Leseprobe-Pilsken-und-Pailletten

Leseprobe – Pilsken und Pailleten
von Kai Brodersen
Kapitel 1 – Mittwoch, 8. Januar
Jeder vernünftige Mensch weiß, dass man nicht nächtens mit zwielichtigen Gestalten in
verrauchten Hinterzimmern pokern soll. Was vielleicht nicht jeder weiß: Als Kioskbesitzer soll
man nicht mitten in der Nacht den eigenen Laden aufsuchen, um etwaig zur Neige gegangene
Hinterzimmerwhiskeyvorräte aufzufüllen. Ein wirklich wichtiger Ratschlag zur Erlangung eines
ruhigen Lebens hingegen ist weitestgehend unbekannt: Finde keine angeketteten
Sparkassendirektoren auf deinem Weg!
Ich war also in dieser für Anfang Januar nicht allzu kalten Nacht gerade dabei, das Gitter vor
der Hintertür meiner Trinkhalle aufzuschließen, als ich schräg links hinter mir ein Stöhnen hörte,
dem ich angesichts der Temperaturen und aufgrund jahrelanger einschlägiger
Vergleichsmöglichkeiten jegliche lustvolle Komponente absprechen musste. Nicht ohne eine
gewisse Vorahnung drehte ich mich um. Hinter meinem kleinen Büdchen befand sich eine
Freifläche mit dem Charme eines Schulhofes am Sonntagnachmittag, dem die Verantwortlichen
in Hagen-Vorhalle den hochtrabenden Namen „Europaplatz“ verliehen hatten, vielleicht um zu
zeigen, was sie von der Nachfolgerin der Montanunion hielten. Ein paar Kopfweiden hielten dort
traurige Wacht, gestutzt von Ein-Euro-Jobbern, deren Arbeitsethos verständlicherweise etwa so
hoch war wie das der Europaplatznamensgeber. Um besagte Weiden vor Beschädigung durch
was auch immer zu schützen, waren sie jeweils mit einer umlaufenden Stange in einer Höhe von
etwa 15 Zentimetern umgeben, und an einer dieser Stangen wimmerte und wand sich etwas.
Bevor ich mir noch hinreichend bewusst gemacht hatte, wie unglaublich dämlich es ist, in tiefer
Nacht einem Wimmern zu folgen, stand ich auch schon neben dessen Quelle und konnte sie als
Herrn Schmelter identifizieren, den Leiter der Sparkassenfiliale, die direkt neben meinem Kiosk
lag.
Allerdings sah er ganz und gar nicht filialleitermäßig aus: Sein etwas fülliger Körper steckte in
einer deutlich zu engen Korsage, um seine stämmigen Beine spannten sich sehr billige schwarze
Nylons (So etwas erkannte ich auch im Halbdunkel!) und zwischen seinen zappelnden Füßen
lagen scheußliche Neunzentimeterpumps. Sein rechter Arm war mit einer sehr echt aussehenden
Handschelle an das Rohr gefesselt, in der linken hielt er einen Stein, mit dem er offenbar versucht
hatte, sich zu befreien. Ich hatte schon einen flotten Spruch auf den Lippen, der verschiedene
sexuelle Vorlieben und ihre jeweiligen klimatischen Voraussetzungen zum Inhalt hatte, biss mir
aber auf die Zunge, als ich den Mann genauer betrachtete. Sein rechtes Auge war zugeschwollen,
auch der Hinterkopf sah seltsam aus, was vermutlich an dem getrockneten Blut auf seinem
spärlicher werdenden Haupthaar lag. Das noch geöffnete linke Auge sah mich mit einer
Mischung aus Panik und Hoffnung an (etwa im Verhältnis 2:1 für die Panik), die ihre Wirkung
nicht verfehlte, obwohl ich den Herrn Schmelter in intaktem Zustand nicht gerade zu meinen
Lieblingszeitgenossen zählte. Genau genommen war er sogar ein ziemlicher Unsympath und
langweilig noch dazu, eben was man sich so unter einem Sparkassenfilialleiter vorstellt. Wieso
haben die eigentlich dieses traurige Image? – Ich verschob die Beantwortung dieser Frage auf
einen besser geeigneten, vor allem späteren Zeitpunkt und beugte mich unter Absonderung
beruhigender Laute zu dem Verletzten.
„Keine Angst“, flüsterte ich in meinem sonorsten Bariton. „Ich rufe jetzt die Polizei, dann sind
Sie in Nullkommanichts wieder frei und im Warmen.“
Das Drittel Hoffnung verabschiedete sich aus seinem Blick und ließ nur die einsame und
nackte Panik übrig.
