Vom Zorne Gottes und vom Zorn des Menschen

1. Biblischer Zorn – Eine Problemanzeige
Wer sich der jüdisch-christlichen Tradition zugehörend und verpflichtet fühlt,
sollte sich mit dem Zorne Gottes, wie er in den Schriften des Alten und Neuen
Testaments beschrieben wird, auseinandersetzen. Denn auch wenn wir in unserem Alltag Gottes Zorn nicht zu spüren bekommen, so kann doch in einer evangelischen Andacht oder einem Gottesdienst daran erinnert werden, dass „ein
wahrer Glaube Gotts Zorn stillt“ (Lied 413 im Evangelischen Gesangbuch, abgekürzt: EG). Für Christinnen und Christen mit einem anderen Gesangbuch
kommt das „dies irae“, „der Tag des Zorns“, in der Requiemsliturgie vor. Dieses
Liturgieelement ist ebenfalls in den Requien von Mozart oder Verdi zu hören.
Auch Goethe lässt im 1.Teil seines Faust in der Szene im Dom einen Chor das
„dies irae“ singen, um Gretchen an Ende und Gericht und an ihre Schuld zu erinnern. Man kann also auf unterschiedliche Weise an Gottes Zorn erinnert werden. Spätestens am Ende der Tage unserer Welt wird dieser Zorn spürbar, wenn
Gott dem Glauben gemäß Gericht halten wird über „Böse und Fromme“, in die
die Menschheit laut Vers 5 des genannten Liedes eingeteilt wird. Jeder und jede
sollte sich auch mit seinem Verhältnis zum menschlichen Zorn auseinandersetzen. Man kann sich erinnern, dass man als Kind zornig wurde, wenn dies oder
jenes nicht nach den eigenen Wünschen geschah. Man kann sich ebenfalls daran
erinnern, wie die Personen, von denen man abhängig war, den kindlichen Zorn
beurteilt haben. Gott beurteilt den menschlichen Zorn als unmenschlich. Er soll
nicht wirksam werden, da er nicht zu dem Bild passt, das Gott sich von uns gemacht hat und dem wir gleich werden sollten.
Es ist nun leichter, sich dem Thema „Vom Zorne Gottes und vom Zorn des
Menschen“ auf der Grundlage biblischer Zeugnisse zu nähern, wenn als erstes
der Zorn Gottes thematisiert wird. Laut Statistik wird von ihm 375 Mal geschrieben.1 Damit ist er ein zentrales biblisches Thema. Der Zorn des Menschen
stellt nur eine Randerscheinung dar. Er wird außerdem nicht positiv bewertet. In
den letzten Jahren wurden Abhandlungen publiziert, die sich bemühen, beim
Thema Zorn Gottes nichts von dem zu bagatellisieren, was ein zorniger Gott anrichten kann. Dieser Zorn wird auch in ihr christlich-theologisches Konzept eingegliedert. Das werde ich darlegen. Ich werde mich aber auch bemühen verständlich zu machen, warum diese theologischen Konzepte nicht tragfähig genug sind. Den Grund dafür sehe ich im Stellenwert der menschlichen Emotionalität innerhalb der Theologie. Zum einen fehlt ein ausgeprägtes Mitgefühl für
die, die unter Gottes Zorn zu leiden haben bzw. hatten. Zum andern hat Jesus
selber Normen vorgegeben, die den Anflug von Aggressivität oder einer ersten
1
Diese Angabe übernehme ich ungeprüft von W. Gross, Keine Gerechtigkeit Gottes ohne
Zorn Gottes – Zorn Gottes in der christlichen Bibel, S.18 und I. Dalferth, Der Zorn Gottes, S.42.
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Regung zur Wollust zum Verstoß gegen das 5. oder 6. Gebot und damit zur
Sünde erklärt haben. Darauf komme ich noch zu sprechen. Somit können solche
emotionalen Zustände nicht sachlich betrachtet werden. Heutige Psychologie
kann die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle betrachten, beschreiben und
diskutieren, ohne sie zu demoralisieren. Das trifft auch für den menschlichen
Zorn zu. Über diesen wiederum können, wie angemerkt, biblische Texte im wesentlichen nur negativ reden.
