Sommer 2015 Vielfalt– Das Bildungsmagazin Foto: Sommerblut Festival warum wird ein zwölfjähriger Junge ein Jahr lang nicht beschult? Ist es ein tragischer Einzelfall? Eine Verkettung blöder Zufälle? Waren es individuelle (Fehl)entscheidungen innerhalb des Systems Schule? Oder ist es Rassismus? Welche Rolle spielt bei der Nichtbeschulung von Ashgan, dass er ein „Flüchtlingskind“ ist? Schwierig ist das Kind obendrein, seine Eltern kennen sich nicht gut aus und sprechen kaum Deutsch. Wäre diese Geschichte einem deutschen Kind widerfahren? Und wenn wir die Frage mit Ja beantworten, heißt das, dass der Fall Ashgan kein Beispiel für institutionellen Rassismus im Bildungssystem ist? Während wir auf der Suche nach Antworten waren, haben wir Ashgan unterstützt, einen Schulplatz zu finden. Lesen Sie seine Geschichte. Sie ist spannend wie ein Krimi und bitter real. Vielleicht können Sie die Fragen danach beantworten. Ashgans Geschichte, ein Veranstaltung der Kölner Initiative „Schulplätze für alle“ zur Bildungssituation geflüchteter Kinder sowie eine aktuelle Dokumentation über die strukturelle Unterversorgung von Flüchtlingskindern mit Behinderung bilden den Schwerpunkt „Nach der Flucht - Draußen, vor der Schultür“. „Inklusion –schaffen wir!“ ist das Motto einer Kampagne der Elternvereinigung „mittendrin“. Die Kampagne ist eine gute Antwort auf die Behäbigkeit bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die von Brigitte Schumann im Bildungsmaga- zin kommentiert wird: „Alles ist schwer – bevor es leicht wird“. Die Tarifverhandlungen, der Streik der Erzieher_innen und die Schlichtung zwischen Verdi und den Kommunen zeigen auch, unter welchen misslichen Bedingungen pädagogische Fachkräfte in Kitas den Bildungsauftrag umsetzen müssen. In einem Interview vertieft „Vielfalt“ das Thema Arbeitsbedingungen mit einer engagierten Erzieherin. Und dann zeigen wir Ihnen in diesem Bildungsmagazin besonders schöne Porträtaufnahmen des Fotografen Vico Leon. Es sind tolle Menschen, die sich mit ihren – oft auch schmerzhaften – Geschichten in einem Theaterprojekt im Rahmen des Sommerblut Festivals auf die Suche nach „inklusiven Momenten“ begeben haben. Das Stück „Schrei mich an“ zeigt die Wirklichkeit von Armut, Behinderung, Alter und nicht normgerechten Leben und wunderbaren, auch witzigen Begegnungen auf der Bühne. Mit diesen Bildern schickt die Redaktion Sie in die Sommerferien. Auf dass Sie Kraft tanken und Ihren Spaß finden an dem, was Sie tun. Für die Redaktion Mercedes Pascual Iglesias Kitastreik - Was auf der Strecke bleibt Seite 3 Seite 13 Deutsches Schulsystem Etappen einer Wiederbeschulung Seite 5 Kölner Initiative: Recht auf Bildung für Geflüchtete Seite 8 Seite 16 Albert Scherr: Anti-Roma-Rassismus/Forum Inklusive Bildung Seite 18 Aktuelles /2 3 200 Familienzentren gibt es in Nordrhein-Westfalen. Von herkömmlichen Kitas unterscheiden sie sich durch erweiterte Beratungs- und Hilfsangebote für Eltern. Die Sozialwissenschaftlerin Sybille StöbeBlossey von der Universität Duisburg/Essen hat die Nutzung dieser Einrichtungen untersucht. Gerade benachteiligte und einkommensarme Fami- lien können davon profitieren, hat Stöbe-Blossey festgestellt. So bieten manche Zentren neben der Kinderbetreuung auch mehrtägige Ausflüge an. Impfungen, Kleiderbörsen oder Infoveranstaltungen zum Beispiel für günstiges Kochen werden ebenfalls angeboten. Auch preiswertes Haareschneiden für die Kinder ist zuweilen inbegriffen. Eltern werden beim Ausfüllen von Anträgen unterstützt. MitarbeiterInnen von Jobcenter und Arbeitsagentur beraten Mütter, wie sie wieder eine Arbeit aufnehmen können. So wird die Kita vom Betreuungsort zur Beratungs- und Begegnungsstätte. http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2015/report2015-01.pdf Als erster Talentscout geht Suat Yilmaz in Auftrag der Westfälischen Hochschule an Schulen im Ruhrgebiet auf die „Suche” nach jungen Leuten, die das Zeug für ein Studium haben. „Wir wollen so eine Art Rampe sein für die, die vielleicht nicht von sich aus an ein Studium denken“, beschreibt Suat Yilmaz seine hauptberufliche Aktivität. Es geht darum, Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen - wie etwa Geflüchteten - Ängste zu nehmen und sie bei den ersten Schritten ins Hochschulleben zu begleiten. Jetzt will die NRW-Landesregierung weitere Talentsucher finanzieren: An sieben Hochschulen werden Experten eingestellt, die in Schulen gehen, Eltern besuchen und beraten – unter anderem auch zum Bafög-Antrag. Auch FörderschülerInnen sollen so unterstützt werden. Das Programm soll laut Wis- senschaftsministerin Svenja Schulze soziale Schieflagen ausgleichen und Hürden auf dem Weg in die Hochschulen abbauen. Weiterführende Infos zum Talentscouting-Programm unter www.wissenschaft.nrw.de/studium/informieren/talentscouting. Das „Netzwerk Willkommenskultur Köln“ will bürgerschaftliches Engagement vernetzen und in Kooperation mit hauptamtlichen Beratungsstellen unterstützen. Dafür bietet die vom Verein „wir hel- fen“ des Kölner Stadt-Anzeigers finanzierte Website „wiku-koeln.de“ eine Plattform. Dort finden Interessierte unter anderem Termine für Austauschtreffen und eine Veranstaltungsreihe für Freiwillige und Initiativen. Denn „Helfen muss geschult werden“, erklärt Joachim Ziefle, Studienleiter der Melanchthon-Akademie in Köln. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Aktuelles /3 NACHLESE ZUM KITASTREIK Dagmar Hagmann, 47, ist Erzieherin in einer Kita in Köln-Ehrenfeld. „Vielfalt“ traf sie am Rande des Demonstrationszugs der Streikenden kommunaler Tageseinrichtungen zum Kölner Rathaus und erkundigte sich nach ihrer Situation: Warum haben Sie gestreikt? Es geht um eine Aufwertung unseres Berufs – und nicht nur eine Aufwertung mit mehr Geld. Das heißt: Wir brauchen mehr Anerkennung und wollen in unseren pädagogischen Anliegen ernst genommen werden. Das gesellschaftliche Bewusstsein, wie wichtig unsere Arbeit ist, ist ja mittlerweile da: wie wichtig gerade die ganz frühen Eindrücke für Kinder sind. Nur die Arbeitsbedingungen sind nicht so, dass gute Leute wirklich ein Interesse daran haben, diesen Beruf zu ergreifen, in diesem Beruf zu bleiben und gute Arbeit zu tun. Womit sind Sie denn vor allem unzufrieden? Ich bin damals aus großer Begeisterung und mit großem Idealismus Erzieherin geworden. Aber schon seit langem denke ich: Das will ich nicht bis an mein Lebensende tun, denn das, wofür ich ausgebildet worden bin, kann ich in der Praxis meistens gar nicht umsetzen. Die besteht oft einfach in der Verwaltung des Notstands. Wie sieht dieser Notstand aus? Zu dritt mit zwanzig Kindern sind wir in der Realität ganz selten. Unser Team besteht aus sechzehn Mitarbeitenden. Aber real sind oft nur acht anwesend. Dazu kommt, dass unsere Arbeit ja auch Vor- und Nachbereitung erfordert – was dann leider oft als erstes gestrichen wird: Dokumentationen, Elterngspräche, gemeinsame Planung im Team, mit ko- VICO: ICH ERZÄHLE EUCH EINE GESCHICHTE, DIE NICHT VERGESSEN WERDEN DARF. operierenden Schulen und Therapeutinnen und Therapeuten, alles Zeiten, die wir außerhalb der Kindergruppe brauchen, um allen berechtigten Anforderungen an eine gute Arbeit für Kinder und Familien gerecht zu werden. Dazu kommen noch Fortbildungen und Urlaubstage, all das müsste im Personalschlüssel berücksichtigt werden. Wir haben einfach zu große Kindergartengruppen. In unserer Gruppe waren bisher zwanzig Kinder von zwei bis sechs Jahren. Dabei waren auch zwei Kinder, die in eine integrative Gruppe gehört hätten. Das ist dann auch irgendwann anerkannt worden. Aber dieser Vielfalt – Das Bildungsmagazin Aktuelles /4 Prozess zieht sich ja unter Umständen zwei Jahre lang hin. Wir waren zu dritt, aber nicht zuletzt durch diese Arbeitsbedingungen sind die Kolleginnen häufig erkrankt. Um welche Krankheiten geht es vor allem? Ich hatte über viele Jahre hinweg mehrmals jährlich eine Gürtelrose – das war mein Schwachpunkt, und das ist ja eine Erkrankung, die auftritt, wenn man nervlich nicht mehr kann. Wissen Sie, woran die Kolleginnen und Kollegen vor allem erkranken? Das ist sehr unterschiedlich. Ich finde es traurig, dass einem der Körper auf diese Art und Weise eine Grenze aufzeigen muss. Wie wirkt sich das auf die Kinder aus? Es bedeutet, dass man nicht immer zuverlässige Bezugspersonen in der Gruppe hat, weil durch Krankheit so viel vertreten werden muss. Dann lastet zu viel Druck auf den Kolleginnen und Kollegen, und der landet letzten Endes – ganz gleich, wie professionell man ist – auch bei den Kindern. Arbeit in kleineren Gruppen, in denen Kinder gezielter gefördert und wahrgenommen werden können, fällt aus. Wie merken Sie das den Kindern an? Man merkt immer an den Kindern ganz wunderbar, wie es einem selber geht. Also wenn es mir gut geht, dann geht es auch den Kindern gut. Dann strahle ich natürlich eine ganz andere Ruhe aus. Die eigene Unruhe überträgt sich unweigerlich – Kinder haben ganz feine Antennen. Und letzten Endes fördern wir Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern. Wer in der Gruppe für Stress sorgt, bekommt Aufmerksamkeit. Wie ist denn die Zusammensetzung in Ihrer Kita? Wir haben ein sehr heterogenes Umfeld. Die Kinder kommen aus vielen verschiedenen Ursprungsländern. Wir haben sowohl alleinerziehende Mütter mit drei Kindern, die in Nachtschicht arbeiten und morgens völlig übermüdet ihre Kinder bringen, wir haben aber auch Eltern, die mit ihren Kindern in schicken Eigentumswohnungen leben. Wie sieht Ihr Alltag aktuell aus? Wir haben auch eine reine Unter-3-Gruppe. Da bin ich im Moment sozusagen als Dauervertretung eingesetzt, weil wir versuchen, zumindest in dieser Gruppe Kontinuität zu wahren. Unsere Räume sind leider auch zu klein, und wir haben nur einen Wickeltisch – da stehen wir dann Schlange, das kostet zusätzlich Zeit. Wie wirkt sich das auf Ihre persönliche Situation aus? Ich habe immer das Gefühl, ich renne mit einem Gießkännchen herum und versuche einen Großbrand zu löschen. Also ich kann auf die Bedürfnisse der Kinder oft gar nicht wirklich eingehen – ihr Bedürfnis, gehört und gesehen zu werden, wahrgenommen zu werden. Und sie verbringen ja oft neun Stunden am Tag in der Kita, 45 Stunden in der Woche, mit bis zu 25 Kindern plus bis zu vier Erwachsenen die meiste Zeit in einem Raum. Das ist Stress für alle! Von welchen Bedürfnissen sprechen Sie konkret? Dass einfach jemand da ist, der mitbekommt, wie es dem Kind heute geht: ist es glücklich, ist es traurig? Ich kann nicht in Ruhe mit einem Kind ein Gespräch führen oder mit einem Kind kuscheln, wenn das andere gerade eine frische Windel braucht oder ein Streit eskaliert. aus? Mittlerweile kann ich wieder Vollzeit arbeiten, davon kann man einigermaßen leben. Die Jahre in Teilzeit bedeuteten für