Kommunikation Kanton Bern Staatskanzlei Anlass Medienkonferenz des Regierungsrates Thema Der Sozialbericht 2015 zur Bekämpfung der Armut im Kanton Bern liegt vor Datum Freitag, 11. Dezember 2015 Referent Regierungsrat Philippe Perrenoud, Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern Sehr geehrte Damen und Herren Ich heisse Sie herzlich willkommen zur Medienkonferenz der Gesundheits- und Fürsorgedirektion zur Veröffentlichung des 4. Sozialberichts des Kantons Bern und ich danke Ihnen für Ihr Interesse am Thema Armut. Begleitet bin ich heute von Regula Unteregger, Vorsteherin des Sozialamtes, Pascal Coullery, Generalsekretär, und Yvonne Grendelmeier, Leiterin der Abteilung Grundlagen und Co-Autorin des Sozialberichtes. Es ist das letzte Mal, dass ich als Regierungsrat die Veröffentlichung des kantonalbernischen Sozialberichts bekanntgeben kann, es bietet sich daher an, kurz auf den Weg zurückzublicken, den wir in den letzten rund 10 Jahren mit den verschiedenen Sozialberichten zurückgelegt haben: Als ich 2006 Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern wurde, wussten wir nur wenig über die Armut im Kanton Bern, über ihr Ausmass oder über ihre verschiedenen Formen, und auch die schweizerische Sozialhilfestatistik war noch nicht flächendeckend etabliert. Diese „Wissenslücke“ war umso störender, als die Themen Armut und Sozialhilfe gerade in den Jahren 2006/2007 in der öffentlichen Diskussion auf eine Kosten- und eine Missbrauchsdiskussion reduziert wurden, weil einzelne Missbrauchsfälle aufgetaucht waren und die Fallzahlen in der Sozialhilfe, völlig unabhängig von diesen Missbrauchsfällen, angestiegen waren. Mit dem Aufbau der Sozialberichterstattung wollten wir auf diese Wissenslücke reagieren und Schritt für Schritt ein Instrument für eine solide und sachliche Analyse der wirtschaftlichen Situation der Berner Bevölkerung bereitstellen. Seit 2008 liefern die mittlerweile vier Sozialberichte (2008, 2010, 2012, 2015) eine solche solide Faktengrundlage für die Existenzsicherungspolitik. Die Berichte zeichnen ein umfassendes und differenziertes Bild der Armut und Armutsgefährdung im Kanton Bern, dabei hat sich die Sozialberichterstattung von Bericht zu Bericht weiterentwickelt: Im ersten Bericht erfolgte eine Bestandesaufnahme (Auswertung eines einzelnen Jahres [2006]), der zweite Bericht zeigte erstmals die Dynamik der Armut auf (Zeitreihen ab 2001) Diese Mediendokumentation ist auch online: www.be.ch/medienmitteilungen Medienkonferenz des Regierungsrates vom Freitag, 11. Dezember 2015 und legte den Fokus auf Jugendliche und junge Erwachsene, und der dritte Bericht legte als Regierungsbericht einen Massnahmenplan zur Bekämpfung der Armut vor. Dieses Bild der Zahlen und Fakten wurde in unterschiedlichen Formen (Portraits, Interviews, Dialogtreffen zwischen Politik und Armutsbetroffenen) ergänzt, indem auch immer wieder den armutsbetroffenen Menschen hinter den Zahlen eine Stimme gegeben wurde. Die Politik wurde ebenfalls einbezogen, etwa über die Beratung des dritten Sozialberichtes im Grossen Rat im Herbst 2013 oder auch über die drei Sozialgipfel, die in den Jahren 2009, 2011 und 2013 zu unterschiedlichen Aspekten der Armutspolitik organisiert worden sind. Der nun vorliegende vierte Sozialbericht des Kantons Bern ist ein weiterer Meilenstein auf dem eingeschlagenen Weg der Berner Sozialberichterstattung. Er schliesst in Vielem an die früheren Berichte an: die Definitionen und die Methodik haben sich bewährt und werden beibehalten, die Analysen aus den Steuerdaten werden weitergeführt. Erweitert wurden die Analysen in diesem Bericht mit Auswertungen zu Armutsgefährdung nach Staatsangehörigkeit, Armutsgefährdung nach regionaler Differenzierung, Armutsgefährdung und Erwerbsbeteiligung. Auch neu sind die Vergleiche mit der gesamten Schweiz im Kapitel zur Sozialhilfe. Ganz in der Tradition der ersten Berichte, hat auch der vierte Bericht zudem eine Neuerung zu bieten: Gewisse Informationen, die für die Sozialberichterstattung und die Armutsbekämpfung von Bedeutung sind, konnten anhand der vorhandenen Daten bisher nicht zuverlässig oder gar nicht erhoben werden. Zur