Mein Symptom-Tagebuch - Institut für Pflegewissenschaft

Clinical Updates – Evidenzbasierte Pflege
Bedürfnisgerechte Pflege in der Gynäkologie
«Mein Symptom-Tagebuch»
Krebserkrankungen oder Krebsvorstufen an der Vulva sind selten. Dennoch werden insbesondere
die Vorstufen in den letzten Jahren deutlich häufiger diagnostiziert, vor allem bei jüngeren Frauen.
Forschungsergebnisse geben einen Einblick in die Symptom-Erfahrung der betroffenen Frauen
und zeigen auf, welche Massnahmen Pflegende anbieten können.
B E AT E S E N N E T A L .
D I E 45-jährige Frau Meyer entwickelte
vor 9 Monaten einen Krebs im Schamlippenbereich. Durch die Operation konnten
die Krebszellen aus dem Gewebe entfernt
werden. Nach der Vulvakarzinom-Operation, bei der die Klitoris, die linke Schamlippe und Wächterlymphknoten der linken
Leiste entfernt wurden, verbrachte sie
noch eine Woche im Spital. Die Wundheilung nahm jedoch noch weitere 6 Wochen
in Anspruch. Um diese zu überwachen, besuchte Frau Meyer regelmässige Nachsorgetermine in der Dysplasie-Sprechstunde.
Während dieser Zeit stellte sie sich viele
Fragen. Sie hatte Empfindungsstörungen
im Wundgebiet und Schmerzen beim Wasserlösen. Wieso war die Intimpflege nur so
zeitaufwendig geworden und welche Hilfsmittel konnten die Schmerzen reduzieren?
Hinzu kam eine Schwellung im Leistenbereich und Frau Meyer’s Vulva sah entstellt aus. Wie sollte sie je wieder Zärtlichkeit und körperliche Nähe mit ihrem Mann
erleben? Sie empfand Ekel, tiefe Scham
und fühlte sich hilflos. Hinzu kam die
Angst, dass die Krebserkrankung wieder
auftreten könnte. Den Fragen, die sich
Frau Meyer stellte, wurde in der ambulanten Nachsorge wenig Zeit gewidmet. Sie
wagte auch nicht, die Themen von sich aus
anzusprechen.
Vulväre Neoplasien
Trotz wesentlichen Verbesserungen in
der Therapie vulvärer Neoplasien (vulväre
intraepitheliale Neoplasie und Vulvakarzinom) während der letzten Jahrzehnte,
1
WOMAN-PRO ist der Kurzname für die Studie
«Creating and validating a patient-reported outcome instrument to assess symptom experience
related to surgical wounds in women with vulvar
neoplasia – A mixed methods study».
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K r a n k e n p f l e g e 5/2012
Soins infirmiers
können bereits kleine chirurgische Eingriffe an der Vulva Symptome und Nebenwirkungen verursachen. Diese beeinflussen
die Lebensqualität der Frauen und ihrer
Familien (Kaushik, Pepas, Nordin, Bryant,
& Dickinson, 2011). Die vulvären Neoplasien sind seltene Erkrankungen, deren
Inzidenz in den letzten drei Jahrzenten in
Europa und den USA anstieg. Die Inzidenz
von Neoplasien der Vulva in Deutschland
und der Schweiz liegt etwa bei zwei bis
sieben pro 100 000 Frauen pro Jahr
(Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe, 2009). Das bedeutet,
dass in der Schweiz schätzungsweise zwischen 160 und 560 Frauen pro Jahr davon
betroffen sind.
Symptom-Erfahrung
Chirurgische Eingriffe sind die Standardtherapie für betroffene Frauen. Häufig
erleben die Frauen postoperative physische und psychosoziale Komplikationen,
wie Lymphödeme, Wundinfektionen und
sexuelle Dysfunktionen. Beispielsweise
liegt die Häufigkeit postoperativer Wundinfektionen bei 5% bis 45%. Eine beachtliche
Zahl dieser Komplikationen wäre vermeidbar (Van der Zee, et al., 2008). Chirurgiebedingte Komplikationen bei Frauen mit
vulvärer Neoplasie rufen eine Vielzahl von
physischen und psychosozialen Problemen
hervor und tragen zu hohen Kosten im
Gesundheitswesen bei. Neue, weniger
radikale Operationsverfahren wie beispielsweise individuell an das Tumorstadium und die Tumorgrösse angepasste
Exzisionen bedeuten oft kürzere Klinikaufenthalte. Frauen mit vulvären Neoplasien
und chirurgischer Behandlung sind nach
der Entlassung damit konfrontiert, auftretende Symptome wie z. B. Blutungen,
Schmerzen, Kontamination des Wundgebietes mit Exkrementen ohne die Unter-
stützung des stationären Pflegeteams zu
beurteilen und zu managen.