mich Dauer-Existenzkrisen, wo mich jede Schulbuchrechnung über zwanzig Euro in Panik versetzte, und jede Fünfzig-EuroRechnung war geradezu eine Katastrophe. Die Heizölnachzahlung habe ich über ein Jahr hinweg abgestottert. Momentan komme ich mit meinem Gehalt aus. Allerdings kann ich mir die Mieten in Köln nicht leisten. Ich arbeite hier, wohne aber in der Eifel. Alles, was ich hier hätte bekommen können, wäre feucht, dunkel oder mit Durchgangszimmern gewesen, was mit einem halbwüchsigen Sohn wirklich nicht geht. Was versprechen Sie sich von verbesserten Arbeitsbedingungen? Vor allen Dingen ein gelassenes, positives Miteinander. Denn wenn ich nur noch überforderte Kolleginnen habe, dann sprechen die natürlich nicht so freundlich mit den Kindern, als wenn es ihnen selber gut geht. Dann entsteht natürlich auch mehr Freude am Austausch, als wenn man als Kind froh ist, dass diese überforderte alte Ziege einen bloß in Ruhe lässt und man sich ein stilles Eckchen sucht, aus dem man gar nicht zurückkehren will. Die Kinder lernen ja auch viel vom Vorbild, und wenn sie von mir erleben, dass ich sie tröste, dass ich ihnen zuhöre, dass ich nicht über ihre Gefühle hinweggehe und nicht sofort etwas von ihnen verlange, wenn sie gerade noch etwas zu Ende bringen wollen, dann werden sie genauso mit Nachsicht und mit Freundlichkeit auf die anderen Kindergartenkinder reagieren. Darum sind Erzieherinnen und Erzieher, denen es gut geht, die besten Pädagogen, denn all das potenziert sich in so einer Kindergartengruppe, und das ist es, was wir ihnen mitgeben auf ihren Lebensweg. Wie sieht Ihre eigene wirtschaftliche Situation Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /5 SHERVIN: DU HAST SCHON IMMER GEWUSST, DASS AUSLÄNDER HIER NICHT HINGEHÖREN – ABER ICH MUSS DIR SAGEN, ES KOMMEN IMMER MEHR. Am 23. April erfährt die Initiative „Schulplätze für alle“ von der Situation eines geflüchteten Jungen, der seit fast einem Jahr keinen Schulplatz mehr hat. Ein Novum. Bisher wurde an die Initiative herangetragen, dass neu nach Köln gezogene nichtdeutsche Kinder Wochen bis Monate auf einen Schulplatz warten mussten. Dass ein Schulplatz verloren gehen kann, hat die Initiative noch nicht erlebt. DIE AKTEURE Die Eltern dieses Kindes. Sie sind fassungslos, dass ihr Kind nach sechs Tagen Schule im August letzten Jahres der Schule verwiesen wurde und im April dieses Jahres immer noch keinen neuen Schulplatz hat. Sie reden mit Bekannten darüber, suchen aktiv nach Hilfe in Beratungsstellen – und sie setzen sich ein. Natascha Fröhlich. Sie hilft einem geflüchteten Schulkind als Mentorin. Von den Eltern „ihres“ Patenkindes hört sie von diesem anderen Kind ohne Schulplatz – und sie setzt sich ein. Farima Flaig-Sadeghi von der Kölner Initiative „Schulplätze für alle“. Sie arbeitet für die Integrationsagentur der AWO Mittelrhein. Hier kommt der Anruf von Frau Fröhlich auf der Suche nach Hilfe an. Flaig-Sadeghi spricht mit den Eltern und dem Zwölfjährigen, sichtet Amtsbriefe und wendet sich an Wolfgang Blaschke von der Elterninitiative mitten- drin e.V. – und beide setzen sich ein. Vielfalt – Das Bildungsmagazin schildert die Etappen, bis Ashgan in einer Kölner Schule endlich willkommen geheißen wird. ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND MAI 2014 Ashgan ist 12 Jahre alt und besucht eine Teheraner Privatschule, als er im Mai 2014 mit seiner Mutter aus dem Iran nach Deutschland flüchtet. Sein Vater Babak Soleymani ist ein Jahr zuvor nach Deutschland gekommen und nach nur wenigen Monaten als politisch Verfolgter anerkannt worden. Damit hat die ganze Familie eine gute Grundlage, um in Deutschland dauerhaft Fuß zu fassen. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /6 Die Zuweisung von Ashgan zu einer Schule erfolgt recht bald. Nach der obligatorischen Untersuchung des Gesundheitsamtes soll er eine Kölner Realschule im bürgerlichen Stadtteil Sülz besuchen. Allerdings erst zum neuen Schuljahr, um den Unterricht nicht zu stören und dem Jungen einen guten Neustart zu ermöglichen, lautet die Begründung der Schule. Bis dahin gibt es keine Freizeitbetreuung und keinen Sprachkurs für den Jungen. 16 Wochen, davon 6 Wochen Ferien, vergehen ohne Anschluss an andere Kinder, ohne Vorbereitung auf die deutsche Schule und ohne Sprachkurs. ERSTER SCHULTAG, 20. AUGUST 2014 Ashgan versteht nichts an seinem ersten Schultag in der Realschule. Er ist zwar anwesend, kann aber nicht teilnehmen. Er fühlt sich unwohl und unter Druck. Ein Sprachlernprogramm für Kinder, die neu Deutsch lernen und auch die lateinische Schrift erlernen müssen, scheint es an seiner Schule nicht zu geben. Seine Klassenlehrerin versteht er überhaupt nicht. SCHULAUSSCHLUSS, 28. AUGUST 2014 Sechs Schultage später erhalten die Eltern ein Schreiben der Schule mit der Information, dass ein schulärztliches Gutachten bevorstünde, da Ashgans Verhalten während dieser sechs Tage sehr auffällig gewesen sei. Außerdem wurde „aufgrund des hohen Gefährdungspotentials“ unverzüglich der „vorläufige Ausschluss vom Schulbesuch“ angeordnet. Begründet wird dieser sofortige Ausschluss des Jungen mit einem unkontrollierten und unberechenbaren Verhalten, das sich durch Teilnahmslosigkeit und „spontane körperliche Zuckungen“ zeige. Er schlage andere Schüler und fasse „besonders weibliche Lehrkräfte an Haaren und Körper“ an. Das klingt schlimm! Aber ist es die Wahrheit? Ashgan bestreitet die Vorwürfe. Die Eltern sind schokkiert und wollen genau wissen, was vorgefallen ist. Sie möchten mit der Lehrerin und am besten noch mit den anderen Schülern sprechen. „Ich wollte mir ein eigenes Bild machen“, sagt der Vater. „Aber die Schulleitung ist nicht darauf eingegangen. Und weil ich wenig Deutsch spreche, war es für mich schwer mich zu verständigen.