James Tyler Kent Zur Theorie der Homöopathie

James Tyler Kent
Zur Theorie der Homöopathie
Leseprobe
Zur Theorie der Homöopathie
von James Tyler Kent
Herausgeber: MVS Medizinverlage Stuttgart
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4. Erfahrung und Beobachtung
in der Medizin
JVir sollen die Ideen unserer Vater nicht wie Kinder annehmen, d. h. nur
weil unsere Väter sie gehabt haben und sie uns hinterließen, sondern wir
sollen sie prüfen und darauf der Wahrheit folgen." (Louis XVI.)
„Organon", § 3 (Ende)
„... kennt er endlich die Hindernisse der Genesung in jedem Falle1
und weiß sie hinwegzuräumen, damit die Herstellung von Dauer
sei: So versteht er zweckmäßig und gründlich zu handeln und ist
ein echter Heilkünstler."
Grundprinzipien und Erfahrung
Betrachten wir zuerst noch den letzten Abschnitt des Paragraphen 3,
der sich über die Grundprinzipien ausspricht, die den praktischen Arzt
leiten sollen. Mit Ausnahme dessen, was die homöopathische Doktrin
lehrt, war die ganze Medizin in der Vergangenheit Erfahrungssache;
mit Ausnahme der Homöopathie ist sie es auch heute noch2.
Es ist einleuchtend, daß zur Einführung in die Lehren der Doktrin eine
Definition der exakten Stellung der Erfahrung in der Wissenschaft gehört. Würde die wahre Auffassung von Gesetz und Doktrin, von Ordnung und Leitung im menschlichen Geist vorherrschen, so würden wir
nicht alle Augenblicke neue Theorien aufkommen sehen; denn solche
wären dann überflüssig, der Mensch wäre dann hellsichtig genug,
Wahrheit und Unsinn klar zu unterscheiden.
Freilich hat die Erfahrung ihren Platz in der Wissenschaft3, ihre Stellung
ist aber nur eine bestätigende. Sie kann nur sanktionieren, was mit Hilfe
von Prinzipien oder Gesetzen gefunden wurde, die uns in bestimmter
Richtung führten. Die Erfahrung für sich allein führt zu keiner richtigen
1
2
5
Mangel an Hygiene, vorübergehendes Übelbefinden, Fremdkörper, Steine,
Mißbildungen, Verletzungen etc....
Hahnemann: Heilkunde der Erfahrung, 1805; Etudes homoeopathiques, vol. I,
S. 291.
Hahnemann: Geist der homöopathischen Heil-Lehre, Reine Arzneimittellehre
2. Teil, 3. Aufl., Dresden und Leipzig, 1833, S. l und Etudes homoeopathiques,
vol. 1,5.282(1813).
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
Entdeckung; aber wenn wir solide Prinzipien besitzen, können Dinge,
die wir durch Erfahrung beobachten, Tatsachen bestätigen, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz sind.
Wer weder Doktrin noch Gesetz kennt, sich nicht bei jeder Gelegenheit
aufs Gesetz stützt, bildet sich ein, er könne auf Erfahrung fußend Entdeckungen machen. Von erworbenen Erfahrungstatsachen ausgehend,
versucht er, etwas zu erfinden. Seine Erfindungen verlieren sich dann
in alle denkbaren Richtungen. So sehen wir in unserem Jahrhundert
Kongresse mit Tausenden von Medizinern, von denen jeder vorgibt,
sich nur auf Erfahrung zu stützen. Einer ergreift das Wort und gibt seine
Erfahrung wieder, ein anderer spricht von der seinigen und so fort, jeder weitere Redner diskutiert seine eigene Erfahrung. Aber nicht zwei
von ihnen haben dieselbe Meinung! Am Ende des Kongresses vergleichen sie ihre Erfahrungen, und auf was sie sich dann einigen, wird mit
dem Namen Wissenschaft getauft, wäre es auch das pure Gegenteil der
Wahrheit. Im folgenden Jahr kommen sie wieder zusammen, bringen
neue Ideen und Erfahrungen, die von denen des Vorjahres abweichen,
und da wird man dann erleben, daß verdammt und verworfen wird, was
im Jahr vorher Zustimmung fand. Das ist diese vielgerühmte „Heilkunst
der Erfahrung". Diese Mediziner, diese Kongresse bestätigen nichts,
aber aus diesen Erfahrungen entspringen immer neue Serien von Erfindungen und Theorien. Das ist der falsche Weg.