Schliessung solcher Datenlücken wurde im Frühjahr 2015 eine breit angelegte telefonische Befragung von Armutsbetroffenen im Kanton Bern durchgeführt, die in den Bericht eingeflossen sind. Diese Erkenntnisse und die neusten Auswertungen der Steuerdaten werden wir Ihnen nun in zwei Kurzreferaten vorstellen, bevor ich dann zu den Schlussfolgerungen kommen werde: Wirtschaftliche Situation/Armut (Referat Pascal Coullery) Befragung (Referat Yvonne Grendelmeier) Schlussfolgerungen von Philippe Perrenoud Ende 2008 – bei der Veröffentlichung des ersten Sozialberichtes – habe ich das Ziel formuliert, die Armut im Kanton Bern innert zehn Jahren zu halbieren. Das Fazit ist schnell gezogen: wie die soeben vorgestellten Ergebnisse zeigen, haben wir dieses Ziel bei weitem nicht erreicht: Die Armuts- und Armutsgefährdungsquoten im Kanton Bern sind in diesem Zeitraum gestiegen, die Einkommen des einkommensschwächsten Zehntels der Bevölkerung sind seit 2001 gesunken. Das sind ernüchternde und alarmierende Ergebnisse. Dies festgestellt, gibt es eine erste Anschlussfrage, die sich fast logisch stellt: Warum ist es in den letzten Jahren nicht gelungen, eine wirkungsvolle Politik der Armutsbekämpfung zu etablieren? Da gibt es zahlreiche Antworten – oder Teilantworten –, die ich Ihnen geben könnte: die Neigung der Politik, kurz- und nicht langfristig zu planen und zu handeln: ich erinnere an den 5.9.2013, als der Grosse Rat innert 2 Stunden zunächst den dritten Sozialbericht zur Kenntnis genommen und dann eine Motion überwiesen hat, die eine Kürzung der Sozialhilfeleistungen um 10% fordert; 2/4 Medienkonferenz des Regierungsrates vom Freitag, 11. Dezember 2015 eine Austeritätspolitik (in den letzten Jahren gab es im Gesundheits- und Sozialbereich Sparmassnahmen von rund 200 Mio. CHF/Jahr) und ein Primat der Finanzpolitik über die Sachpolitik (so sind die Ergänzungsleistungen für Familien in erster Linie aus finanzpolitischen Gründen zurückgestellt worden); die Blockade, die aus der Berner Cohabitation entsprungen ist (ein bürgerlicher Grosser Rat versus einen rot/grünen Regierungsrat) aber auch Finanzkrisen und ein Strukturwandel der Wirtschaft, die nicht geholfen haben. Aber Schuldzuweisungen und Ausflüchte interessieren mich nicht. Vielmehr interessiert mich eine andere Anschlussfrage: Warum muss das Ziel, Armut und Ausschluss in unserem Kanton zu reduzieren, zwingend aufrecht erhalten werden? Die Antwort liegt für mich auf der Hand: Weil Armut ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Mangelnde Chancen armutsbetroffener Erwachsener und Kinder, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ausschluss sind Gefahren für den Zusammenhalt und die Stabilität einer Gesellschaft und können zu hohen Folgekosten in der Zukunft führen. Armutsbekämpfung ist im Interesse aller; um festzustellen, wohin eine verfehlte Integrations- und Sozialpolitik führen kann, genügt ein Blick nach Frankreich, wo seit Jahrzehnten in den Banlieues Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Gewalt den Alltag beherrschen. Dieses Mass an Perspektivlosigkeit kennen wir in der Schweiz (noch?) nicht, aber verschiedene Resultate des 4. Sozialberichtes weisen auf einen zunehmenden Ausschluss gewisser Bevölkerungsgruppen hin: die Intensität der Armut hat zugenommen (grössere Armutsgefährdungslücke); Tendenzen zum Ausschluss grösserer Bevölkerungsgruppen aus der Gemeinschaft haben sich verstärkt (geringere Erwerbsintegration der ökonomisch schwächsten Schichten); die Zukunftsperspektiven gemäss Selbsteinschätzung Armutsbetroffener (rund 60% der Befragten vermuten, dass ihre finanzielle Situation in einem Jahr gleich oder schlechter sein wird; und sogar mit einer 5-Jahres-Perspektive gehen immer noch knapp 40% der Befragten von einem Gleichstand bzw. einer Verschlechterung aus); viele Armutsbetroffener sind geraumer Zeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Diese Indizien müssen ernst genommen werden und führen zu einem doppelten politischen Auftrag: Erstens: Die Präventionsbemühungen müssen weiter verfolgt werden. Kern der Armutspolitik des Regierungsrates ist das Ziel, ökonomisch benachteiligte