“ Ein Gespräch zwischen Eltern und Schule findet nicht statt. Es gibt auch keine dokumentierte Beobachtung durch eine weitere Lehrkraft, von der die Eltern erfahren hätten. Der schulpsychologische Dienst wird nicht beauftragt, sich des Jungen anzunehmen. Es wird keine Integrationshilfe beantragt. Und mit dem Jungen spricht aufgrund der Sprachbarrieren auch keiner. Fragen wie: Was ist los mit dem Jungen? Was hat er auf der Flucht erlebt? Wie hat er als Sohn eines politisch Verfolgten im Iran gelebt? Musste er sich verstecken? Wie hat er die Trennung vom Vater verkraftet? Ist er möglicherweise krank? Gar traumatisiert? bleiben unbeantwortet. Was mit ihm los ist, scheint nicht zu interessieren. Ashgan ist raus aus der Schule. Von nun an wird ihn dieser vernichtende Eintrag in seiner Schulakte begleiten. VERMUTUNG SONDERPÄDAGOGISCHER FÖRDERBEDARF, 8. OKTOBER 2014 Mehr als sechs Wochen nach seinem Schulausschluss erstellt die Schulleitung unter Mitwirkung der Lehrkraft, die Ashgan gerade mal fünf Tage unterrichtet hat, einen Antrag zur Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs. Angekreuzt sind alle Förderschwerpunkte außer Sehen und Hören. Das heißt, die Schulleitung geht von einer Lern- und Entwicklungsstörung in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotionale Entwicklung aus. Angekreuzt sind im Fragebogen zudem die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung und körperliche Entwicklung. Das ist viel, aber auch unspezifisch. Ob es konkretere Schilderungen über das Verhalten ihres Sohnes gibt, erfahren die Eltern nicht. Sie suchen Hilfe beim Jugendamt, versuchen ihren Sohn sogar selbst in einer Kölner Förderschule anzumelden, was ihnen nicht gelingt, und melden ihn zur psychologischen Diagnostik in der Uniklinik Köln an. Am 19.11.2014 ist die Diagnostik erstellt und geht an die Bezirksregierung Köln. ERMITTLUNG DES BEDARFS AN SONDERPÄDAGOGISCHER UNTERSTÜTZUNG, 16.12.2014 Knapp einen Monat braucht die Bezirksregierung, um den Eltern anzukündigen, dass ein Verfahren eröffnet wurde, um festzustellen, „wie Ihr Kind zukünftig besser gefördert werden kann“. Die Eltern sollen sich für Gespräche bereithalten. Der Amtsbrief endet mit dem Satz: „Die Überprüfungen, Gespräche und Entscheidungen nehmen Zeit in Anspruch. Ich bitte deshalb um Verständnis, falls das geschilderte Verfahren etwas länger dauern sollte.“ SCHULÄRZTLICHE UNTERSUCHUNG, 22. JANUAR 2015 In der dritten Januarwoche 2015, also 21 Wochen nach dem Schulausschluss, soll ein schulärztliches Gutachten darlegen, ob der Verbleib von Ashgan in der Schule „eine konkrete Gefahr für die Gesundheit anderer bedeutet“. Diese Entscheidung kann laut Schulgesetz zwar bei Gefahr im Verzuge von einem Schulleiter oder einer Schulleiterin getroffen werden, allerdings nur vorläufig (§54 Abs4 SchulG NRW). SCHULÄRZTLICHES GUTACHTEN, 13. FEBRUAR 2015 „Aus schulärztlicher Sicht sollte der Junge adäquat, gemessen an seinen kognitiven Fertigkeiten, beschult werden.“ Auf die Frage, „für welchen Zeitraum eine reguläre Beschulung ggf. nicht möglich ist“, kommt der Gutachter zu dem Schluss: „Aus kinder- und jugendärztlicher Sicht ist die reguläre Beschulung, sofern sie an den besonderen Förderbedarf angepasst ist, ab sofort möglich.“ Erstmals begründet ein Amt in diesem Schulausschlussverfahren die „zeitliche Verzögerung“: Die Familie sei „zwischenzeitlich umgezogen und war deshalb nicht erreichbar“. Das stimmt – aber auch nicht ganz. Die Familie ist am 1. November 2014 umgezogen und hat der Schulbehörde die neue Adresse mitgeteilt, wie aus der amtlichen Post hervorgeht. Einmal, so erinnert sich der Vater, war sogar eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt mit einer Dolmetscherin bei der Familie, um nach dem Jungen zu sehen. HILFERUF AN DIE INITIATIVE SCHULPLÄTZE FÜR ALLE, 22. APRIL 2015 Fast ein Jahr ist zwischen der Ankunft von Ashgan in Deutschland und dem Kontakt zur Initiative vergangen. Während seine Eltern einen Deutsch- und Integrationskurs besuchen, sitzt Ashgan alleine und isoliert in der kleinen Wohnung. Er traut sich nicht mehr vor die Haustür und hat Angst vor den Nachbarskindern. GESPRÄCH MIT DER BEZIRKSREGIERUNG, 29. APRIL 2015 Nur wenige Tage, nachdem sich die Initiative und der Elternverein „mittendrin“ bei der Bezirksregierung melden, kommt es zum Termin. Im Gespräch wird von Seiten der Bezirksregierung ein Versäumnis der Realschule und möglicherweise auch des Schulamtes eingeräumt. Die Bezirksregierung schien überrascht über Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /7 diesen Fall und dessen Verlauf gewesen zu sein, schildert Wolfgang Blaschke von mittendrin e.V. seine Eindrücke von dem Gespräch mit der Bezirksregierung. „Ich glaube schon, dass es öfter zu solchen Ausschlüssen kommt. Aber bis es bei der Schulaufsicht landet, dauert das.