Die Grundlagen, aufweichen die medizinische Wissenschaft aufgebaut
werden kann, müssen solid sein, müssen der Wahrheit entsprechen.
Um einer Sache sicher zu sein, muß man sie beobachten, aber es besteht ein Unterschied zwischen der wahren Beobachtung einer Wissenschaft, die auf Gesetz und Prinzipien fußt, und der Erfahrung eines
Menschen ohne Gesetz und Prinzip. Die klassische Medizin, d.h. die
alte Schule, negiert die Existenz von Grundsätzen und Gesetzen, sie
nennt ihr System „Heilkunst der Erfahrung" und darum sind ihre Lehren kaleidoskopisch, wechseln jedes Jahr und erscheinen nicht zweimal
auch nur ähnlich.
Noch einmal betone ich, wie notwendig es ist, sich mit dem Begriff der
„inneren Leitung" des menschlichen Wesens vertraut zu machen, um
verstehen zu können, wie Krankheit beginnt und sich entwickelt. Betrachten wir eine x-beliebige Regierung, sei es jene des Universums, sei
es eine politische oder kommerzielle oder sonst eine unserer materiellen Welt, überall erkennen wir ein Zentrum, welches regelt und kontrolliert. Dies ist die oberste Autorität. Jeder Mensch besitzt in sich als
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Geschenk der Vorsehung ein oberstes Leitungszentrum, im Grau der
Hirnrinde lokalisiert, das heißt im edelsten Teil dieser Substanz: Das ist
das Hirnzentrum. Alles, was den Menschen ausmacht und was in ihm
vorgeht, hängt in erster Linie von diesem Zentrum ab; dessen Einfluß
erstreckt sich bis in die Peripherie des Organismus hinaus, bis in dessen
äußerste und entlegenste Partien.
Eine äußerliche pathologische Affektion — zum Beispiel eine Verletzung
an einem Finger — wird normalerweise rasch heilen. Das Ordnungsprinzip, das im menschlichen Organismus vom Zentrum in die Peripherie hinaus wirksam ist, wird jeden Schaden rasch beheben, den die äußere Hülle durch von außen einwirkende Gewalt erlitten hat. Ob es sich
nun aber um innere oder äußere Läsionen handelt, die Reihenfolge in
den Heilungsvorgängen ist dieselbe. Trauma ist Resultat von äußerer
Gewalteinwirkung, Krankheiten aber sind Ausdruck innerer Ordnungsstörungen, letztere führen zu Krankheit. Alle Krankheiten im eigentlichen Sinn des Wortes entwickeln sich auf zentrifugale Art, im Zentrum
beginnen sie, und von da aus schreiten sie zur Peripherie vor. Hahnemanns „Miasmen" haben diesen Charakter, sie sind echte Krankheiten.
Wille, Denken; Lebenskraft; materieller Körper
Es ist ein Triumvirat, welches die Leitung des menschlichen Organismus innehat, eine erste, eine zweite, eine dritte Instanz — wenn wir diesen Vergleich ziehen dürfen. Wh- haben das Großhirn, das Kleinhirn
und das Rückenmark, oder kollektiver, allgemeiner: Hirn, Rückenmark
und peripheres Nervensystem. Von einem ändern Standpunkt aus können wir unterteilen in Wille und Überlegung, welche innig verflochten
sind — Wille und Denken, welche das ausmachen, was man den „inneren Menschen" nennen kann; dann zweitens die Lebenskraft (auch Vizeregent der Seele nennbar, Limbus oder belebende Materie, formende
Kraft), welche immateriell ist und welche als räumlich-energetisch angesehen werden kann; und drittens der materielle, räumliche Körper.