Im 1. Buch Mose in der Geschichte von Kain und Abel werden die Weichen für
die folgenden Beurteilungen menschlichen Zorns gestellt. Im Kapitel 4 dieses
Buches lauten die Verse 3 bis 7 in der Übersetzung der Jerusalemer Bibel so:
Nach geraumer Zeit geschah es nun, dass Kain von den Früchten des Feldes
Jahwe ein Opfer darbrachte. Auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Herde, und zwar von ihrem Fett. Und Jahwe schaute gnädig auf Abel
und sein Opfer. Auf Kain und sein Opfer aber schaute er nicht. Deshalb wurde
Kain sehr zornig und senkte sein Angesicht. Da sprach Jahwe zu Kain: „Warum
bist du zornig und senkst du dein Angesicht? Wenn du recht handelst, erhebst du
nicht das Haupt? Wenn du aber nicht recht handelst, ist dann nicht die Sünde an
der Tür, ein lauerndes Tier, das nach dir verlangt und das du beherrschen
sollst?“
Die anschließenden Verse beschreiben die Folgen für den, der seinen Zorn nicht
unter Kontrolle hält, ihn nicht beherrschen kann.2 Wer sich der Tradition des AT
verpflichtet fühlt, wird einer Äußerung bzw. Aufforderung, wie sie der Brief an
die Epheser im Neuen Testament bewahrt hat, nur zustimmen können:
Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung sei ferne von
euch samt aller Bosheit, Epheser 4,31.
Dem korrespondiert wiederum, was das NT nun in Bezug auf Kain und Abel
schreibt:
Durch den Glauben hat Abel Gott ein besseres Opfer gebracht als Kain; deshalb
wurde ihm bezeugt, dass er gerecht sei, da Gott selbst für seine Gaben Zeugnis
gab; und durch den Glauben redet er noch, wiewohl er gestorben ist, Brief an
die Hebräer 11,4.
Denn das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang, dass wir uns untereinander lieben sollen, nicht wie Kain, der von dem Argen war und erwürgte
seinen Bruder. Und warum erwürgte er ihn? Weil seine Werke böse waren und
die seines Bruders gerecht, 1. Johannesbrief 3,11f.
Nun ist aber weder von Glauben bei dem erwähnten Opfer noch von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit oder von bösen Werken bei der Opferung von Kain
2
Das hebräische Verb charah, das hier verwendet wird, bedeutet „heiß sein od. werden
(v. Zorn Gottes u. d. Menschen)“, W.Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, 18. Aufl., S.394, unter Anführung der beiden Stellen des zitierten Abschnitts.
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und Abel im Ursprungstext etwas zu lesen. So wäre es nicht abwegig zu erwarten, dass sich gegen diese Art Polarisierung und tendenzieller Beschreibung im
Vergleich von 1. Mose 4 und den beiden zuletzt genannten Stellen der Zorn,
vielleicht auch nur empörter Einspruch bei Hörern oder Leserinnen entwickelt.
Das ist generell nicht der Fall. Der menschliche Zorn ist biblisch negativ besetzt.
Es wird mir nun im Laufe dieser Darlegung auch darum gehen, den menschlichen Zorn als ein positiv zu bewertendes Gefühl zu beschreiben. Wer schon die
Probe auf die eigene Gefühlsreaktion machen möchte, lese die Texte 2. Samuel
24 und danach 1. Chronik 21, jeweils Vers 1 bis 4. Die Texte stehen hier S. 55
nebeneinander abgedruckt und werden dort besprochen. Ich werde den Vergleich beider Bibelstellen als Ausgang dafür nehmen, welche Entwicklung sich
daran angeschlossen hat und welche Konsequenzen sie mit sich geführt haben.