“ Am Ende des Gesprächs verspricht der Vertreter der Bezirksregierung der Familie, dass sich das Schulamt spätestens am nächsten Tag mit einer neuen Schule für Ashgan melden werde. Schnell wolle man sich um eine Lösung bemühen, damit der Junge schnellstmöglich einen neuen Schulplatz in einer Seiteneinsteigerklasse erhalte. TELEFONAT MIT DEM SCHULAMT 5. MAI Fast eine Woche nach dem Gespräch mit der Bezirksregierung vergeht, bis sich das Schulamt auf Drängen der Initiative hin meldet und erklärt, es würde eine Hauptschule mit Vorbereitungsklasse für ausländische Seiteneinsteiger gesucht. Von besonderer Förderung, kleiner Gruppe, angemessener Beschulung ist nicht mehr die Rede. Dafür aber kernige Vorwürfe an die Adresse der Eltern und des Jungen. Die Eltern hätten schließlich ein ganzes Jahr gebraucht, um den Weg zum Schulamt zu finden, da könne nicht erwartet werden, dass von einem Tag auf den nächsten ein Schulplatz für den Jungen organisiert werden könne. Der Junge „sei ja sogar handgreiflich geworden“. Nun sei es an den Eltern, dafür zu sorgen, dass der Junge auch pünktlich und vor allem regelmäßig in der Schule erscheine, so das Schulamt weiter. RHONDA: MENSCH, SCHREI MICH AN. MEINE OHREN DIE BESCHULUNG, 08. MAI 2015 Auch die Leitung von Ashgans neuer Schule äußert am Telefon sogleich Bedenken, ihn aufzunehmen. Er habe ja schon in der anderen Schule Ärger gemacht: „Wir haben Schulregeln, an die muss sich jeder Schüler halten.“ Von ihrer Absicht, dem Jungen zunächst die Schulregeln einzuimpfen, bevor er überhaupt in eine Klasse kommt, nimmt sie Abstand, als sie mehr von der ganzen Geschichte hört. Das Erstgespräch zwischen den besorgten Eltern, dem verängstigten Jungen, der zukünftigen Klassenlehrerin und der Schulleitung entwickelt sich freundlich. Die Schulleiterin spricht mit Ashgan und Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /8 • Kann er es jetzt an dieser Schule ohne individuelle Hilfe noch schaffen? Schaden verantwortlich und wer kommt dafür auf? Es bleibt der fade Geschmack zurück, dass die Akteure, die – und das wäre genau zu prüfen – verantwortlich sind, keine Konsequenzen aus der Nichtbeschulung ziehen werden, oder gar für sich fürchten müssen. Während Eltern beim unerlaubten Schulfehlen ihrer Kinder mit Bußgeldern bestraft werden, gibt es keinen Passus im Schulgesetz, dass bei amtlicher Schulverweigerung ein Schadenersatz gezahlt werden muss. Allerdings steht im Schulgesetz NRW, dass „Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter verpflichtet sind, Schulpflichtige, die ihre Schulpflicht nicht erfüllen, zum regelmäßigen Schulbesuch anzuhalten“. • Welcher Schaden ist entstanden? Wer ist für diesen *Die Namen der Familie sind der Redaktion bekannt. erlaubt eingereiste Ausländer auf die Bundesländer verteilt werden sollen. Diesen Kindern wird der Schulbesuch in Köln verwehrt. Allein aus der Herkulesstraße sind der Initiative „Schulplätze für alle“ 33 Kinder bekannt, die dringend einen Schulplatz brauchen. Dazu gehören die Geschwister Fatbardh und Isni, 16 und 17 Jahre alt, die seit dem 7. Mai 2014 in Köln leben, ebenso wie Enis (12), Zejnebe (10) und Ebubeker (6) - sie sind schon im September letzten Jahres in Köln angekommen. Freiwillige Betreuungsangebote studentischer Hilfskräfte von einigen Stunden täglich, so Pascual Iglesias, bieten keinen angemessenen Ersatz für Schule und Kita. Dabei haben alle Kinder, selbstverständlich auch geflüchtete, laut der UNKinderrechtskonvention das Recht auf Bildung! die Zuweisung - manchmal um viele Monate -, besuchen die Kinder in dieser Zeit keine Schule. Denn die zuständigen Behörden in Köln: das Schuldezernat, das Kommunale Integrationszentrum, das Schulamt, die Bezirksregierung, orientieren sich bei der Schulplatzvergabe nach der Schulpflicht, nicht aber am Recht auf Bildung. Das muss so nicht gehandhabt werden. Daher fordert die Initiative „Schulplätze für alle“ umgehend Abhilfe. Für die Initiative steht fest: Auch wenn die Schulpflicht nach dem NRW-Schulgesetz aufgrund noch nicht beendeter aufenthaltsrechtlicher Verteilungsprozesse nicht greifen sollte, haben auch diese Kinder das Recht auf einen Schulplatz. Den sichert ihnen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) zu. In Artikel 28 Absatz 1 a) heißt es: „Die Vertragsstaaten [...] werden [...] den Besuch der Grundschule für alle zur Pflicht und unentgeltlich machen.“ Artikel 28 Absatz 1b schreibt fest, die weiterführende Schule „allen Kindern verfügbar und zugänglich“ zu machen. heißt ihn an ihrer Schule willkommen. An ihrer Schule sei jeder Schüler wichtig. Ashgan geht nach dem Gespräch in seine neue Klasse zum Unterricht, und die Eltern dürfen sogar hospitieren. Als es zur Pause läutet und die anderen Kinder Ashgan mit nach draußen nehmen, sind die Eltern „das erste Mal seit einem Jahr erleichtert und nicht mehr in Sorge um unseren Sohn“. sich wenden sollen.“ Problematisch ist ebenso, dass die einzelnen Einrichtungen nicht zusammenarbeiten. „Jugendamt und Schule, das sind zwei verschiedene Welten.