Die Ordnung und Wirkungsrichtung ist also so: Im Innersten der Wille,
das wollende Prinzip als höchste Leitung, dann durch den Limbus, Ursubstanz oder Lebenskraft hinaus bis in die äußersten Manifestationen,
in die lebende materielle Substanz des Menschen, die in jeder Zelle
sitzt. Dieses Triumvirat findet sich in jeder einzigen Zelle des Körpers
wieder, keine einzige Zelle ist ohne ihren Willen, ihre Intelligenz, ihre
lebende Materie, ihren Limbus oder ihre Ursubstanz und ihren materiellen Anteil — ihren Kern, die Zentrosomen und das Protoplasma.
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
Krankheitfolgt in ihrer Entwicklung dieser Ordnung, von innen nach außen, es gibt keinen zentripetalen Verlauf. Der Mensch ist gegen jeden Einfluß, der von der Peripherie auf das Zentrum eindringen will, geschützt.
Erinnern wir uns, daß alle Krankheiten sich zentrifugal entwickeln, von
den innersten Partien zu den äußersten, auch kann keine medizinische
Substanz den Menschen heilen oder krank machen, solange sie nicht eine
Spezialbehandlung erfahren hat, durch die sie in den Stand gesetzt wird,
ebenfalls so und in dieser Richtung zu wirken, das heißt solange sie nicht
dynamisiert ist, um dadurch auf derselben subtilen Ebene zu wirken, wie
die immaterielle, nicht materielle Grundursache der Krankheiten.
Akute und chronische Erkrankungen
Im Universum existieren „Miasmen" — krankmachende Entitäten. Wir
teilen sie in akute und chronische ein. Von den chronischen Miasmen,
die wir später behandeln, kennen wir drei: Die Psora, die Syphilis und
die Sykosis. Alle drei haben keinerlei Selbstheilungstendenz.
Einerseits müssen wir die akuten sowie die chronischen Miasmen auf
ihren Ursprung und ihre Entwicklung hin ergründen und andererseits
dann ihre Effekte untersuchen, welche als objektive Krankheitszeichen
imponieren. Die Miasmen sind ansteckend, ihre Wirkung ist zentrifugal.
Sie pflanzen sich von innen nach außen fort, und obwohl sie in den Organen existieren, sind sie doch unsichtbar und unfaßbar; denn nur in
dieser allersubtilsten Form können sie des Menschen physische Natur
im Innersten angreifen. Was dieses Innerste, Tiefste ist (des Menschen
Wille und Vernunft), kann nicht mit unsern Sinnen erfaßt werden, weder mit den Augen, noch mit den Fingern, noch mit einem anderen Sinnesorgan, so wenig wie die fundamentalen Grundursachen der Krankheiten mit Hilfe eines Mikroskops gefunden werden können. Nur in ihrer weiteren Entwicklung, in ihren Resultaten verrät sich eine Krankheit unseren Sinnen. Sie wächst subtil, von innen nach außen, vom Zentrum zur Peripherie, vom Zentralsitz der Regierung hinaus bis an die
äußersten Grenzen. Darum muß auch die Heilung nach dem Ähnlichkeitsgesetz zentrifugal verlaufen. Wie die Ursache des Übels muß sie
von innen nach außen fortschreiten.
Grundprinzipien ähnlich wie im Staat
Sehen wir hier nicht eine Ähnlichkeit zu unseren zivilen Regierungen?