Nach Dodd et al. (2001) beinhaltet die
Symptom-Erfahrung von der Patientin
wahrgenommene biopsychosoziale oder
funktionale Veränderungen, Empfindungen oder Gedanken, beispielsweise Blutungen, Scham und Bedenken in Bezug auf die
Sexualität. Die Symptom-Erfahrung umfasst üblicherweise zwei Dimensionen:
das Symptomvorkommen (Häufigkeit und
Intensität) die kognitive Dimension, die
Symptombelastung die emotionale Dimension. Für Fachpersonen ist es notwendig,
die Symptom-Erfahrung betroffener Frauen zu verstehen, um geeignete Symptomassessment-Strategien festzulegen und
den Fokus für das Symptom-Management
zu identifizieren (Humphreys, et al., 2008).
Das Symptomassessment sollte Teil der
allgemeinen Nachsorgeuntersuchungen
in der Dysplasie-Sprechstunde sein, um
unerwünschte Symptome rechtzeitig zu
erkennen. Dies kann durch die von der Patientin selbst berichteten Informationen,
sogenannten Patient-Reported Outcomes
(PRO), entscheidend unterstützt werden.
PRO-Daten werden ohne den Einfluss von
Dritten durch die Betroffenen selbst erhoben und geben Auskunft über die Einschätzung eines gesundheitsrelevanten
Zustandes (z. B. Schmerzen). Die Beurteilung der Symptome durch Gesundheitsfachpersonen und die Patientinnen ermöglichen eine bessere Pflege (Bateman & Keefe, 2011).
WOMAN-PRO-Projekt
Die epidemiologischen Daten der vulvären Neoplasien und die Notwendigkeit
eines patientenzentrierten Fokus bei der
chirurgischen Nachsorge haben uns motiviert, in einem internationalen, multizentrischen Forschungsprojekt WOMAN-PRO1
ein Symptomassessment-Instrument für
Patienten mit Neoplasien der Vulva und
einer chirurgischen Behandlung zu entwickeln. In einem Mixed-Method-Forschungsansatz, der quantitative und qualitative Studien mit gleicher Gewichtung
beinhaltete, wurden in den Jahren 1997
bis 2011 Daten von mehr als 180 Frauen
aus vier Schweizer Kliniken (Universitätskliniken Zürich, Basel, Bern, Kantonsspital
St. Gallen) und vier deutschen Universitätskliniken (Berlin, Düsseldorf, Freiburg,
München) erhoben und ausgewertet.
Die Ergebnisse
Insgesamt hat das Forschungsprojekt
dazu beigetragen, Erkenntnisse über
Frauen mit vulvären Neoplasien und
chirurgischer Behandlung zu erweitern.
Erstens wurde Wissen für Gesundheitsfachpersonen bereitgestellt, um Patienten
mit einem Risiko für postoperative Wundheilungsstörungen besser zu identifizieren
(Senn, Mueller, Cignacco, & Eicher, 2010).
Zweitens wurde erstmals ein konzeptuelles Modell der Symptom-Erfahrung betroffener Frauen entwickelt (Senn, et al.,
2011). Drittens wurde auf Basis des konzeptuellen Modells ein WOMAN-PROInstrument mit dem Titel «Mein SymptomTagebuch» entwickelt (siehe Abbildung)
und dessen Inhaltsvalidität als gut bewertet. Das Symptom-Tagebuch kann
so eine systematische Einschätzung der
Symptom-Erfahrung und der Informationsbedürfnisse bei Frauen mit vulvären
Neoplasien unterstützen. Viertens zeigte
eine Auswertung der ersten WOMANPRO-Daten eine sehr hohe Symptomprävalenz und -belastung während der
ersten Woche nach Spitalentlassung der
betroffenen Frauen.
