Konsultationen von Interessengruppen und hat zur Beurteilung ein errechenbares allgemeines Gleichgewichtsmodell (CGE) verwendet. Das Modell zeigt sowohl kurz- als auch langfristige Ergebnisse auf, wobei der Unterschied darin liegt, dass Kapital langfristig zwischen Sektoren neu zugeordnet werden kann. Das Szenario, das verwendet 105 wird, um die wahrscheinlichen Auswirkungen des Abkommens zu simulieren, beruht auf folgenden Annahmen: 1. Die Zölle werden nur in der Landwirtschaft gesenkt, weil die Zölle auf Industriegütern bereits abgeschafft sind. Es wird davon ausgegangen, dass Landwirtschaftszölle in Ägypten für EU-Importe um 80 % reduziert werden, während Zölle in der EU für ägyptische Importe um 95 % reduziert werden. 2. Nicht-Zoll-Maßnahmen (Non-tariff measures, NTMs) bei Dienstleistungen für ägyptische Dienstleistungen, die in der EU bereitgestellt werden, werden um drei Prozent reduziert, und bei EU-Dienstleistungen, die in Ägypten bereitgestellt werden, um fünf Prozent. Es wird erwartet, dass das BIP in Ägypten kurzfristig um 1,2 % ansteigt. Langfristig wird eine Steigerung von 1,8 % erwartet. Die Analyse der Auswirkungen der unterschiedlichen Arten der Liberalisierung zeigt, dass die Reduzierung von NTMs für Waren bei weitem der wichtigste Beitrag für die erwarteten Gewinne aus dem DCFTA ist – er ist für mehr als die Hälfte der Gewinne verantwortlich. Die Reduzierung der Landwirtschaftszölle trägt, wenn auch in weit geringerem Ausmaß, ebenfalls signifikant zu Einkommenszuwächsen bei. Es wird zudem erwartet, dass der ägyptische Handel insgesamt zunehmen wird und zwar kurzfristig mit einer geschätzten Steigerung von 8 % und langfristig mit einer Steigerung von 25 %. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass die Exporte in die EU kurzfristig sogar um nahezu 17 % und langfristig sogar um 50 % wachsen werden. Bezüglich der Gehälter für gering-, mittel- und hochqualifizierte Arbeitnehmer wird erwartet, dass diese kurzfristig um 1,9 %, 4,8 % bzw. um 0,1 % ansteigen werden. Langfristig gesehen werden die erwarteten Gehaltsänderungen möglicherweise weniger positiv ausfallen und sich für geringqualifizierte Arbeitnehmer sogar negativ entwickeln. Eine weitere, von vier Akademikern durchgeführte Studie (Ghoneim et al., 2012) gibt ebenfalls Aufschluss über die potenziellen Auswirkungen des DCFTA. In der Studie wurde ein Gravitätsmodell für den Handel zwischen der EU und 11 Ländern im südlichen Mittelmeerraum verwendet, um die Auswirkungen auf den Handel zu simulieren. In Anbetracht der Tatsache, dass der Schutz durch NTMs in der Regel viel wesentlicher als Zölle (außer im Fall von Algerien und Tunesien), weisen Marokko, Tunesien und Ägypten die niedrigsten Zollhürden auf (weniger als 25 %). Die Berechnung der Förderung des Handels aufgrund der oberflächlichen und tiefgreifenden Integration zeigt: 1. Es wird erwartet, dass die Abschaffung von Zöllen moderate bzw. begrenzte Erträge produziert. Dies gilt jedoch nicht für Algerien und Tunesien (oder nur in geringerem 106 Ausmaß), da beide Länder höhere Zölle als andere Mittelmeerländer verlangen. Ägypten und Marokko weisen moderate Importsteigerungen aufgrund der Abschaffung von Zöllen auf (etwa 30 %). Für die anderen Länder (Libanon, Jordanien, Israel und Türkei) kann von einer weiteren oberflächlichen Integration nur eine begrenzte Importsteigerung erwartet werden, da die potenziellen Erträge aufgrund früherer Liberalisierung der Zollabgaben, sowohl multilateral (GATT) als auch regional (Barcelona-Abkommen) bereits nahezu vollständig erreicht wurden. 2. Die Abschaffung von NTMs kann hingegen zu starken Zunahmen des Handels führen. In Bezug auf Importe liegt die erwartete Steigerung zwischen etwa 25 % in Marokko und Tunesien und 60 % in Algerien. Die anderen Länder befinden sich auf den mittleren Rängen und weisen Importsteigerungen von 32 % (Libanon) bis 39 % (Ägypten und Jordanien) aus. Exportsteigerungen sind, obwohl auch signifikant (35 %), geringer als Importsteigerungen. 