Wenn m Washington, dem Sitz der Regierung, schwere Unruhen ausbrechen, so sieht man diese rasch wie der Blitz auch aufs weitere Land über39
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greifen, hinaus bis in die entferntesten Teile. Der ganze Staat gerät ins
Wanken — wie bei einer Krankheit —, wenn in der Regierung Uneinigkeit, Bestechung, Verderbtheit ihre Störaktionen entfalten. Ist die Regierung auf der Höhe ihrer Aufgabe, herrscht überall Ordnung und jedermann profitiert vom dauernd besseren Geschäftsgang. Werden die großen Handelszentren, wie London, Paris, New York, von irgendeiner
schweren Krise oder einem Debakel erschüttert, so werden alle Regionen, die von den betreffenden Zentren abhängen, die Auswirkungen verspüren, auch hier werden Erschütterungen folgen. Jedes, auch das kleinste öffentliche Amt hier bei uns hängt von Washington ab, und diese Ordnung muß sorgfältig gewahrt bleiben. Der Sheriff und der Constable, der
Richter und der Gerichtshof bilden ihrerseits überall wieder eine kleinere
Regierung für sich, nach dem vom Staate aufgestellten Gesetz. Das Gesetz
verlöre aber Autorität und Wert von dem Moment an, in welchem eine
fremde Regierung die Regierung von Washington absetzen würde.
Alle Gesetze, alle Prinzipien, welche in Pennsylvania gelten, hängen von
der Stabilität und guten Haltung der Zentralregierung in Washington
ab; Harrisburg hängt von Washington ab und Philadelphia von Harrisburg, jedes ist ein Glied in der Kette.
Jedermann wird nun begriffen haben, was Ordnung und Richtung bedeuten, und erfaßt haben, daß bestimmte Richtungen innegehalten werden. Nichts was äußerlich ist, kann sich nach innen in die Tiefe, ins Zentrum des lebenden Organismus fortpflanzen und ihn krank machen. Unordnung an einem der Gerichtshöfe Philadelphias stört weder die Nation
als Ganzes noch unsere konstitutionelle Regierung. Wenn man sich an
einem Finger brennt, so berührt dies die Hauptzentren, welche unseren
Organismus dirigieren, nur insoweit, als es zur Heilung des Schadens nötig ist. Das ist aber keine Krankheit, keine Erschütterung des ganzen Organismus. Erst was unsere gesamten Stoffwechselvorgänge und unsere
zentrale Leitung in Unordnung bringt, verdient die Bezeichnung „Krankheit". Man kann jemandem eine Hand amputieren. Deswegen braucht
nicht sein ganzes System aus der Ordnung zu kommen. Ergreift ihn aber
zum Beispiel eine kleine gutartige Infektionskrankheit, wie beispielsweise einfache Masern, so wird sich diese Krankheit vom Zentrum zur
Peripherie ausbreiten und den gesamten Körperhaushalt beeinflussen.
Die alte, die offizielle Medizin spricht von Erfahrung, doch die Erfahrung, die sie meint, hängt vom Sehen und Betasten ab. Damit kann man
sich jedoch enorm täuschen. Untersucht man eines der akuten Miasmen, so kann man wohl sehen, was materiell an ihm ist, aber sein We40
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
sen erfaßt man deswegen doch nicht, da es von keinem unserer fünf
Sinne erfaßt werden kann.
Das unwandelbare Prinzip der Homöopathie
Wir haben nun gesehen, daß alles in unserem Organismus vom Zentrum
aus gesteuert wird. Daraus schließen wir, daß alles, was dem Gesetz folgt,
von einem Prinzip abhängt, vom Zentrum ausgeht, der Ordnung entsprechend abläuft und von der Erfahrung bestätigt werden kann. In konkreteren Worten heißt das: Was wir durch die Anwendung des homöopathischen Gesetzes lernen, was wir beobachten, nachdem dieses Gesetz uns
vertraut geworden ist, was es uns lehrt: Alle diese Fakten, jede weitere Erfahrung, die wir machen, bestätigen nur erneut die Prinzipien. Zum Beispiel macht uns jede weitere Erfahrung mit Bryonia um so besser bekannt
mit diesem Mittel. Die Erfahrung stärkt und macht sicherer, hat nicht mit
persönlichen Kaprizen zu tun, sondern konsolidiert die Prinzipien; sie
macht denjenigen unerschütterlich, der das Gesetz kennt und befolgt.