Erkenntnisse für Praxis
Das Symptom-Tagebuch könnte Patientinnen wie die oben geschilderte Frau
Meyer unterstützten, Symptome frühzeitig
zu erkennen, sie einzuschätzen, und Entscheidungen zu treffen, wann sie eine
Fachperson kontaktiert und ihre erlebten
Symptome Fachpersonen mitteilen sollte.
Sie erhält durch das Instrument auch verständliche Informationen über ihren Eingriff und allfällige Symptome. Das Instrument bietet ihr eine Möglichkeit, sich aktiv
und gezielt auf ihren nächsten Nachsor-
getermin in der Dysplasie-Sprechstunde
vorzubereiten, indem sie postoperative
Symptome und Informationsbedürfnisse
erfasst und einschätzt. Anderseits bietet
das Instrument Gesundheitsfachpersonen
Daten, um Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zu ziehen, z. B. die Konsequenzen einer Behandlung aus Frau
Meyers Perspektive. Deshalb kann das Instrument zukünftig zusätzliche wichtige
Informationen in der nachhaltigen postoperativen Pflege und Versorgung liefern.
Es soll einer frühen Entscheidungsfindung
zur Auswahl einer geeigneten Therapie
bei bestimmten Symptomen dienen.
Beate Senn, MSc, RN2, Manuela Eicher, PhD, RN3,
Michael D. Mueller PhD, MD4, Sandra Engberg
PhD, RN, CRNP, FAAN5, Rebecca Spirig, Prof,
PhD, RN6.
2
Pflegewissenschaftlerin, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Basel & Frauenklinik, Universitätsspital Bern, Inselspital; [email protected]
3
Dekanin für Forschung, Entwicklung und Dienstleistungen, Hochschule für Gesundheit Freiburg,
[email protected]
4
Ordinarius, Chefarzt Gynäkologie und gynäkologische Onkologie, Co-Klinikdirektor; Vorsitzender
des Departementes Frau, Kind und Endokrinologie, Universitätsklinik für Frauenheilkunde;
[email protected]
5
Associate Dean for Clinical Education, University
of Pittsburgh School of Nursing & Professor
Institute of Nursing Science, University of Basel,
[email protected]
6
Leiterin Zentrum Klinische Pflegewissenschaft,
Universitätsspital Zürich & Professorin Institut für
Pflegewissenschaft Basel, [email protected]
Die Literaturliste ist erhältlich bei:
[email protected].
Symptome
im Wundgebiet
Schwierigkeiten
Gefühle, Gedanken,
Verhaltensweisen
Informationsbedürfnisse
• Blutung
• Austritt von Flüssigkeit
(z.B. klar, trüb, eitrig)
• Wärme
• Schwellung
• Rötung
• Schmerzen
• Juckreiz
• Ungewöhnlicher Geruch
• Brennen
• Veränderte Empfindung
(z.B. Taubheit)
• Druck
• Verhärtung
• Offene Stelle (z.B. Haut
oder Naht geht auf)
• Veränderte Hautfarbe
• Vernarbte Haut
• … beim Wasserlassen
• … beim Stuhlgang
• … beim Sitzen
• … Kleider zu tragen
(z.B. Unterwäsche,
Hosen)
• … alltägliche Handlungen auszuführen
(z.B. Treppen steigen,
kochen, Arbeit im Büro)
• Unsicherheit
• Angst
• Traurigkeit
• Müdigkeit
• Gefühl, an die eigenen
Grenzen zu stossen
(z.B. erschöpft sein)
• Gefühl einen veränderten
Körper zu haben
• Verändertes Gefühl, eine
Frau zu sein (z.B. in Bezug
auf das Selbstwertgefühl)
• Gefühl, sich zu schämen
• Bedenken in Bezug auf
die Sexualität
• Schwierigkeiten in der
Partnerschaft
• Verändertes Verhalten in
Bezug auf soziale Aktivitäten
• … über die Erkrankung
• … über die Behandlung
• … über die tägliche
Hygiene der Vulva
• … über die Versorgung
des Wundgebiets
• … über das Verhalten
im Alltag (z.B. Unterwäsche tragen, Hobbys,
Sexualität)
*Auszug aus
«Mein Symptom-Tagebuch»
Foto: Photocase
Was misst das WOMAN-PRO Instrument*?
K r a n k e n p f l e g e 5/2012
Soins infirmiers
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