„Keine Polizei, um Gottes Willen!“, quiekte er. „Bloß keine Polizei!“
Ein Blick auf seine derzeitige, zweifellos etwas heikle Situation machte schnell klar, was er
meinte, und die allgemein menschliche Bosheit, die einen nicht geringen Teil meiner seelischen
Landschaft besiedelte, freute sich diebisch: Der Herr Filialleiter Schmelter, in ebenso tiefer wie
kühler Nacht très dérangé nach einem offensichtlich aus dem Ruder gelaufenen Sexspielchen. –
Herrlich!
Andererseits gab es in meiner eigenen, wild bewegten Vergangenheit durchaus zahlreiche
Momente, deren Ausbreitung in der interessierten Öffentlichkeit mir alles andere als recht
gewesen wäre, und so gewann neben dem kategorischen Imperativ schließlich das Mitleid mit
diesem armen, wenn auch unsympathischen Schwein die Oberhand.
„Also gut.“ (Warum flüsterte ich eigentlich noch immer? – Noch so eine Frage ...) „Ich mache
einen Anruf und hole Ihnen eine Decke aus dem Büdchen. Ich bin sofort wieder da, rühren Sie
sich nicht von der Stelle!“ Ich mag ja meine angeborene Bosheit bisweilen bezwingen können,
aber einen Kalauer auslassen? – Nimmermehr!
Ich trabte also zurück zum Kiosk und öffnete das schwere Gitter und die ebenso schwere
Eisentür. (Vorhalle ist zwar nicht die Bronx des schönen westfälischen Hagens, aber ein schlecht
gesichertes Häuschen voller Schnaps und Zigaretten hatte schon viele auf dumme Gedanken
gebracht.) Ich machte Licht und rief Rudi an. Wie immer war er beim zweiten Klingeln wach und
sofort am Apparat. Der leichte Schlaf war wohl eine Frucht diverser Knastaufenthalte. Ich
erklärte ihm kurz die Lage, unterband seinen Heiterkeitsanfall und beorderte ihn stante pede zum
Büdchen. Anschließend machte ich mich auf die Suche nach etwas Wärmendem für das
Sexualopfer dort draußen. Ich griff eine Flasche Cognac. (Er würde sie ja wohl bezahlen, sonst
hätte es eine Flasche von dem Pennerglück aus dem Großmarkt auch getan ...) Mein gutes
Federbett, das im Hinterzimmer für Notfälle auf mich wartete, wollte ich nicht opfern, und so
entschied ich mich für den türkisfarbenen Webpelzmantel, den Irina, die russische Perle, die
zweimal die Woche den Laden putzte und mich im Notfall auch mal vertrat, irgendwann am
Haken vergessen hatte. Schmelter war nicht in einer Situation, in der er auf der Beachtung
modischer Feinheiten hätte bestehen können, und so protestierte er auch nur schwach, als ich
ihm das scheußliche Teil überwarf. Gegen den Cognac hatte er dagegen überhaupt nichts
einzuwenden. So hatten wir zwei es denn eigentlich so gemütlich, wie man es nur haben kann,
wenn einer von beiden um drei Uhr morgens bei etwa sieben Grad plus in einer Korsage an eine
Baumschutzstange in Hagen-Vorhalle gekettet ist.
Rudi war schnell da, weil er immer sofort zur Stelle war, wenn ich ihn brauchte, schon seit – na
ja, seit damals eben. Die mir schon früh in Fleisch und Blut übergegangene Unaufrichtigkeit der
Bühnenkinder war ihm gänzlich fremd, und so näherte er sich mit einem breiten Grinsen.
„Todschicker Mantel, das. Kommen Sie gerade vom Banker-Ball?“, begrüßte er lautstark den
heftig zusammenzuckenden Schmelter.