Wen jeder Windhauch einer anderen Meinung in Aufregung oder in Verwirrung versetzt, der befindet sich nicht in einem guten Gleichgewicht
oder ist sogar geistesgestört oder beides zusammen. Wer sich nur auf die
Erfahrung verläßt, kommt wahrhaft nie zu echten Erkenntnissen, seine
Vorstellungen schwanken dauernd, sind nie dieselben, da sie eben auf
keiner soliden Basis stehen. Solide Basis ist aber unabdingbare Voraussetzung für jede wissenschaftliche Disziplin. Der homöopathische Arzt
darf sich nicht auf wandelbare menschliche Meinungen stützen, sondern
nur aufs unwandelbare Gesetz, denn alles Menschliche ist unstabil.
In der Homöopathie ist es das Prinzip, das unwandelbar ist. Alles, was
nicht in Übereinstimmung damit ist, soll verworfen werden.
Krankheitsursachen, dynamisierte Arzneien, Krankheitszeichen
Diese Betrachtungen zwingen uns zur Anerkennung der Notwendigkeit
der Attenuation1 und Dynamisierung der Arzneien. Es muß aber unterstrichen werden, daß die Verdünnungstechnik, das heißt die Technik
der Materieteilung, wertlos ist, wenn dabei dem Arzneistoff nicht Stöße
versetzt werden (Schütteln), eine Technik, die wir Hahnemann verdanken. Dieses doppelte Verfahren des Verdünnens plus Schütteln nennt
sich Dynamisieren und das Resultat Dynamisation. Wird diese sehr weit
getrieben, spricht man von hoher Dynamisation (Hochpotenz).
Deutsch „Verdünnung".
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
Die Krankheitsursachen sind so feinen Charakters, so subtiler Natur,
daß sie von den neurovegetativen Zentren aus wirken können, vom Innersten des „Innern Menschen" aus bis hinaus in die äußersten und abgelegensten Grenzbezirke. Um auf so subtile Ursachen einwirken zu
können, lehrt die Homöopathie, braucht es auch notwendigerweise
Produkte hoch dynamisierter Arzneiverteilung. Das Hahnemannsche
Vorgehen der Verdünnung, gekoppelt mit repetierten Schüttelschlägen,
erlaubt einen weitgehenden Abbau der Materie bis zu einem oligomolekularen Zustand, der offenbar physiologischen Proportionen angepaßt
ist. Das Entfernen der Moleküle voneinander ist unabdingbar und
grundlegend wichtig, wo man sehr spezielle und wichtige Funktionen
beeinflussen will. Die physikochemische Zusammensetzung der Nervenzentren verlangt gebieterisch nach diesen hohen homöopathischen
Dynamisationen, nur sie passen in die physiopathologischen Krankheitsprozesse hinein und entsprechen demzufolge den therapeutischen
Anforderungen, die sich davon ableiten1.
Rohere, unverfeinerte Stoffe können nicht durch die Haut eindringen.
Die menschliche Haut ist eine schützende Hülle gegen jede materielle,
grobe Art von Ansteckung; aber gegen immaterielle Einflüsse ist der
Mensch nur so lange geschützt, als er sich in perfekter Gesundheit befindet. In einem Moment herabgesetzten Widerstands können sie eindringen, und dann wird er krank. Dies ist die Natur des Erkrankungsvorgangs, und was dabei vor sich geht. Im Lebenszentrum beginnt dann
eine Störung, und von da aus breiten sich die Störungen zur Peripherie
aus. Die zentrale Leitung stören, heißt die Ordnung stören und Verwirrung stiften; das ist die Grundbedingung der Krankheitsentstehung.