1.1 Göttlicher Zorn
Von W. Gross, einem katholischen Theologen, erschien eine umfangreiche Untersuchung mit dem Titel „Zorn Gottes – ein biblisches Theologumenon“.3 W.
Gross benennt unmissverständlich die Sachverhalte beim Namen. So resümiert
er seine Auslegung von Klagelied 2, dass dieses Lied, das nach dem Untergang
des Königreiches Juda einschließlich der Zerstörung von Jerusalem und Jahwes
Tempel im Jahre 585 vor Chr. verfasst wurde, „die Klage vor und die Anklage
gegen YHWH wegen seines unverhältnismäßig grausamen Vorgehens gegen das
Land Juda und die Stadt Jerusalem“ sei.4
Die Verse 1 bis 7 des 2. Klageliedes lauten wie folgt:
O weh! In seinem Zorn umdunkelte Jahwe die Tochter Zion; er warf das Glanzstück Israels vom Himmel zur Erde. Des Schemels seiner Füße gedachte er nicht
mehr am Tage seines Zorns. Ohne Schonung hat der Herr vernichtet alle Fluren
Jakobs, hat der Judatochter Festungswerke in seinem Grimm eingerissen! Zu
Boden gezwungen, entehrt das Königtum und seine Fürsten. In Zornesglut zerbrach er jedes Horn in Israel, zog seine Rechte zurück angesichts des Feindes
und legte in Jakob an einen Brand, der ringsum weiterfrisst. Er spannte seinen
Bogen wie ein Feind, trat wie ein Gegner auf mit seiner Rechten und mordete
alles, was dem Auge lieb im Zelt der Tochter Zion; goss aus wie Feuer seinen
Zorn. Zum Feinde ward der Herr; er vertilgte Israel, vertilgte alle seine Paläste,
zerstörte seine Burgen und häufte bei der Tochter Juda Jammer über Jammer.
Und er zertrat wie einen Garten sein Gehege, zerstörte seinen Ort der Begegnung. Vergessen ließ Jahwe auf Zion die Fest- und Sabbattage und verwarf in
seinem Zorngerichte König und Priester. Der Herr hat verworfen seinen Altar,
3
4
Erschienen im Sammelband: Gott – Ratlos vor dem Bösen? Hg. von W.Beinert, S.47–
85.
A.a.O. S.62.
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entweiht sein Heiligtum, in Feindeshand überliefert die Mauern und ihre Gebäude; laut war es im Hause Jahwes wie sonst an Tagen nur der Feste.
Ich rechne damit, dass jede Leserin und jeder Leser W. Gross zustimmen wird,
dass in den zitierten Versen des Klageliedes 2 ein „unverhältnismäßig grausames Vorgehen“ Gottes beschrieben wird. Man wird vielleicht fragen, ob Gott
nicht gute Gründe gehabt haben könnte, so gegen Juda und Jerusalem vorzugehen. Entscheidend ist zunächst jedoch, dass die Überlebenden Gott als Zornigen
so erlebt haben.
Im Jahre 2009, legt der evangelische Theologe J. Jeremias seine Monographie:
„Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung“ vor. „Mit dem Buch der Klagelieder (Threni)“, schreibt J.
Jeremias, „begegnet uns ein erstes Mal die kollektive Erfahrung von schwerstem
Unheil, das von den Leidenden auf den Zorn Gottes zurückgeführt wird.“ 5 Und
weiter unten S. 37 hält er fest, dass für Klagelied 2 „das große Leid … nirgends
auf die alles verwüstenden Feinde zurückgeführt wird (…), sondern durchgehend auf Gott, der den Feinden ungehindertes Wüten gestattete. Die Feinde waren nur Werkzeug, der eigentliche Zerstörer war Gott in seinem Zorn“ (im Original gesperrt).