Personen zu befähigen, ihre Existenz nachhaltig aus eigener Kraft – insbesondere durch Erwerbsarbeit - zu sichern. Mit dem letzten Sozialbericht (2012) legte der Regierungsrat folgerichtig einen Massnahmenplan zur Bekämpfung der Armut im Kanton Bern vor, der den Fokus auf die Armutsprävention legt. Das Reporting dieser Massnahmen zeigt nun, dass Teilerfolge erzielt werden konnten, die Massnahmen aber weitergeführt, optimiert und z.T. ausgebaut werden sollten. Erfolgreich umgesetzt wurde z.B. die Erweiterung des bestehenden Case Managements Berufsbildung für Sozialhilfe beziehende Jugendliche mit Mehrfachschwierigkeiten. Dank einer Betreuungskette können sie bei Bedarf bis zu einer Anschlusslösung nach der Ausbildung begleitet werden. Mit Blick auf jugendliche Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene besteht jedoch auch bei dieser Massnahme ein Entwicklungsbedarf. 3/4 Medienkonferenz des Regierungsrates vom Freitag, 11. Dezember 2015 Entsprechend seinem präventiven Fokus enthält das Massnahmenpaket des Regierungsrates insbesondere Massnahmen für Kinder und Jugendliche – die eine besonders präventive Wirkung versprechen – und Massnahmen zur Förderung der Ausbildung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf – welche die Fähigkeit zur Existenzsicherung stärken: Zweitens: Im Wissen darum, dass selbst die beste Armutsprävention nicht wird verhindern können, dass es auch in Zukunft Armut geben wird, ist im Sinne einer kohärenten Sozialpolitik ebenso wichtig, die bewährten Instrumente der Existenzsicherung, insbesondere die Sozialhilfe oder andere Transferleistungen (wie die Prämienverbilligungen), grundsätzlich zu erhalten, um den sozialen Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen nicht weiter anzuheizen. Die aktuelle politische Diskussion zu den Transferleistungen läuft allerdings klar in eine andere Richtung und hat sich in den letzten rund fünf Jahren spürbar gewandelt: noch in der letzten Legislatur war der Missbrauch der Sozialhilfe das Leitmotiv, e contrario konnte man aber davon ausgehen: wenn kein Missbrauch oder Betrug besteht, ist die Leistung als solche nicht bestritten. Das ist jetzt anders: nun wird das Leistungsniveau per se frontal angegriffen, es wird explizit in Frage gestellt, ob die Sozialhilfe eine Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen soll oder nicht. Kurzfristig bewusst in Kauf zu nehmen, dass sich ganze Bevölkerungsgruppen aus der Gesellschaft verabschieden, heisst bewusst in Kauf zu nehmen, dass längerfristig Aubervilliers und Clichy in die Agglomerationen von Bern, Biel und Thun Einzug erhalten. (Schlussbemerkungen) Diese Diskussion wird – gerade in einer Zeit, in der national Anpassungen der SKOSRichtlinien und im Kanton Bern die Revision des Sozialhilfegesetzes auf der politischen Agenda stehen – eine grosse Herausforderung darstellen, und zwar über meine Amtszeit hinaus. Die Politik ist aufgefordert, diese Diskussion sachlich und unaufgeregt zu führen, oder anders ausgedrückt: als Staatsmänner und –frauen und nicht als Politikerinnen und Politiker zu führen; dies in Anlehnung an Nationalrätin Lisa Mazzone, die in ihrer Eröffnungsrede zur eidgenössischen Legislatur Alcide de Gasperi, Ministerpräsident Italiens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, zitiert hat: «Ein Politiker schielt auf die nächsten Wahlen. Ein Staatsmann schaut auf die nächste Generation.» Zu diesem staatsmännischen Handeln gehört auch eine fundierte Sozialberichterstattung, welche die Themen Prekarität und Existenzsicherung aufarbeitet, eine solide Faktenbasis für sozialpolitische Entscheide und Weichenstellungen liefert und sich darüber hinaus mit Massnahmen der Existenzsicherung auseinandersetzt, sie überprüft und zu ihrer Optimierung beiträgt. Der vorliegende vierte Sozialbericht ist ein weiterer wichtiger Beitrag eines solchen Monitorings, der – dies ist meine Hoffnung – jetzt und in Zukunft gegen den aktuellen Mainstream ankämpft, einzelne Gruppen unterprivilegierter Personen (Working poor ohne Sozialhilfebezug versus Sozialhilfebeziehende oder IV-Rentenbezüger) gegeneinander auszuspielen. 4/4
© Copyright 2024 ExpyDoc