Nach dieser Auffassung verstehen wir, wie „das Haus", in dem der
Mensch lebt, und die Zellen, die es bilden, gestört und in Unordnung gebracht werden. Die strukturellen Veränderungen in den Zellen sind das
Werk der Zerstörungsarbeit der Krankheit, die schließlich zu organischer Degeneration in verschiedenster Form — zum Beispiel Eiterbildung - führt; alle diese degenerativen Prozesse sind nichts anderes als
das Endresultat der Unordnung. Solange Ordnung und Harmonie herr1
So präpariert können die homöopathischen Medikamente im Hirnzentrum auf
derselben Ebene einwirken wie die Krankheitsursache. Sie können quasi
„ohne anklopfen zu müssen" eintreten, da diese Mikrodosen der subtilen
Ebene der Krankheit am besten angepaßt sind, während die Drogen der üblichen Medizin wohl anklopi'en, aber ohne eintreten zu können, da sie vom Körper nicht assimiliert werden; so folgt auf ihre Anwendung nur ein bedauernswerter Schock, der dann rascher oder langsamer vorübergeht (P.S.).
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
sehen, sind die Gewebe gesund, die Zellmetamorphose nimmt ihren natürlichen Verlauf, die Stoffwechselaustauschvorgänge verlaufen geregelt und das physiologische Gleichgewicht bleibt erhalten.
Uni sich eine exakte Idee von der Natur der Krankheit zu machen und
der Modifikationen, die sie in den Geweben mit sich bringt, muß man
zum Ausgangspunkt des Übels vordringen. Das Studium der Ätiologie in
der offiziellen Medizin ist von notorischer Insuffizienz, da viel zu oberflächlich und nur auf die Resultate ausgerichtet.
,Jiein Effekt ohne Ursache": Auch die Krankheiten haben also ihre Ursachen, so verborgen sie uns in den meisten Fällen auch sein mögen.
Die Zahl der Wörter läßt sich berechnen, welche aus einem Alphabet
von 24 Buchstaben zusammengesetzt werden können, so groß auch
diese Zahl ist; wer vermag aber die Menge jener ungleichartigen Krankheiten zu berechnen, da unser Körper von unzählbaren, größtenteils
noch unbekannten Einflüssen äußerer Agenzen affiziert werden kann
und von fast eben so vielen Potenzen von innen?
„Alle Dinge, welche nur irgend wirksam sind (ihre Zahl ist unübersehbar)1, vermögen auf unseren, innigst mit allen Teilen des Universums
1
„Einige derselben sind zum Beispiel die unzähligen Mengen von Gerüchen, die
mehr oder weniger schädlichen Ausdünstungen aus leblosen oder organischen
Substanzen, die so verschiedentlich reizenden, mancherlei Gasarten, die in der Atmosphäre, in unseren Werkstätten und Wohnungen auf unsere Nerven ändernd
wirken, oder uns aus Wasser, Erde, Tieren, Pflanzen entgegenströmen; - Mangel
an dem unentbehrlichen Nahrungsmittel für unsere Vitalität, der reinen, freien
Luft — Übermaß oder Mangel des Sonnenlichts, Übermaß oder Mangel der beiden
Arten elektrischen Stoffs, abweichende Druckkraft der Atmosphäre, ihre Feuchtigkeit oder Trockenheit, die noch unbekannten Eigenheiten hoher Gebirgsgegenden gegen die in niedrigen Orten und tiefen Tälern, die Eigenheiten der Klimate und anderer Ortslagen auf großen Ebenen, auf gewächs- oder wasserlose
Einöden hin, gegen das Meer, gegen Sümpfe, Berge, Wälder, gegen die verschiedenen Winde - Einfluß sehr veränderlicher oder allzu gleichförmig lange anhaltender Witterung, Einfluß der Stürme und mehrerer Meteore — allzu große
Wärme oder Kälte der Luft, Blöße oder übertriebene künstliche Wärme unserer
Körperbedeckung oder der Stuben, Beengung einzelner Glieder durch verschiedene Anzüge — der Grad der Kälte und Wärme unserer Nahrungsmittel und Getränke, Hunger oder Durst oder Überfüllung mit Speisen und Getränken und ihre
schädliche, arzneiliche, den Körper umändernde Kraft, die sie teils für sich besitzen (wie Wein, Branntwein, die durch mehr oder weniger schädliche Krauter gewürzten Biere, das mit fremdartigen Stoffen geschwängerte Trinkwasser, der Kaffee, der Tee, die ausländischen und inländischen Gewürze und Gewürzkräuter
und die damit reizend gemachten Speisen, Saucen, Liköre, Schokolade, Kuchen,
die unerkannte Schädlichkeit oder Gesundheit verändernde Kraft einiger Ge-
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in Verbindung und in Konflikt stehenden Organismus einzuwirken und
Veränderungen hervorzubringen - jedes eine verschiedenartige, so wie
es selbst verschiedenartig ist." (Hahnemann: „Heilkunde der Erfahrung").