3. Die Zunahme des Handels aufgrund einer oberflächlichen Integration kann zudem durch die Senkung von Handels- und Logistikkosten weiter gesteigert werden. Neben der Tatsache, dass diese Ergebnisse nur die voraussichtlichen, nicht die tatsächlichen Auswirkungen betreffen, gibt das DCFTA Anlass zu ernsthaften Bedenken in Bezug auf die dynamischen Auswirkungen einiger Regelungen. Es sei daran erinnert, dass im Vergleich zu aktuellen Handelsbeziehungen die zukünftigen DCFTAs einen vollständigen Bereich von beiderseitigen Interessen abdecken, z. B. Handelserleichterung, technische Handelsbarrieren, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, Investitionsschutz, Beschaffungen der öffentlichen Hand und Wettbewerbspolitik. Shadlen (2005) hat argumentiert, dass tiefgreifende Integration in größerem Ausmaß bedeutet, dass Entwicklungsländer neue Einschränkungen in Bezug auf die Verwaltung eingehender ausländischer Investitionen, das geistige Eigentum usw. akzeptieren. Die zusätzlichen Einschränkungen, die durch regionale bilaterale Abkommen auferlegt werden, gefährden die nationalen Möglichkeiten der industriellen Modernisierung erheblich und sind in der Regel viel restriktiver als unter den WTO-Regelungen. Unter dem NAFTA-Abkommen kann Mexiko beispielsweise ausländische (insbesondere US- und kanadische) Akquisitionen nicht mehr kontrollieren und verhindern. Nur im Fall von Aufkäufen mit außerordentlich hohem Volumen, und in den Fällen, in denen ausländische Eigentümer über vierzig Prozent eines mexikanischen Unternehmens erwerben möchten, unterliegen Ankäufe der staatlichen Genehmigung. Mexiko darf aber nicht versuchen, die Einstellungs- und Weiterbildungspraxis 107 von Unternehmen zu beeinflussen oder die Rückführung von Investitionskapital, Zahlungen, Gewinnen und Abgaben auf irgendeine Weise einzuschränken. Shadlen (2005) hat zudem auf das Problem der Urheberrechte verwiesen. Entwicklungsländer beispielsweise, die regionale bilaterale Abkommen mit den USA abschließen, akzeptieren in der Regel Verpflichtungen im Bereich des geistigen Eigentums, die weit über das hinausgehen, was von WTO-Mitgliedern gefordert wird. Anforderungen, dass Unterzeichnerstaaten via „Pipeline“-Schutz einen erhöhten Patentschutz und längere Zeiträume für Datenexklusivität bieten, sind Standardmerkmale derartiger Abkommen. Aber viele Pharmaunternehmen in Entwicklungsländern haben keine Patente beantragt, häufig, weil pharmazeutische Produkte zum Zeitpunkt der Erfindung nicht patentierbar waren. Den „Pipeline“-Schutz zu garantieren, bedeutet, Patente für Produkte zu gewähren, die für die Dauer des Patents im ersten Land nicht neu sind. Wenn Pharmaunternehmen zudem die Zulassung für Arzneimittel von lokalen Zulassungsbehörden ersuchen, müssen Sie in der Regel Testdaten einreichen. Wenn der Zugriff auf diese Daten gesperrt ist, können Hersteller von generischen Medikamenten ohne Wiederholung kostspieliger und zeitaufwändiger klinischer Studien keine behördliche Zulassung erhalten. Während TRIPs Staaten Verpflichtungen in Bezug auf die Behandlung von Testdaten auferlegen, drängen die USA in regionalen bilateralen Abkommen ausnahmslos auf ein Minimum von fünf Jahren für die Datenexklusivität. Derartige Verpflichtungen in den US-RTAs passen nicht unbedingt zu den Entwicklungsperspektiven der Entwicklungsländer, die Partner solcher Abkommen sind. Die Auferlegung von Elementen der tiefgreifenden Integration im Pharmabereich kann deshalb beispielsweise mit einiger Wahrscheinlichkeit soziale Unruhen hervorrufen (Ghoneim, 2008). Dies wird durch einen OXFAM-Bericht (2004) bestätigt, der gezeigt