Ein Lesebuch zur Psychiatrie - Schweizerische Ärztezeitung

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HORIZONTE Buchbesprechungen
Ein Lesebuch zur Psychiatrie
Michael Soyka
Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor Privatklinik Meiringen
sicherung!) angesprochen. Nachvollziehbar spricht Hoff
von Biomarkern als kleinen, aber wahrscheinlich relevanten Teilen eines grossen Puzzles, bevor er sich seiner vielleicht wichtigsten Frage zuwendet, nämlich der
Rolle der Psychopathologie heute: Relikt oder Kernelement? Es folgen Ausführungen zu den verschiedenen
Formen von psychiatrischen, psychotherapeutischen
Paul Hoff
und sozialtherapeutischen Interventionen und der
Was darf
die Psychiatrie?
«Achillesferse» der Psychiatrie, nämlich den medizini-
Oberhofen:
ten-Autonomie. Hier werden Fragen wie die Urteilsfä-
schen Zwangsmassnahmen und der Frage der Patienhigkeit von Patienten oder Grundlagen fürsorgerischer
Zytglogge-Verlag; 2014.
Unterbringungen sowie Zwangsbehandlungen disku-
240 Seiten. 36 CHF.
ISBN 978-3-7296-0886-3
tiert.
In den einzelnen Kapiteln runden Fallvorstellungen
die angesprochenen Problemstellungen ab.
Anschliessend formuliert Hoff zehn Thesen zur Psych-
und ein profilierter Kenner der deutschsprachigen
iatrie, die er ausdrücklich als Teildisziplin der Medizin
Psychiatrie mit herausragender Expertise – vor allem
sieht. Allerdings verwahrt er sich auch gegen eine
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Paul Hoff, stellvertretender Direktor der PUK Zürich
in der Psychopathologie und der forensischen
Hoff verwahrt sich gegen eine «reflexartige
Festlegung der Psychiatrie auf ein strikt medizinisches Krankheitsmodell».
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Psychiatrie – legt ein interessantes, schon im Titel
kontroverses Buch vor: Was darf die Psychiatrie?
Oder anders ausgedrückt: Was darf der Psychiater?
Und: Was können und dürfen Diagnostik, Therapie,
schaftlichen Schwerpunkt von Paul Hoff, die Begutach-
medizinisches Krankheitsmodell».
tung, sprich die forensische Psychiatrie?
Ein Fazit: Es handelt sich nicht um ein Lehrbuch der
In seinem Buch geht Paul Hoff zunächst der Frage
Psychiatrie, auch nicht um eine Streitschrift, sondern
nach, wo die Psychiatrie heute steht. Er beschäftigt sich
um ein interessantes – im wahrsten Sinne des Wortes –
mit ihren ethischen Grundlagen, schlägt einen weiten
Lesebuch zur heutigen Situation der Psychiatrie in
Bogen von Hippokrates über Kant bis zu modernen
Klinik und Forschung.
Autoren und flicht interessante Fallvorstellungen wie
Gerne hätte man noch mehr aus Sicht des Autors er-
z.B. die «von einem schizophrenen Lebenskünstler» in
fahren, etwa wie er die Vermittlung der Psychiatrie an
seine Überlegungen und Argumentationskette ein.
den Universitäten heute sieht. Hat der offenkundige
Im Diagnostik-Kapitel geht er der für die Psychiatrie
Nachwuchsmangel nicht auch hier gewisse Gründe?
besonders relevanten Frage nach, was krank ist und
Wer sich für die ethischen Grundlagen der Psychiatrie,
was nicht. Hier schlägt er den Bogen von Carl Jaspers
ihren kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund,
zu den neuen Klassifikationssystemen wie ICD-10 und
insbesondere auch konkrete Fragen wie der Diagnostik
DSM-5 mit ihren zuletzt «über»-detailreichen Defini
psychiatrischer Erkrankungen und der Begutachtung
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«reflexartige Festlegung der Psychiatrie auf ein strikt
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Forschung und, nicht überraschend, beim wissen-
bzw. Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher
Ausführlich diskutiert wird auch die angebliche Theo-
interessiert, wird in diesem schönen Buch viel Lesens-
rielosigkeit der modernen psychiatrischen Klassifika-
und Anregenswertes finden. Nicht selbstverständlich
Prof. Dr. med. Michael Soyka
tionssysteme. Kurz werden aktuelle Probleme wie z.B.
für ein Psychiatrie-Buch heute: Es ist flüssig geschrie-
Privatklinik Meiringen
die Rolle von Biomarkern als Indikatoren psychischer
ben, gut zu lesen und in einem exquisiten Deutsch ver-
Erkrankungen (praktisches Beispiel: EEG-Befunde bei
fasst, so wie es früher einmal in der Psychiatrie und
psychiatrischen Begutachtungen für die Invalidenver-
Wissenschaft gängig war.
CH-3860 Meiringen
michael.soyka[at]
privatklinik-meiringen.ch
SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI
Korrespondenz:
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tionen psychischer Störungen.
2015;96(27–28):1041