“ ES BLEIBEN FRAGEN, SORGEN - GEDANKEN Die Schulgeschichte Ashgans ist noch nicht zu Ende. Die Initiative „Schulplätze für alle“, der Elternverein „mittendrin“, haben lediglich das erreicht, was ein selbstverständliches Mindestmaß sein müsste: die Beschulung eines schulpflichtigen Kindes. „Eltern blicken bei unserem System nicht durch“, erklärt Blaschke. „Sie wissen oftmals gar nicht, an wen sie • Welche Folgen hat die einjährige Nichtbeschulung des Jungen für seine Schulkarriere, für sein Selbstbewusstsein, für seine psychische Gesundheit, für seine gesellschaftlichen Teilhabechancen? • Ist Ashgan ein Einzelfall? Wie vielen Kindern von Flüchtlingen und anderen Einwanderern ergeht es ähnlich? Wie leicht fallen gerade sie durch die Maschen eines offenbar lückenhaften Systems? ERFAHRUNGSAUSTAUSCH UND FORDERUNGEN 74 Frauen und Männer hatten sich auf Einladung der Initiative „Schulplätze für alle“ Ende Mai im Kölner Domforum eingefunden, um gemeinsam die Bildungssituation junger Geflüchteter in Köln zu erkunden und Konsequenzen zu erörtern. Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher_innen, Sozialarbeiter_innen, Studierende und einfach Interessierte waren dabei, und auch das Bildungsmagazin „Vielfalt“. Mercedes Pascual Iglesias von der Integrationsagentur der AWO Mittelrhein hielt das Eingangsreferat. 6 100 geflüchtete Menschen, berichtete sie, sind derzeit in kommunalen Einrichtungen der Stadt Köln untergebracht. Wie viele von ihnen im Schulalter sind oder Anspruch auf einen Kitaplatz bzw. eine Tagesbetreuung haben, ist unbekannt. Dieser Bildungs- und Betreuungsbedarf wird nicht ermittelt. Das Flüchtlingswohnheim in der Herkulesstraße gilt offiziell als Notunterkunft. Doch anders, als der Begriff vermuten lässt, leben viele Familien länger als drei Monate in der Herkulesstraße. Häufig sind es Familien, die nach §15a Aufenthaltsgesetz als un- WIE KOMMT ES ALSO, DASS KINDERN IN KÖLN SCHUL- UND KITAPLÄTZE VERWEIGERT WERDEN? Nach dem Schulgesetz von NRW gilt für die Kinder von Asylbewerbern erst dann die Schulpflicht, wenn sie einer Kommune zugewiesen sind. Verzögert sich Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /9 MAHMUT: MEIN TRAUMBERUF, ABER GEHÖRLOSE MENSCHEN NEHMEN SIE NICHT. Pascual Iglesias nannte Gründe für die oft lange Dauer der Zuweisung Geflüchteter an einen Wohnort: Die Bezirksregierung Arnsberg ist zuständig für die Zuweisung von Flüchtlingen. Mehr Flüchtlinge bedeuten mehr Arbeit, und so kommt es zu längeren Verweildauern in den Notunterkünften der Städte. Zum anderen legen manche Eltern gegen Zuweisungen in ein anderes Bundesland Rechtsmittel ein. Oder Krankheiten, die Geburt eines Kindes, familiäre Verwurzelung, aber auch eine gute rechtliche Betreuung bringen Flüchtlingsfamilien dazu, nicht aus Köln weggehen zu wollen. Nach diesem Input gruppierten sich die Teilnehmenden an vier Tischen zum „Weltcafé“, tauschten eigene Erfahrungen aus und entwickelten Forderungen an die Kommune, die Landes- und Bundesregierung. In der Bestandsaufnahme gab es unter anderem folgende Beobachtungen: Grundsätzlich braucht es mehr Hilfen zur Verständigung. Dafür fehlt es an Mitteln und Personal. Besonders schwierig sei die Kommunikation, wenn Familien in Hotels untergebracht sind. Dort gibt es oft gar keine Kontaktperson für Willkommensinitiativen und engagierte Menschen. Rasch wurde es an den Gruppentischen sehr konkret: Manche Eltern, berichtet eine Teilnehmerin, bekommen zwar vom Kommunalen Integrations- zentrum einen Termin für den Gesundheitscheck ihres Kindes, schaffen es aber nicht, ihn wahrzunehmen. Das kann eventuell daran liegen, dass sie nicht lesen können oder nicht wissen, wie sie zum Gesundheitsamt kommen. „Da braucht es also mehrsprachige Informationen an den Orten, wo die Geflüchteten untergebracht sind. Nötig sind informierte Ansprechpartner und geschulte Begleiter“, bemerkt Kornelia Meder, Leiterin des Antidiskriminierungsbüros der Caritas Köln. Eine Lehrerin berichtet: „Bei uns findet der Gesundheits-Termin in der Schule statt. An zwei Vormittagen sind die Ärzte vor Ort. Ich weiß nicht, warum das nicht überall so funktioniert.“ Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /10 LERNHEMMUNGEN? „Was mich vor allem stört: Es gibt keine richtigen Erhebungsverfahren um festzustellen, welche Leistung ein Kind gegenwärtig bringen kann – ist es kognitiv altersentsprechend entwickelt? Hat es eventuell eine Lernhemmung aufgrund von Fluchterlebnissen? Im Endeffekt muss ich aber sagen: Die Kinder schaffen es, sich gut zu integrieren. Die sozialen Regeln zwischen den Kindern erfassen sie sehr schnell. Meistens lernen sie die Sprache innerhalb von drei bis sechs Monaten recht gut. Allerdings müssen sie dann oft als Dolmetscher für ihre Eltern dienen.“ Anja Gurk, Nachmittagsbetreuung Gemeinschaftsgrundschule Zwirnerstraße Eine Teilnehmerin erzählt: „Ich habe schon monatelanges Hickhack erlebt, weil das Schulamt sagt: der bleibt jetzt da, die Schule aber sagt: der bleibt nicht da!“ Eine andere: „Es gibt Schulen, in denen die Kinder extrem lange in Seiteneinsteigerklassen verharren.“ Und: „Das System der internationalen Förderklassen ist weder ausgereift noch individualisiert. Manche Kinder werden nach einer gewissen Zeit in normale Klassen integriert, obwohl sie noch gar nicht auf dem Level sind, das zu stemmen – es passiert aber auch das genau Entgegengesetzte.