„Rudi, sei nicht gemein“, wies ich ihn, immer noch flüsternd, zurecht. „Bitte hilf Herrn
Schmelter möglichst diskret aus seiner misslichen Lage. Ich bin sicher, er wird uns nachher alles
erklären. In der Zwischenzeit mach ich schon mal Kaffee.“ Im Weggehen hörte ich Rudi noch
murmeln, dass er auf diese Erklärung mehr als gespannt sei. Dann schusselte ich mit der
Espressomaschine herum, bis mich plötzlich die Erinnerung an den eigentlichen Grund meines
Hierseins durchzuckte. Das Bewusstsein, das man bestimmte Leute besser nicht auf den, ihnen
versprochenen Whiskey warten lässt oder ihnen gar das Gefühl vermittelt, man wolle sich von
seinen Spielverlusten absentieren, durchflutete mich mit einer Adrenalinausschüttung, mit der
verglichen das nämliche Ereignis bei der Auffindung unseres Sparkassenfreundes ein milder
Frühlingsregen gewesen war. Flugs nahm ich zwei Flaschen Dimple (statt einer!), sprang noch
schnell bei Rudi vorbei, um ihn zu instruieren, den Schmelter nach erfolgter Befreiung ins
Büdchen zu verbringen und dort auf meine Rückkehr zu warten, und war auf dem Weg zur Eule,
dem Ecklokal etwa fünfzig Meter von meinem Kiosk entfernt. Massimo, der Wirt, hatte die
Hintertür des Lokals, das von der Straße aus den Eindruck striktester Sperrstundenbeachtung
erweckte, nicht abgeschlossen, und so stand ich wenige Minuten später vor der Runde meiner
Pokerfreunde. Man sah ihnen an, dass sie schon nicht mehr mit mir gerechnet hatten, und es
gelang mir nur unter Aufbietung meines gesamten Charmes, ihre aufkommende Verärgerung zu
dämpfen, verbunden mit der Zusicherung, der mitgebrachte Whiskey sei selbstverständlich eine
Spende, ebenso wie die fünfzig Euro, um die ich meine Spielschulden aufrundete ...
Selbstverständlich wusste ich, dass höchstens die Hälfte der Schauermärchen, die man sich über
den einen oder anderen der Kartenfreunde erzählte, wahr sein konnte, aber ich wollte keinesfalls
am eigenen Leibe erfahren, welche. So war ich einigermaßen erleichtert, als ich die Pokerrunde
gesund verlassen und meinen Weg zum Büdchen zurückgefunden hatte. Erwartungsgemäß waren
die Handschellen kein großes Problem für Rudi gewesen, sodass die Herren bereits in der Küche
saßen – die Cognacflasche beachtlich viel leerer als bei meinem Aufbruch und Schmelter immer
noch in Irinas bestem Webpelz.
„Schön, dass ihr beiden es wenigstens gemütlich hattet“, knurrte ich missgünstig. „Herr
Schmelter, ich freue mich zu sehen, dass Ihnen augenscheinlich nichts fehlt, was ein ordentliches
Quantum Alkohol und mehrtägige Bettruhe nicht beheben könnten.“ Nach einem Blick auf das
Monokelhämatom rund um sein rechtes Auge fügte ich hinzu: „Na ja, und vielleicht ein begabter
Visagist. – Wie dem auch sei: Sie schulden meinem Freund Rudi und mir eine Erklärung und
darüber hinaus den Gegenwert einer Flasche Cognac und zweier Flaschen Dimple sowie fünfzig
Euro in bar.“ Sprach’s und griff mir ein Glas.
„Ich bin Ihnen beiden wirklich außerordentlich dankbar“, hob der Angesprochene an, „und
selbstverständlich erstatte ich Ihnen auch alle Auslagen, die Sie meinetwegen hatten, Herr ... äh
...“ Das ist der Nachteil der Überheblichkeit: Man kennt den Namen des Gegenübers nicht, auf
das man immer herabgesehen hat! Bislang hatte der Herr Filialleiter immer nur die knappste
Andeutung eines Nickens als Antwort auf meinen Gruß gehabt, geschweige denn, dass der mal
etwas bei mir gekauft hätte!
„Nobbe“, half ich aus. „Und dies ist mein Freund Rudi Völzgen.“
„Hans-Peter Schmelter, sehr angenehm“, murmelte er automatisch. Es schien ihm zusehends
besser zu gehen. „An welche Summe hatten Sie denn gedacht?“, fuhr er fort und schob dabei
ganz automatisch die Rechte unter den Türkispelz. Da war’s dann allerdings vorbei mit der
Erholung: Seine Gesichtsfarbe wechselte von cognacgerötet zu puterrot, um dann auf dem
Umweg über grünlich ein sehr unansehnliches Grau zu erreichen.
