Persönliche Freiheit und Menschenwürde: Bewohnervertretung und

Persönliche Freiheit und Menschenwürde:
Bewohnervertretung und Nationaler
Präventionsmechanismus
Vortrag aus Anlass der Festveranstaltung 10 Jahre Bewohnervertretung
Arbeiterkammer Wien, 18.6.2015
Manfred Nowak
Überblick
‣
Persönliche Freiheit und Menschenwürde
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Rechtsgrundlagen des Rechts auf persönliche Freiheit
‣
Rechtsgrundlagen des Rechts auf Menschenwürde
‣
Besondere Schutzwürdigkeit bestimmter
Personengruppen
‣
Bewohnervertretung (BWV) und Nationaler
Präventionsmechanismus (NPM)
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Überblick
‣
Anzahl der Einrichtungen, Freiheitsbeschränkungen und
Besuche
‣
Arten der fast 40.000 neu gemeldeten
Freiheitsbeschränkungen im Jahr 2014
‣
Positive Entwicklungen seit der Erlassung des HeimAufG
und der Kontrolltätigkeit durch die BWV und den NPM
‣
Problembereiche und Handlungsbedarf
‣
Geburtstagswünsche
1. Persönliche Freiheit und Menschenwürde
‣
Hoher Stellenwert im internationalen Menschenrechtsschutz
‣
Trotz unterschiedlicher Zielrichtung viele Gemeinsamkeiten
‣
Persönliche Freiheit wird verletzt durch alle Formen der
willkürlichen (nicht verhältnismäßigen) Haft, Anhaltung, Fixierung
und sonstigen Formen der Beschränkung der unmittelbaren
Bewegungsfreiheit (mechanische, elektronische und
medikamentöse Beschränkungen) – Unterschied zur Freizügigkeit
fließend
‣
Menschenwürde wird verletzt durch Sklaverei, Leibeigenschaft und
vergleichbare Sklaverei-ähnliche Praktiken (z.B. Menschenhandel)
sowie durch Folter und andere Formen der grausamen,
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe
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1. Persönliche Freiheit und Menschenwürde
‣
Bestimmte Formen des Freiheitsentzugs (z.B. Pranger,
Käfige, Netzbett, längere Isolationshaft) können als solche
schon eine Verletzung der Menschenwürde darstellen
‣
Verletzungen der Menschenwürde können auch in Freiheit
begangen werden (z.B. unverhältnismäßige Anwendung von
Polizeigewalt gegenüber DemonstrantInnen), aber in der
Regel finden Verletzungen der Menschenwürde in
Situationen von Freiheitsbeschränkungen statt
‣
In beiden Fällen handelt es sich um Situationen der Gewalt
und unmittelbaren Kontrolle von Menschen über Menschen
2. Rechtsgrundlagen des
Rechts auf persönliche Freiheit
‣ Art 9 IPBPR: Verbot des willkürlichen Freiheitsentzugs,
Mindestrechte, habeas corpus
‣
Art 5 EMRK: taxative Aufzählung zulässiger Formen des
Freiheitsentzugs: Freiheitsstrafe, Untersuchungs- und
Verwahrungshaft, Schubhaft, überwachte Erziehung von
Minderjährigen, Sicherungsmittel in konkret aufgezählten
Fällen (Verhinderung ansteckender Krankheiten, bei
psychisch Kranken, Alkohol- und Rauschgiftsüchtigen
und Landstreichern)
‣
BVGPersFr: folgt Art 5 EMRK, besondere Betonung des
Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Menschenwürde
‣
Durchführungsgesetze einschließlich des
Heimaufenthaltsgesetzes 2005 (HeimAufG)
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3. Rechtsgrundlagen des
Rechts auf Menschenwürde
‣ Im Unterschied zu Art 1 GG (Reaktion auf
Nationalsozialismus) gibt es in Österreich kein
Grundrecht auf Menschenwürde – siehe aber Art 1 der
EU-Grundrechtecharta und seine Anwendbarkeit in
Österreich
‣
Art 10(1) IPBPR: „Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist,
muss menschlich und mit Achtung vor der dem
Menschen innewohnenden Würde behandelt werden.“ Art
10(3) IPBPR: Verpflichtung zur Rehabilitierung von
Strafgefangenen
‣
Art 3 EMRK: Verbot der Folter, unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung oder Strafe
3. Rechtsgrundlagen des
Rechts auf Menschenwürde