hat, dass die Bedingungen, welche die USA in Bezug auf das geistige Eigentum im Pharmasektor in seinen FTAs als 'TRIPS+'-Verpflichtung auferlegt, welche die Schutzmaßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die WTO-Mitgliedern unter TRIPS gewährt werden, aushebeln. Dadurch wird der Zugang zu erschwinglichen Medikamenten in Entwicklungsländern eingeschränkt. Schließlich erfordert die Harmonisierung von Normen und Vorschriften, dass ein Entwicklungsland Verfahren und Einrichtungen zur Konformitätsbewertung einrichtet. Es muss außerdem die Kapazität haben, seine Prüflaboratorien international zu zertifizieren. Viele Entwicklungsländer wie Ägypten verfügen nicht über Laboratorien, die ein solches Leistungsniveau bieten können (Ghoneim, 2008). 108 5. Fazit Ägypten ist Vertragspartner mehrerer Handelsabkommen. Dazu gehören WTO, GFTA, Agadir, das Abkommen zwischen der EU und Ägypten, das US-ägyptische Abkommen, das Abkommen zwischen der Türkei und Ägypten, das israelisch-ägyptische Abkommen und das COMESA. In diesem Kapitel wurden die Auswirkungen der ägyptischen Freihandelsabkommen mit der EU und arabischen Ländern präsentiert. Die Entwicklung des ägyptischen Handels im Laufe der Zeit lässt nicht auf bedeutende Effekte derartiger Abkommen schließen. Der Anteil von Warenexporten am BIP ist geringer als in vielen Ländern in der Region und nimmt seit 2005 leicht ab. Der Anteil an Exporten kommerzieller Dienstleistungen am BIP, der zu Beginn der 2000er Jahre unter den höchsten war, hat inzwischen kontinuierlich abgenommen, bis er 2012 zu den niedrigsten gehörte. Bezüglich der Partner treibt Ägypten bedeutenden Handel mit anderen arabischen Ländern, sowohl die Importe als auch die Exporte betreffend. Im Untersuchungszeitraum haben sowohl ägyptische Importe aus anderen arabischen Ländern zugenommen als auch die Exporte dorthin. Im Gegensatz dazu ist der Anteil der EU an ägyptischen Exporten geringer als in den anderen Ländern der Region und ebenfalls rückläufig. Nordamerikas Anteil an ägyptischen Exporten gehört zu den niedrigsten und liegt weit unter dem entsprechenden Anteil der Exporte Israels und Jordaniens. Dieser Anteil ist zudem auch rückläufig. Da die Zusammensetzung der Exporte eines Landes für sein Wachstum von Bedeutung ist, haben wir auch diesen untersucht. Sowohl bei Waren als auch bei kommerziellen Dienstleistungen wird der ägyptische Export immer noch von traditionellen Strukturen dominiert. Obwohl der Anteil von Öl, das zu Beginn des relevanten Zeitraums der Hauptwarenexportartikel war, während des Beobachtungszeitraums kontinuierlich zugunsten von hergestellten Produkten abgenommen hat, bleiben letztere im Vergleich zu anderen Ländern in der Region untervertreten. Tourismus und Transport verkörpern über 80 % der ägyptischen Exporte kommerzieller Dienstleistungen. Die Überprüfung der empirischen Beurteilung der Erträge aus der wirtschaftlichen Integration zeigt unterschiedliche Auswirkungen. In Bezug auf Europa hat der Barcelona-Prozess nur im Fall von Ägypten und Tunesien zu einem verstärkten Handel mit der EU beigetragen. Ägypten scheint zudem viel in die USA zu exportieren, was bei manchen anderern arabischen Ländern nicht der Fall ist. Es gibt jedoch unerschlossene Exportmärkte. Japan und mehrere andere asiatische Länder sind wichtige unerschlossene Nicht-EU-Märkte. Israel ist ein weiterer unerschlossener Markt, insbesondere für Jordanien und Ägypten, trotz des von 109 Ägypten, Israel und den USA unterzeichneten Abkommens. In Bezug auf Abkommen innerhalb des MENA-Raums zeigen das GAFTA und das Türkei-MENA-Abkommen nur geringe Auswirkungen. Im Gegensatz dazu entsprechen die Auswirkungen des AgadirAbkommen jenen standardmäßiger präferentieller Handelsabkommen oder gehen gar über sie hinaus. Hinsichtlich der Szenarien einer tiefergreifenden