Beide Autoren sind sich darin einig, dass Gottes Zorn das erwählte Königtum,
sein Land, seine Hauptstadt und Gottes eigenen Wohnort, den Tempel, zerstört
hat, allein sein Zorn. Dennoch sind sich beide Autoren auch darin einig, dass der
Zorn Gottes eine unaufgebbare und positiv zu bewertende Aussage zu Gottes
Wesen und Wirken sei. Nach W. Gross lenkt der Zorn Gottes in seiner Gerechtigkeit die Geschichte damals wie heute. Der Glaube, dass Gott der Herr der Geschichte ist, lässt sich, so W. Gross, nur durchhalten, wenn dem Zorn Gottes als
in Gerechtigkeit eingreifendem Handeln Raum gegeben wird.6
Nach J. Jeremias ist „das Wissen vom Zorn Gottes für die reife Theologie des
Alten Testaments ab dem Exil schlechterdings konstitutiv … das Israel die entscheidende Hilfe bot, um den Bruch seiner Geschichte, bei dem ihm mit Land,
Königtum und Tempel alle wesentlichen Stützen seines frühen Glaubens geraubt
worden waren, zu überstehen … dieses Wissen, das in prophetischen Texten zu
Formulierungen der Selbstbindung Gottes an seine Menschen führte, die weit in
das Neue Testament hineinreichen und die ohne Kenntnis des Zornes Gottes
ebenso undenkbar wären wie zahlreiche Aussagen der neutestamentlichen Kreuzestheologie.“7
Bevor ich meine Sicht darlege, warum ich dieser geschichtstheologischen Fundierung des Zornes Gottes nicht folgen kann, soll noch ein anderer evangelischer
5
6
7
J.Jeremias, Der Zorn Gottes im Alten Testament, S.29.
A.a.O. S.80; dazu W.Gross, Keine Gerechtigkeit Gottes ohne Zorn Gottes – Zorn Gottes
in der christlichen Bibel.
A.a.O. S.196.
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Theologe erwähnt werden, der aus systematisch-theologischer Überlegung Gottes Zorn für unseren Glauben für unaufgebbar hält. I. U. Dalferth, schreibt: „Der
Zorn Gottes wird nicht als Gegensatz zu Gottes Liebe oder Barmherzigkeit verstanden, sondern als Ausdruck seiner Gerechtigkeit: Gott ist in seinem Zorn gerecht, denn dieser Zorn richtet sich gegen die Störung und Missachtung seiner
gerechten, guten, lebensdienlichen Ordnung. Das gilt zentral für die Grunddifferenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, die nicht gewahrt wird, wo man den Alleinverehrungsanspruch Jahwes missachtet … Die ‚Grammatik des Zorns Gottes‘ lässt sich daher knapp folgendermassen umreissen: Grundbestimmung des
christlichen Gottesgedankens ist im Anschluss an Johannes 8 und Paulus9 die
Liebe Gottes, die sich nicht deshalb auf die Menschen richtet, weil diese liebenswert wären, sondern die sie überhaupt erst liebenswert macht: Gottes Liebe
ist kreative Liebe. Eifer ist die Weise und Intensität, in der diese Liebe wirkt,
und Zorn ist die Ausdrucksgestalt dieses Eifers der Liebe, wenn diese auf selbstschädigende Nichtachtung bei den Geschöpfen stösst … Ziel des Zorns ist es,
diese Nichtachtung zu beenden und Gottes Liebe zum Menschen in der Gegenliebe des Menschen zu Gott zum Ziel zu bringen … Gottes Zorn ist Manifestation seiner Liebe, nicht das Gegenteil seiner Liebe.“10
In Anknüpfung an frühchristliche Philosophie und im Glauben an den biblischen
Schöpfergott muss nach I. Dalferth sowohl das Gute in der Welt als auch das
Böse in ihr in Relation gebracht werden. Dabei werden Gottes Schöpfung und
ihre Ordnung als das Gute gedacht. Das Böse, für das sich der Mensch auch
immer entscheiden kann, aber nicht soll, will die von Gott geschaffene Ordnung
in ihr Gegenteil verkehren. Gegen diese Verkehrung regt sich der Zorn Gottes,
der sich folgerichtig gegen die Menschen auswirkt, die diese Ordnung stören.