‣ Teil I der EU-Grundrechtecharta: Menschenwürde, Recht
auf Leben und Verbot der Todesstrafe, Recht auf
persönliche Integrität und Verbot bestimmter Praktiken
der Biologie und Medizin (reproduktives Klonen, Eugenik,
Organhandel), Verbot der Folter und Misshandlung,
Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und des
Menschenhandels
‣
§ 1(1) HeimAufG: „Die persönliche Freiheit von
Menschen, die aufgrund des Alters, einer Behinderung
oder einer Krankheit der Pflege oder Betreuung bedürfen,
ist besonders zu schützen. Ihre Menschenwürde ist unter
allen Umständen zu achten und zu wahren. Die mit der
Pflege und oder Betreuung betrauten Menschen sind zu
diesem Zweck besonders zu unterstützen.“
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4. Besondere Schutzwürdigkeit bestimmter
Personengruppen
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Strafgefangene, Verwahrungs- und Untersuchungshäftlinge:
globale Krise der Haft, „Mandela-Rules“
‣
Menschen im Maßnahmenvollzug: Ausnahme § 2(2)
HeimAufG
‣
Fremde (Flüchtlinge, MigrantInnen): Schubhaft, oft lange
Präventivhaft
‣
Kinder (einschließlich von Minderjährigen): Gewalt in der
Familie, Schule, Kinder- und Jugendheimen; gemäß § 2(2)
HeimAufG von Anwendung des Gesetzes ausgenommen,
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes
‣
Psychisch kranke Menschen in Abteilungen für Psychiatrie:
UbG, Ausnahme § 2(2) HeimAufG
4. Besondere Schutzwürdigkeit bestimmter
Personengruppen
‣ Menschen mit physischen oder psychischen
Behinderungen: UNO-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderung
‣
Alte und pflegebedürftige Menschen
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Kranke Menschen
‣
Je mehr Menschen von anderen Personen abhängig sind
(Eltern, PflegerInnen, ÄrztInnen, ErzieherInnen, Polizei,
Justizwache etc.), desto größer ist die Gefahr des
Missbrauchs, der Gewalt, der Misshandlung oder gar der
Folter oder Sklaverei-ähnlicher Praktiken
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5. Bewohnervertretung (BWV) und Nationaler
Präventionsmechanismus (NPM)
‣
BWV besteht seit 2005, NPM seit 2012
‣
Rechtsgrundlage: BWV im HeimAufG 2005, NPM im OPCAT 2002 und OPCATDurchführungsgesetz 2012
‣
BWV vertreten kraft Gesetzes (§ 8 HeimAufG) die BewohnerInnen von Alten- und
Pflegeheimen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und
Krankenanstalten. Sie sind von jeder Freiheitsbeschränkung zu verständigen (§ 7
HeimAufG) und sind berechtigt, diese (mehr als 2.000) Einrichtungen
unangemeldet zu besuchen und sich von den BewohnerInnen einen persönlichen
Eindruck zu verschaffen (§ 9 HeimAufG)
‣
Die Kommissionen des NPM haben das Recht, alle (mehr als 4.000)
Einrichtungen, in denen Menschen die persönliche Freiheit entzogen werden
kann oder in denen Menschen mit Behinderung leben, sowie Orte der Ausübung
verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Demonstrationen,
Abschiebungen, Razzien, Großveranstaltungen etc.) unangemeldet zu besuchen,
zu beobachten und mit Angehaltenen vertrauliche Gespräche zu führen
‣
Die Besuche der BWV erfolgen primär reaktiv, jene des NPM primär präventiv
5. Bewohnervertretung (BWV) und Nationaler
Präventionsmechanismus (NPM)
‣
BWV überprüfen primär die Rechtmäßigkeit der Freiheitsbeschränkung, NPMs
überprüfen primär die Einhaltung der Menschenwürde und anderer
Menschenrechte während der Freiheitsbeschränkung
‣
BWV haben das Recht, einen Antrag auf Überprüfung einer
Freiheitsbeschränkung durch ein unabhängiges Gericht zu stellen (§ 11
HeimAufG), während die Kommissionen des NPM an die Volksanwaltschaft (VA),
d.h. eine von den politischen Parteien besetzte Kontrollinstanz berichten
‣
BWV sind bei einem der 4 Vereine für BWV angestellt, unabhängige und