Die Behauptung, die Gewebsveränderungen seien die Krankheit, ist
eine wirklich sehr oberflächliche Annahme. Die Lehren der Homöopamüse und Tiere im Genüsse), teils sie durch nachlässige Zubereitung, Verderbnis,
Verwechslung oder Verfälschung bekommen (z.B. schlecht gegorenes und unausgebackenes Brot, halbgekochte Fleisch- und Gewächsspeisen oder andere vielfach
verdorbene, gefaulte, verschimmelte oder durch Gewinnsucht verfälschte Nahrungsmittel, in metallenen Geschirren zubereitete oder aufbewahrte Speisen und
Getränke, gekünstelte, vergiftete Weine, mit ätzenden Substanzen verschärfter
Essig, Fleisch kranker Tiere, mit Gips oder Sand verfälschtes Mehl, mit schädlichen
Samen vermischtes Getreide, mit gefährlichen Gewächsen aus Bosheit, Unwissenheit oder Dürftigkeit vermischte oder vertauschte Gemüse) - Unreinlichkeit des
Körpers, der Körperbedeckung, der Wohnungen, nachteilige Substanzen, die
durch Unreinlichkeit oder Nachlässigkeit bei der Zubereitung und Aufbewahrung
in die Nahrungsmittel geraten — der auf uns eindringende Staub mancherlei
schädlichen Gehalts von den Stoffen unserer Fabrikationen und Gewerbe — Vernachlässigung mehrerer Anstalten der Polizei zur Sicherung des allgemeinen
Wohls — allzu heftige Anspannung unserer Körperkräfte, allzu schnelle aktive
oder passive Bewegung, übermäßige Exkretionen einzelner Körperteile, widernatürliche Anstrengung einzelner Sinnesorgane, mancherlei unnatürliche Lagen
und Stellungen, welche die verschiedenen Arbeiten mit sich bringen — Mangel
des Gebrauchs einzelner Teile oder allgemeine untätige Körperruhe — ungeregelte Zeiten der Ruhe, der Mahlzeiten, der Arbeit - Übermaß oder Mangel des
Schlafs — Anstrengung in Geistesarbeiten überhaupt oder in solchen, welche einzelne Seelenkräfte besonders erregen oder ermüden oder widrig und gezwungen
sind, empörende oder entnervende Leidenschaften, durch Lesereien, Erziehung,
Angewöhnung und Umgang erregt - Mißbrauch des Geschlechtstriebs -Gewissensvorwürfe, drückende Lage des Hauswesens, kränkende Familienverhältnisse,
Furcht, Schreck, Ärgernis usw.
Wie abweichend voneinander müssen nun nicht die Erfolge der Einwirkung dieser
Potenzen sein, wenn ihrer mehrere zugleich und in verschiedener Sukzession und
Stärke auf unsere Körper influieren, da letztere zugleich selbst so verschiedenartig
organisiert sind und in den mancherlei Zuständen ihres Lebens sich dergestalt abändern, daß kein menschliches Individuum dem ändern ganz gleich ist in irgendeiner erdenklichen Hinsicht!