“ Außerdem wird bemängelt: „Für Deutsch als Zweitsprache gibt es kein einheitFür EIN ANDERES, EIN INKLUSIVES SCHULSYSTEM wirbt Klaus Adrian, pensionierter Lehrer und aktiv in der Willkommensinitiative Moselstraße: „Ich glaube, wenn das deutsche Schulsystem wirklich irgendwann Inklusion ernst nimmt, löst sich das Problem von selbst. Denn wenn man inklusiv sein will, dann hat man auch die nötigen Strukturen und die personellen und finanziellen Ressourcen, um Flüchtlinge zu integrieren - das ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir haben ein hochgradig selektives Schulsystem. Wir haben ein defizitorientiertes Schulsystem. Wir gucken immer, was der eine oder andere nicht kann und warum er nicht ins Gymnasium oder nicht in die Realschule passt. Und dann schulen wir ihn ab. Und da haben natürlich alle Flüchtlinge, die nicht Deutsch können, ein Riesen-Problem. In Schweden habe ich Folgendes erlebt: Mathematikunterricht in einer achten Klasse. Da saßen zwei Flüchtlingskinder in einer Ecke mit einem Dolmetscher. Sie konnten dem Unterricht wunderbar folgen. Was machen wir? Weil sie nicht Deutsch können, landen die im Zweifelsfalle nicht da, wo sie hingehören. Hier wird oft nach Alter sortiert. Alter ist aber kein Indiz für Qualifikation.“ liches System.“ – „Viele Lehrkräfte werden ins kalte Wasser geworfen, sind kaum vorbereitet.“ Farima Flaig Sadeghi weist auf eine völlig vernachlässigte Flüchtlingsgruppe hin: „Jugendliche zwischen 16 und unter 18 fallen komplett durchs Raster.“ Auch Über-18-jährige sollten wie bereits in Bayern Berufsschulen besuchen dürfen. Angesprochen wird auch das Thema Mobilität: Wie kommen die Kinder in die Bildungseinrichtungen? Ist das organisiert, wie erfahren sie das? Problematisch seien zuweilen auch lange Schulwege. Manche Kinder fahren länger als eine halbe Stunde durch die Stadt. Für kleinere Kinder sei es noch schwieriger, in deutschen Bildungseinrichtungen zu landen als für diejenigen im Schulalter: „Was gar nicht gut funktioniert, ist, Kitaplätze zu finden. Es wird eine Meldebescheinigung für das Kind verlangt – ein Unding!“ Erwähnt werden aber auch positive Beispiele. So hat die Caritas in Leverkusen eine Sprachgruppe eingerichtet, zu der die fünf- bis sechsjährigen Flüchtlingskinder mit einem Bully im Heim abgeholt werden. Sie bekommen dann eine alltagsintegrierte Sprachförderung. Drei Tagesmütter sind in dieser Gruppe beschäftigt. Ein Student berichtet von seiner Bachelor-Arbeit zur Schulsituation junger Geflüchteter: „Bei der Recherche bin ich immer wieder darauf gestoßen, dass es zur Flüchtlingsbildung kaum Erhebungen gibt.“ In einer weiteren Austauschrunde erarbeiten die Weltcafé-Besucher_innen Forderungen, die sie aus den gesammelten Erfahrungen ableiten. Eine Wortmeldung jagt die nächste. Leidenschaftlich werden dringende Wünsche vorgetragen. Es ergibt sich eine umfangreiche Liste. Ausgewählte Punkte seien hier genannt: * Einig waren sich die Anwesenden darin, dass eine Schulpflicht für alle bundesweit gelten sollte. Die Kinder müssen dort beschult werden, wo sie sich aufhalten. „Ob die Personen Papiere haben oder nicht, es muss Schulpflicht bestehen. Nach einem Monat muss die Anmeldung an einer Schule erfolgen. Das darf keine Ermessensfrage mehr sein!“ * Bildung kostet auch Geld. Daran darf das Recht auf Bildung für alle nicht scheitern. * Die Lehrerausbildung muss der veränderten Situation angepasst werden – erforderlich ist interkulturelle Kompetenz. *Unbedingt nötig sind mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund sowie Muttersprachler_innen zur schulischen Einschätzung der neu eintreffenden Schüler_innen. * Alle, die ankommen, sollten einen Integrationskurs besuchen dürfen, der fünfmal pro Woche stattfindet und ein ordentliches Zeitkontingent hat! * Rücknahme der für den Kölner Haushalt geplanten Kürzung um 10,5 Prozent aller sozialen Ausgaben: Gerade jetzt muss aufgestockt werden! * Um auch Flüchtlingskinder angemessen unterrichten zu können, braucht es mehr Personal und grundsätzlich kleinere Klassen. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Schwerpunkt /11 * Wir brauchen Kulturmediatoren, wie es sie in einigen Ländern schon gibt. Kulturmediatoren besitzen Kompetenzen in der interkulturellen Arbeit, im Konfliktmanagement, im Dolmetschen und im Ausländerrecht. Sie können mitwirken „bei der notwendigen Sensibilisierung der NichtFlüchtlingskinder für den Umgang mit Flüchtlingskindern, denn die schönste Schulpflicht nützt nichts, wenn die Kinder in die Schule kommen und dort Parias sind“. * Es sind Schulbegleiter nötig, die nicht mehr als drei Familien haben, um die sie sich kümmern. * In jedem Wohnheim soll eine Person eingestellt werden, die sich um die Bildung der Familien und konkrete Schulzuweisungen kümmert. * Ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem von Anfang an ist besonders für Kinder und Jugendliche notwendig. * Die Wohnheime müssen räumlich besser ausgestattet werden. Geflüchtete benötigen einen PC-Raum und WLAN, Kinder und Jugendliche brauchen Räume zum Lernen. * Die Eltern brauchen Deutschkurse. Im Moment haben sie, wenn sie Flüchtlinge sind, keinen Zugang zu den Integrationskursen. Das soll geändert werden! MIT GUTEM BEISPIEL VORAN: INTENSIVE BEGLEITUNG „Das neue Projekt „Amen Ushta“ des Kölner Rom e.V. unterstützt Roma-Flüchtlingskinder in fünf rechtsrheinischen Schulen. „Amen Ushta“ bedeutet „Wir stehen auf“. Wir verbinden Schulmediation, Alphabetisierung und Elternarbeit. Wir vernetzen die verschiedenen Player vor Ort und begleiten die Familien auf ihrem Weg in die deutsche Bildungslandschaft. Ich kenne Kinder, die zwei Jahre zuhause gesessen und auf einen Schulplatz gewartet haben. Auf der anderen Seite ist die Schule sehr streng, was die Verhängung von Bußgeldern bei Fehlzeiten betrifft. Ich finde es merkwürdig, dass man einerseits die Leute monate-, fast jahrelang warten lässt, bis sie einen Schulplatz bekommen; dann verändert sich das Leben, die Kinder werden immer schulferner – und wenn sie dann nicht jeden Tag von der ersten bis zur letzten Stunde am Unterricht teilnehmen, gibt es gleich ein Bußgeld. Was wir brauchen, ist – neben viel Engagement von den LehrerInnen – der Einsatz von Dolmetschern und Sozialarbeitern. Sie dürfen sich auch nicht zu fein sein, die Kinder im Flüchtlingsheim zu besuchen.