Die von Gottes Zorn betroffenen Menschen sollen so die göttliche Ordnung
wiederherstellen (S. 36–40). I. Dalferth zitiert beispielhaft dafür 5. Mose 6,14f.:
Ihr sollt nicht anderen Göttern nachgehen, von den Göttern der Völker rings um
euch her. Denn ein eifersüchtiger Gott ist der Herr, dein Gott, in deiner Mitte,
dass nicht der Zorn des Herrn deines Gottes, wider dich entbrenne und er dich
vertilge von der Erde.
„Dieser Zorn Gottes“, schreibt I. Dalferth, „gehört zu seinem Herrsein in Israel“
(S. 43).
Alle drei Autoren bewerten den Zorn Gottes positiv und als unverzichtbar. Denn
Gottes Zorn wirke in unserer von ihm gestalteten Geschichte. Für die biblische
8
9
10
I.Dalferth a.a.O.; hier erwähnte der Autor zuvor S.43 aus dem Evangelium des Johannes
3,36: Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn
Gottes bleibt über ihm.
I.Dalferth weist S.43 auf den Römerbrief des Paulus 1,18 hin: Denn Gottes Zorn vom
Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen,
die die Wahrheit in Ungerechtigkeit gefangen halten.
I.Dalferth, a.a.O. S.42. 45–46.
14
Biblischer Zorn – Eine Problemanzeige
Zeit können sich alle drei Autoren auf biblische Aussagen berufen. Aber es fehlt
von ihnen eine Aussage, die veranschaulichen würde, wo Gottes geschichtswirksames Handeln in unseren Tagen zum Tragen kommt. Wo wird Gottes Zorn
in unserer Geschichte als Ausdruck seiner Liebe spürbar?
Es darf dabei nicht übersehen werden, dass die geschichtstheologische Bewältigung der Doppelkatastrophe von 722 v.Chr. (die Zerstörung des Nordreiches
Israel durch die Assyrer) und 585 v.Chr. (die Zerstörung des Südreiches Juda
durch die Babylonier) dazu führte, dass die überlebenden und exilierten Judäer
in Babylon ihre Verwandten des Nordreiches, namentlich deren Könige denunzierten. Denn das, was oben von J. Jeremias als „reife Theologie“ bezeichnet
wird, war die Umkehrung der ursprünglichen Anklage Gottes wie in Klagelied 2
in eine Selbstanklage und vor allem in eine Fremdanklage: die Anklage der verwandten Stämme in Israel und seiner Könige.
Das (erg. die Zerstörung Israels, D.K.) ist aber geschehen, weil die Söhne Israels wider Jahwe, ihren Gott, der sie aus dem Land Ägypten und aus der Gewalt
des Pharao, des Königs der Ägypter, herausgeführt hatte, gesündigt und fremde
Götter verehrt hatten. Sie waren nach den Satzungen der Völker gewandelt, die
Jahwe vor den Söhnen Israels vertrieben hatte. Die Söhne und die Könige Israels, die sie sich gemacht hatten, hatten böse Dinge gegen Jahwe, ihren Gott,
ausgedacht und in allen Orten, vom Wachturm bis zur befestigten Stadt, Höhen
errichtet. Malsteine und Ascheren hatten sie sich aufgestellt auf jedem ragendem Hügel und unter jedem grünen Baum. Sie hatten dort geräuchert wie die
Völker, die Jahwe vor ihnen vertrieben hatte, und hatten schlimme Dinge getan,
so dass sie Jahwe reizten. Sie hatten den Götzen gedient, von denen Jahwe ihnen
gesagt hatte: „So etwas dürft ihr nicht tun!“ 2. Könige 17,7–12.
Diese Deutung stammt aus späterer Zeit. In Ihr spiegelt sich der Alleinverehrungsanspruch des Gottes Jahwe wider. Lange Zeit wurde auch die Sicht, Israel
habe sich vom Gott Jahwe abgewandt und fremden Göttern zugewandt und sie
verehrt, als zutreffend angesehen. Diese Ansicht kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. In den letzten Jahrzehnten wurden Inschriften und ikonographische
Zeugnisse gefunden und ausgewertet, so dass kein Zweifel mehr bestehen kann.