Daher kommt es, daß - mit Ausnahme jener wenigen eigenartigen Krankheiten
- alle übrigen ungleichartig und unzählbar sind und so verschieden, daß jede derselben fast nur ein einziges Mal in der Welt vorkommt und jeder vorkommende
Krankheitsfall als eine individuelle Krankheit angesehen (und behandelt) werden
muß, die sich noch nie so ereignete als heute, in dieser Person und unter diesen
Umständen, und genau ebenso nie wieder in der Welt vorkommen wird." Das
Individualisieren wird von allen homöopathischen Ärzten als eine sehr wesentliche Frage angesehen (P.S.).
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4. Erfahrung und Beobachtung in der Medizin
thie zeigen uns, daß jede objektive pathologische Manifestation jeglicher Lokalisation nur als Effekt, als Resultat der Krankheit angesehen
werden kann.
Jede heilbare Krankheit verrät sich dem Arzt durch subjektive und objektive Symptome. Wenn die Krankheit sich durch keinerlei Symptome1,
durch keinerlei äußere Manifestation kundtut und doch im Innern fortschreitend wächst, erkennen wir bald, daß dieser Patient in einem sehr
beklagenswerten Zustand ist. Es ist schon so, daß unheilbare Zustände
sehr oft jeder äußeren Manifestation entbehren.
1
Kent versteht hierunter nicht überhaupt kein Symptom, sondern Absenz wesentlicher, für eine Verschreibung nützlicher Symptome, da es ja in einer
Krankheit immer Symptome gibt, auch in einer unheilbaren. Aber je objektiver,
materieller sie sind, um so weniger therapeutische Heilanzeigen liefern sie.
Ch. Nicolle (Compt. rend. Acad. sc. 1931: 192, 1070) spricht von einer gewissen
menschlichen Krankheit ohne Symptome. Aber wenn auch der gewöhnliche
Mediziner an derselben keine klinischen Symptome entdecken kann und auch
das Laboratorium keine solchen zutage bringt, so würde doch ein homöopathischer Arzt feine Modifikationen des Nervensystems vor allem in Bereich von
Gemüt und Geist finden, und ein guter Biologe würde auch im Blut und Urin
bestimmt Veränderungen sehen, die bei den gewöhnlichen Routineuntersuchungen übersehen wurden. Portie hat ein ganzes Buch den klinisch nicht in
Erscheinung tretenden polyinfektiösen Krankheiten gewidmet (Paris 1951.
Maloine ed.) und gibt darin an, daß Sven Gard am W. internationalen Neurologenkongreß (Paris, Sept. 1949) darauf hinwies, daß schon Melnik die Zahl der
Virusträger der Poliomyelitisviren ohne pathologische Symptome auf das 400 fache der Zahl der typisch Erkrankten schätzte. Anderenteils hat Sabin bemerkt,
daß durch die Komplementbindungsmetbode von Serumantikörpern nachweisbar ist, daß relativ viele Leute Nervensystemaffektionen vom Mumpsvirus haben, ohne je ein Symptom von seilen der Speicheldrüsen gezeigt zu haben oder
mit Mumpskranken Kontakt gehabt zu haben. Man hat auch gefunden, daß
40% der Menschen vom Mumpsvirus infiziert worden sind, ohne daß klinisch
etwas bemerkbar war ... Aber auch hier untersucht der gewöhnliche Arzt in
Unkenntnis des Paragraphen 5 des „Organon" Hahnemanns zu ungenau. Wo
man bei genauester Untersuchung keinerlei Symptome entdecken kann, wo
der Kranke kein solches bemerkt, kann man doch durch genauere, detailliertere Laboratoriumsuntersuchungen noch solche finden oder durch Befragung
der Angehörigen des Kranken: bizarres Verhalten, nächtliche epileptische Krisen usw. (P.S.).
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Zur Theorie der Homöopathie
Vorlesungen über Hahnemanns Organon
406 Seiten, geb.
erschienen 2004
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