„Mir will scheinen, Herr Schmelter, Sie sind im Verlaufe der Ereignisse, die Sie schließlich
hinter mein Büdchen gebracht haben, Ihrer Kleidung mitsamt Ihrer Brieftasche verlustig
gegangen. Vermutlich mitsamt Ihres Hausschlüssels.“ Sein Grau wurde noch ein wenig
unansehnlicher. „Ich schlage das nur ungern vor, aber meinen Sie nicht, es wäre jetzt doch an der
Zeit, die Polizei zu rufen?“
Rudis Reaktion auf die Erwähnung der Ordnungskräfte war mir vertraut und aus biografischen
Gründen nachvollziehbar. Interessanter war Schmelters Reflex: Sein Gesichtsgrau wechselte
spontan zurück zu knallrot, und er schrie: „Keine Polizei, um Gottes Willen! Sie machen uns
noch alle unglücklich!“
Was mich daran unglücklich machen sollte, wenn Hagens Beste sich der Frage annahmen, was
einen Filialleiter nächtens in die Korsage trieb, war mir unverständlich. Verständlich allerdings
war die Entspannung, die sich auf Rudis Zügen ausbreitet, als er erfuhr, dass wir nicht
unmittelbar mit dem Eintreffen der uniformierten Herren rechnen mussten. Meines Wissens
hatte er in der letzten Zeit nichts besonders Illegales getan, aber was wusste ich schon?
Ich versuchte es erneut: „Herr Schmelter, Ihre privaten Vergnügungen gehen uns genauso
wenig an wie Ihre sexuellen Präferenzen.“ – Er zuckte zusammen. – „Aber wer auch immer Ihr
Spielpartner war, er oder sie hat jetzt Ihre Kleider, Ihre Brieftasche und Ihre Hausschlüssel.
Meinen Sie nicht, es wäre angeraten, Ihre Wohnung und Ihr Eigentum zu schützen?“
Mittlerweile sah er beinahe wieder so elend aus wie kürzlich draußen am Baum. Er hatte die
Hände vors Gesicht geschlagen, wiegte den Oberkörper hin und her und murmelte vor sich hin:
“Keine Polizei!“ Begriffsstutzigkeit zehrte von jeher an meinen Nerven.
„Na gut, dann schlage ich vor, Sie bestellen ein Taxi, fahren nach Hause und sehen nach dem
Rechten. – Ach nein, Sie haben ja kein Geld, keinen Schlüssel und keine Kleidung, die man
einem Taxifahrer präsentieren sollte!“
Schmelters Blicke wechselten zwischen Rudi und mir. „Aber wenn Sie vielleicht ...“
„Oh nein, mein Herr!“, fuhr ich ihm in die Parade. „Nein, nein, nein! Wir werden nicht mitten
in der Nacht mit Ihnen durch die Gegend fahren und Ihnen Zutritt zu Ihrer eigenen Wohnung
verschaffen! Wir werden uns nicht dabei erwischen lassen und die nächsten 24 Stunden in
Polizeigewahrsam verbringen! Stattdessen wird sich der liebe Rudi jetzt verabschieden, dann
werde ich die Herren von der Polizei informieren, und damit endet die Geschichte!“
So schlecht ging es ihm offenbar doch nicht, dass sich nicht ein schlaues Funkeln in seine
Augen hätte schleichen können. „Aber dann müsste ich den Herren ja auch erzählen, wer mich
befreit hat und mit wie professionellem Werkzeug das gemacht wurde ...“ Rudi wurde es
ungemütlich. Sein Werkzeug war ihm heilig. „Andererseits: Wenn Sie mich diskret nach Hause
bringen, mich in die Wohnung lassen und Stillschweigen über die ganze Angelegenheit bewahren,
dann sind für jeden von Ihnen 500 Euro drin, bar und steuerfrei!“
Für Fünfhundert muss man eine ganze Menge Krombacher verkaufen. Zu Rudi musste ich gar
nicht erst hinübersehen, um zu wissen, dass die Dollarzeichen in seinen babyblauen Augen
aufleuchteten. Und am Ende: Was gingen uns schon die privaten Probleme des Herrn Schmelter
an?
„Also gut“, sagte ich. „Es läuft so: Wir fahren hin, lassen Sie rein, Sie geben uns die Flocken,
wir sind weg, und keiner wird sich jemals wieder an diese Nacht erinnern. Haben Sie das Geld
daheim? – Ich meine, falls überhaupt noch etwas da ist?“
„Mein Safe hat ein Zahlenschloss“, erwiderte Schmelter, nun schon sichtlich erholt und mit
nahezu normaler Gesichtsfarbe.
„Gut, dann los!“, kommandierte ich. „Hier im Schrank ist ein Jogginganzug, der Ihnen leidlich
passen wird. Ziehen Sie den über!“
„Du hast einen Jogger?“, äußerte Rudi sein Erstaunen.
„Das hast du gar nicht erst gehört und außerdem sofort vergessen!“, beschied ich ihm.