Es war die legitime Situation der Königszeit, dass neben dem Gott Jahwe andere
Götter und besonders Göttinnen verehrt wurden. Inschriften aus vorexilischer
Zeit wurden entdeckt, die den Gott Jahwe mit der Göttin Aschera zusammen
wirken lassen. Eine Inschrift lautet: „Gesegnet war Urijahu vor JHWH. Und von
seinen Feinden hat er ihn durch seine Aschera errettet.“11 Zu dieser Inschrift aus
einer Grabanlage kommen weitere Inschriften aus einem Fundort südlich von
Jerusalem, aus Kuntilet Adschrud. Hier wurden in einer Anlage an einem Handelsweg Vorratskrüge mit Zeichnungen und Beschriftungen entdeckt. Auf einem
Vorratskrug steht: „ … Ich segne euch gegenüber JHWH von Samaria und sei11
Aus einer Grabanlage in Hirbet el-Qom, Grab II, S.271 der in A.12 erwähnten Literatur.
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15
ner Aschera“. Auf einem anderen: „Sprich zu meinem Herrn: Geht es dir gut?
Ich segne dich gegenüber JHWH von Teman und durch seine Aschera. Er segne
dich und behüte dich und sei mit meinem Herrn“.12 Mit dieser überraschenden,
aber wie ganz selbst verständlichen Erwähnung der Göttin Aschera neben Jahwe, die als Segenspenderin und Erretterin gilt, muss man sich vertraut machen.
Unser Glaube besitzt als Fundament das Gebot: Du sollst keine anderen Götter
(Göttinnen) neben mir haben. Ich bin (allein) dein Gott. Da aber tauchen Texte
wie die oben zitierten auf. Sie müssen kompatibel gemacht werden zu dem, was
wir aus den biblischen Texten über Gott wissen. In einem „Arbeitsbuch für proseminaristisches Arbeiten. Altes Testament“, ist zu lesen: „Das wesentliche Anliegen ist es, die Quellen und die in ihnen erörterten und hinter ihnen stehenden
Sachverhalte adäquat zu verstehen und darzustellen.“13 An anderer Stelle schreiben die Autoren: „Dass es in Israel Bilder gab, war der alttestamentlichen Exegese trotz der Zugehörigkeit zur Welt des Alten Orients lange Zeit nicht selbstverständlich.“14
Dies gilt es nun zu korrelieren: Der Gott Jahwe kooperierte in der Königszeit
vor dem Exil ganz alltäglich und wirkungsvoll mit der Göttin Aschera. Doch er
konnte in entscheidenden Kriegen weder sein Königreich Israel noch sein Königreich Juda schützen. Neben den deutenden Texten wie dem aus dem 2. Königsbuch 17 findet man auch solche, die die katastrophalen Ereignisse nüchtern
berichten.
Da zog Pul, der König von Assur, über das Land und Menahem zahlte an Pul
tausend Talente Silber, damit seine Hände mit ihm seien und das Königtum in
seiner Hand gefestigt werde, 2. Könige 15,19.
Menachem ist König von Israel ca. 750–740. Die Hauptstadt von Israel ist Samaria. Von dieser Tributzahlung berichten auch assyrische Quellen.
Tribut erhielt ich von Kustaspi von Kommagene, Rezin von Damaskus, Menahem von Samaria …15
Als die Tributspflicht vom israelitischen König Hosea aufgekündigt wurde, belagerte der König von Assyrien Israel und seine Hauptstadt Samaria, eroberte sie
und führte einen Teil der Bewohner ins Exil.