überparteiliche Vereine, während die Mitglieder der Besuchskommissionen des
NPM von der VA bestellt und abberufen werden
‣
Die derzeit 72 BewohnervertreterInnen (54,7 Vollzeitäquivalente) sind
hauptberuflich tätig, die 48 Mitglieder der Besuchskommissionen des NPM sind
nebenberuflich tätig
‣
Die beiden Kontrolleinrichtungen kooperieren miteinander (auch wenn diese
Kooperation verbessert werden könnte), ergänzen einander und stehen nicht in
einem Konkurrenzverhältnis zueinander
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6. Anzahl der Einrichtungen,
Freiheitsbeschränkungen und Besuche
‣ Zwischen 2005 und 2014 ist die Zahl der von der BWV zu
besuchenden Einrichtungen von 1.650 auf 2.683
gestiegen, und jene der Einrichtungsplätze von 139.559
auf 174.413
‣
Im Jahr 2014 wurden fast 40.000
Freiheitsbeschränkungen gemeldet
‣
Im Jahr 2014 hat die BWV über 20.000 klientInnen- und
einrichtungsbezogene Kontakte gepflegt (Zahlen
VertretungsNetz)
6. Anzahl der Einrichtungen,
Freiheitsbeschränkungen und Besuche
‣ Im Jahr 2014 hat die BWV insgesamt 125 Anträge auf
Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung an
Bezirksgerichte gestellt und 39 weitere gerichtliche
Eingaben (Rekurse, Anträge bei länger dauernden
Freiheitsbeschränkungen gemäß § 19 HeimAufG etc)
eingebracht (Zahlen VertretungsNetz)
‣
Im Jahr 2014 haben die sechs Kommissionen des NPM
insgesamt 428 Besuche und Beobachtungen
durchgeführt und entsprechende Protokolle an die VA
übermittelt. Von diesen Besuchen entfielen 89 auf Altenund Pflegeeinrichtungen und Tageszentren, 79 auf
Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, und 23
auf Einrichtungen der Psychiatrie und auf sonstige
Krankenanstalten
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7. Arten der fast 40.000 neu gemeldeten
Freiheitsbeschränkungen im Jahr 2014
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Behinderung am Verlassen eines Bereichs (elektronische
Überwachungen, verschlossene Türen, Anordnung des
Zurückhaltens etc.)
‣
Freiheitsbeschränkungen im Bett (Seitenteile, Gurten etc.)
‣
Freiheitsbeschränkungen im Rollstuhl (angezogene
Rollstuhlbremsen, Therapietische, Gurten etc.)
‣
Freiheitsbeschränkungen im Sitzen (Therapietische, Gurten
etc.)
‣
medikamentöse Freiheitsbeschränkungen
8. Positive Entwicklungen seit HeimAufG
und Kontrolltätigkeit durch BWV und NPM
‣
Verstärktes Bewusstsein, dass jede Freiheitsbeschränkung
einen Eingriff in eines der wichtigsten Menschenrechte
darstellt und gleichzeitig das Risiko einer Verletzung der
Menschenwürde in sich birgt
‣
„Warm, satt und sauber“ wird nicht mehr als eine adäquate
Weise der Betreuung und Pflege von alten und kranken
Menschen oder Menschen mit Behinderung angesehen
‣
Rückgang der mechanischen Freiheitsbeschränkungen in
Alten- und Pflegeheimen, wie insbesondere Seitenteile und
Gurte in den Betten. Dies ist vor allem durch Alternativen wie
Niederflurbetten mit Sturz/Abrollmatten, diverse
Sensorsysteme und verstärkte Sturzprophylaxe
zurückzuführen
‣
Weitgehende Abschaffung von Netzbetten und anderen
käfigartigen Betten (auch in der Steiermark und Wien)
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9. Problembereiche und Handlungsbedarf
‣
Personalmangel in den meisten Einrichtungen: Durch vermehrtes Pflege- und
Betreuungspersonal könnten viele Freiheitsbeschränkungen vermieden werden
‣
Personalmangel in der BWV: Es ist schlicht unmöglich, dass 72 Personen (54,7
Vollzeitäquivalente) mehr als 40.000 neu gemeldete und mehr als 25.000 aufrechte
Freiheitsbeschränkungen wirklich überprüfen und auch noch präventive Besuche in
den entsprechenden Einrichtungen durchführen, um strukturelle Mängel zu beseitigen.