Integration zeigen die Ergebnisse, dass eine Liberalisierung, die sowohl die Abschaffung von Zoll- und Nicht-Zoll-Barrieren für den Handel mit Waren umfasst, zu signifikant höheren Erträgen als die bei der oberflächlichen Integration führt. Insgesamt sind BIP-Zuwächse in Ägypten zweimal höher, obwohl ihre Niveaus im Vergleich zu denen in Tunesien immer noch bescheiden sind. Das DCFTA zwischen der EU und Ägypten wird derzeit noch verhandelt. Die Evaluierung seiner Auswirkungen betrifft daher nur die erwarteten Effekte. Die geschätzten Auswirkungen auf den Handel sind widersprüchlich. Außerdem gibt das DCFTA Anlass zu ernsthaften Bedenken in Bezug auf die dynamischen Auswirkungen einiger Regelungen, z. B. Handelserleichterungen, technische Handelsbarrieren, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, Investitionsschutz, öffentliche Beschaffung und Wettbewerbspolitik. Die Befürchtungen sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass Einschränkungen, die durch regional-bilaterale Abkommen, z. B. NAFTA, auferlegt werden, einschneidender sind und die nationalen Möglichkeiten der industriellen Modernisierung stärker gefährden als die WTO-Regelungen. 110 Literaturhinweise Abedini, J. und N. Péridy (2008), 'The Greater Arab Free Trade Area (GAFTA): an estimation of its trade effects', Journal of Economic Integration, 23:4, S. 848-872. Cieślik A. und J. Hagemejer (2009), 'Assessing the Impact of the EU-sponsored Trade Liberalization in the MENA Countries', Journal of Economic Integration, 24:2, S. 343-368 De Wulf L. und M. Maliszewska (Ed.) (2009), 'Economic Integration in the EuroMediterranean Region', Final report, CEPS: Brüssel. ECORYS (2014), 'Trade Sustainability Impact Assessment in support of negotiations of a DCFTA between the EU and Egypt', Final interim technical report to the European Commission – DG TRADE, http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2014/march/tradoc_152267.pdf Ferragina A. M., G. Giovannetti und F. Pastore (2009), 'A Tale of Parallel Integration Processes: A Gravity Analysis of EU Trade with Mediterranean and Central and Eastern European Countries', Review of Middle East Economics and Finance, 5:2. Freund, C. und A. Portugal-Perez (2012), 'Assessing MENA’s trade agreements', in The Arab Spring Implications for Economic Integration, M. Gasiorek (Eds.), Forum EuroMéditerranéen des Institutes de Sciences Economiques (FEMISE) S. 137-157 Ghoneim A. F. (2008), 'Investigating the Needs and Potential Effects of Some Aspects of Deep Integration in the EU-Egypt Association Agreement and Neighborhood Policy', Paper presented at the CARIS Conference, 22-23 May, 2008, Sussex, UK Ghoneim, A. F., N. Péridy, J. Lopez Gonzalez und M. Mendez Parra (2012), 'Shallow vs. Deep Integration in the Southern Mediterranean: Scenarios for the region up to 2030', MEDPRO Technical Paper, (13). Hausmann, R., J. Hwang und D. Rodrik (2007), 'What you export matters', Journal of economic growth, 12:1, S. 1-25. Konan, D. E. (2003), 'Alternative Paths to Prosperity: Trade Liberalization in Egypt and Tunisia', in A. Galal und B. Hoekman (ed.), Arab Economic Integration: Between Hope and Reality, Centre for Economic Policy Research in Europe (CEPR) and Brookings Institution. Péridy, N. (2005), 'Toward a Pan-Arab free Trade Area: Assessing Trade Potential Effects of the Agadir Agreement', The Developing Economies, 18:3, S. 329-345. Shadlen, K. C. (2005), 'Exchanging development for market access? Deep integration and industrial policy under multilateral and regional-bilateral trade agreements', Review of International Political Economy, 12:5, S. 750-775. Söderling, L. (2005), 'Is the Middle East and North Africa Region Achieving Its Trade Potential?', IMF Working Paper 05/90. 111
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