Unter der Überschrift: Die Eroberung Samarias nach Sargon II., ausführliche
Version, ist im Historischen Textbuch zum Alten Testament (HTAT) zu lesen:
[Die Leu]te von [S]amaria, die mit einem mir [feindl]ichen König [gegenseit]ig
übereingekommen waren, (mir) nicht (mehr) zu dienen [(und?)] Abgaben [nicht
12
13
14
15
Die Texte und Zeichnungen von Hirbet el Qom und Kuntiled Adschrut sind abgedruckt
und werden besprochen, in: O.Keel / Chr.Uehlinger, Göttinnen, S.237–282, speziell
255–257.
S.Kreuzer / D.Vieweger u.a., Proseminar I. Altes Testament. Ein Arbeitsbuch, 1999,
2.Aufl 2005, S.6.
A.a.O. S.181.
Zitiert nach A.Jepsen, Von Sinuhe bis Nebukadnezar, S.166.
16
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(mehr) zu bez]ahlen, nahmen den Kampf mit mir auf. [I]n der Kraft der großen
Götter, meiner Herren, kämpft[te] ich [m]it ihnen [und] 27280 Menschen zusammen mit [ihren] Str[eitwagen] und den Göttern, ihren Helfern, rechnete ich
[als] Beute …16
2. Könige 17,5f beschreibt dies ohne Deutung so:
Darauf rückte der König von Assyrien gegen das ganze Land heran, zog vor
Samaria und belagerte es drei Jahre lang. Im neunten Jahre Hoscheas aber
nahm der König von Assyrien Samaria ein, führte Israel gefangen nach Assyrien
und siedelte sie in Halach, am Habor, dem Flusse Gosana, und in den Städten
der Meder an.
Danach folgen die oben zitierten Verse aus 2. Könige 17,7ff. Sie bieten die Deutung für die geschichtlichen Ereignisse in Israel. Wie das Nordreich seine Niederlage verstand, wissen wir nicht. Aus anderen assyrischen Texten geht aber
hervor, dass der König von Assyrien mit Hilfe seines namentlich genannten Gottes Assur seine Feinde besiegte.17
Ähnlich nüchtern wird auch über den Untergang Judas berichtet:
In jener Zeit zog Nebukadnezar, der König von Babel, herauf, und Jojakim wurde ihm drei Jahre untertan; dann fiel er wieder von ihm ab. Da sandte dieser die
Streifscharen der Chaldäer, 2. Könige 24,1f.
Im Vers 3 folgt die Deutung:
Nur wegen des Zorns Jahwes kam das über Juda, weil er es von seinem Angesicht verstoßen hatte um der Sünden des Manasse willen, nach all dem, was er
verübt hatte.
Der König Manasse hatte getan, was böse ist in den Augen Jahwes. Unter anderem errichtete er dem Baal Altäre und ließ eine Aschera herstellen, 2. Könige
21,2 und 3. Nach Jojakim wurde Jojachin König von Juda. Auch er tat, was böse
ist in den Augen Jahwes, ganz so, wie es sein Vater getan hatte, 2. Könige 24,9.
In einigen Etappen wird dann Juda samt Jerusalem von den Babyloniern eingenommen und zerstört. Vom letzten König Zedekija heißt es Er tat, was böse ist
in den Augen Jahwes, ganz so, wie es Jojakim getan hatte. Denn wegen des Zornes Jahwes ist es so über Jerusalem und Juda gekommen, bis er sie von seinem
Angesicht verstieß, 2. Könige 24,19f. Diese formelhafte Beurteilung zeigt wieder an, dass hier eine Deutung aus einer bestimmten Perspektive vorgenommen
wird. Sachlich beschreibt die Babylonische Chronik das abschließende Ereignis
der Geschichte Judas.
Jahr 7 (598/597), Monat Kislev. Der König von Akkad bot seine Truppen auf
und zog nach Hattu und schlug gegen Juda (sein Lager) auf und nahm die Stadt
am 2. Adar ein. Den König nahm er gefangen. Einen König nach seinem Herzen
16
17
Hg. von M.Weippert, 2009, S.301; dazu weitere Inschriften zur gleichen Eroberung bei
A.Jepsen, a.a.O. S.171f.
A.Jepsen, a.a.O. S.172.