Dies zeigt sich auch in der vergleichsweise geringen Zahl von 125 Anträgen auf
gerichtliche Überprüfung im Jahr 2014
‣
Mangel an Konzepten für Alternativen zu freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
‣
Mangelnde Bereitschaft, die Empfehlung des CPT umzusetzen, dass fixierte Personen
„ständig, unmittelbar und persönlich“ überwacht werden sollen
‣
Mangelnde Sturzprophylaxe
‣
Rechtswidrige Delegierung pflegerischer Aufgaben einschließlich von
freiheitsbeschränkenden Maßnahmen an private Sicherheitsdienste
‣
Widerstand der ÄrztInnen, ihre Praxis der Verordnung sedierend wirkender
Medikamente auch als freiheitsbeschränkend im Sinn des HeimAufG zu akzeptieren
‣
Tendenz zur Medikalisierung aller Lebensbereiche
9. Problembereiche und Handlungsbedarf
‣
Einstellung in unserer Gesellschaft, auf „herausforderndes Verhalten“ mit
Psychopharmaka zu reagieren statt die Ursachen für dieses Verhalten zu analysieren
und zu behandeln
‣
Mangel an professionellem Pflegepersonal in Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen
‣
Tendenz zu „weichen“ oder verschleierten Freiheitsbeschränkungen wie
Demenzgärten, verstellten Türen, „Schutzoveralls“ etc.; damit verbundene rechtliche
Unklarheiten
‣
Fehlen eines Gesamtkonzepts zur De-Institutionalisierung von Großeinrichtungen für
Menschen mit Behinderung und zum Ausbau der persönlichen Assistenz
‣
Nicht-Anwendbarkeit des HeimAufG auf „Einrichtungen zur Pflege und Erziehung
Minderjähriger“ gemäß § 2(2) HeimAufG: keine Verpflichtung zur Meldung
freiheitsbeschränkender Maßnahmen, keine Zuständigkeit der BV; Überprüfung nur
durch den NPM: dringender Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, da Kinder und
Jugendliche hinsichtlich des Rechtsschutzes gegenüber Erwachsenen diskriminiert
werden und dadurch die UNO-Konventionen über die Rechte des Kindes und die
Rechte von Menschen mit Behinderung verletzt werden
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10. Geburtstagswünsche
‣
an die BewohnerInnenvertretung zu ihrem 10. Geburtstag und
zu ihrer erfolgreichen Tätigkeit, die zu einer deutlichen
Stärkung des menschenrechtlichen Bewusstsein in Alten- und
Pflegeheimen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung
und in Krankenanstalten geführt und dadurch zu einer
Verbesserung der Menschenrechte und Lebensqualität der
darin wohnenden Menschen, die nicht selten besonders
schutzbedürftig sind, beigetragen hat. Für die Zukunft: vor
allem eine Verdoppelung ihrer finanziellen und personellen
Ressourcen.
‣
an den Nationalen Präventionsmechanismus zu seinem 3.
Geburtstag mit den Wünschen von mehr finanziellen
Ressourcen, vor allem aber Unabhängigkeit von den
politischen Parteien.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Manfred Nowak
Professor für internationales Recht und Menschenrechte, Universität Wien
Leiter des Forschungszentrums für Menschenrechte, Universität Wien
Co-Direktor des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte
Schottenbastei 10-16, Stiege 2, 5. Stock
+43 1 4277 35310
[email protected]
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