“ Christina von Haugwitz, Alphabetisierungsfachkraft im Projekt „Amen Ushta“ des Kölner Rom e V. Schließlich erntet Eliza Aleksandrova vom „Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen“ einhelligen Applaus für ihre Forderung nach einem „legalen Einwanderungsweg, damit alle Flüchtlinge ankommen und nicht unterwegs sterben müssen“. Abschließend bekräftigt das versammelte Publikum, die Forderungen an Stadt, Land und Bund richten zu wollen. Schließlich könne man mit Argumentation, Pressearbeit und Druck der Beteiligten doch einiges erreichen. Als Beispiel führt Kornelia Meder von der Integrationsagentur der Caritas Köln die Erfahrungen mit Zuweisungen und Koordination der Gesundheitsamtstermine an: „Als wir anfingen mit der Initiative „Schulplätze für alle“, war es so: Eine einzige Honorarkraft im Kommunalen Integrationszentrum war zuständig für Zuweisungen in der gesamten Stadt Köln. Wir sagten: Das kann nicht funktionieren! Und dann haben wir die Presse eingeschaltet. Es wurden ziemlich schnell Arbeitskräfte mit vollen Stellen zunächst von anderen Themen abgezogen, um die Zuweisungsaufgabe zu übernehmen. Der nächste Schritt war die Verbindung mit dem Gesundheitscheck beim Amt. Das lief damals völlig abgekoppelt. Mittlerweile ist es so, dass das Kommunale Integrationszentrum diese Termine koordiniert. Das zeigt uns: Mit vereinten Kräften können wir etwas erreichen!“ Vielfalt – Das Bildungsmagazin Vorgestellt /12 Asylbewerber_innen erzählen ihre Geschichte in Bild und Text – diese ungewöhnliche Wanderausstellung konzipierte die unabhängige Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“, in der sich junge Flüchtlinge, Menschen mit Migrationsgeschichte und Bürger_innen, die sich für ein besseres Leben und eine stärkere Einbindung von Flüchtlingen vor Ort einsetzen, engagieren. Ver- eine, Institutionen oder Initiativen, die die Wanderausstellung zeigen möchten, können sich unter der E-Mail-Adresse [email protected] (Nelli Foumba) oder [email protected] bei den Initiatoren des Projekts melden. http://jogspace.net/ Was nimmt man mit, wenn man nicht weiß, wohin man geht? Wie richtet man sich ein, wenn man nicht weiß, wie lange man bleiben kann? Wie verständigt man sich, wenn man eine Sprache nicht spricht? Ist Duldungsstatus ein Begriff, der Mut machen kann? Und wie wächst man auf, wenn man zur Volljährigkeit abgeschoben werden kann, in eine Heimat, die man nicht kennt? Zu diesen Fragen präsentiert eine Wanderausstellung des Flüchtlingsrats NRW gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden der ecosign/Akademie für Gestaltung aus Köln fotografische Antworten. Die Ausstellung zum Themenfeld Flucht und Asyl kann noch bis zum 30. November in der Einrichtung „Kolping Jugendwohnen Köln-Mitte“, Helenenstraße 13, besichtigt werden. Infos zur Ausstellung http://nirgendwoisthier.de/ und www.frnrw.de MAJID: ICH BIN JA MITTLERWEILE VOLL EINGEDEUTSCHT. ICH FREUE MICH DARÜBER WENN DIE LEUTE SAGEN, SIE SPRECHEN ABER GUT DEUTSCH...UND ICH ESSE SCHWEINEFLEISCH. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Vorgestellt /13 NATASCHA: ICH SCHAUE HINAUS UND ERWARTE, DASS SICH DRAUSSEN WAS VERÄNDERT. In Berlin wurde Ende April eine aktuelle Dokumentation vom Humanistischen Verband Deutschland und der Lebenshilfe Berlin vorgestellt. Die Herausgeber sprechen von Menschenrechtsverletzungen an Kindern mitten in Deutschland Schätzungen zufolge sind zehn bis fünfzehn Prozent der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Deutschland krank oder behindert. Die aktuelle Dokumentation „(K)eine Zukunft – Flüchtlingskinder mit Behinderung / Menschenrechtsverletzungen in Berlin“ gibt erstmals eine umfassende Darstellung der besorgniserregenden Situation in Berlin. Behinderte Flüchtlingskinder gehören entsprechend der EU-Richtlinie 2003/9/EG zu den „besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen“. Dennoch sind sie oft von Ausweisung bedroht, was dazu führt, dass ihnen medizinische und sonstige Leistungen versagt bleiben bzw. erst nach Monaten oder Jahren bewilligt werden. EIN EINZELFALL? Hisham ist seit einem Bombenangriff in seiner Heimat schwerstbehindert. Im Dezember 2012 floh seine Mutter mit ihm und seiner Schwester nach Berlin. Bis heute muss der mittlerweile 15-Jährige im Kinderwagen der kleinen Schwester geschoben werden, weil die Familie immer noch auf einen Roll- stuhl wartet. Dem vierjährigen Salah, der als Kind palästinensischer Eltern in Berlin geboren wurde, droht die Abschiebung in den Libanon, wo Kinder mit Down-Syndrom kaum einen Zugang zu medizinischen und sozialen Leistungen haben. Der gleichaltrige Ali leidet an einer zerebralen Parese und entwickelt wegen zu spät bewilligter Hilfsmittel Fehlstellungen in den Gelenken, die zu bleibenden Schäden mit Folgeoperationen führen. „Es sind keine Einzelfälle! Wir waren selbst sehr erschrocken, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt“, mahnt Benita Eisenhardt von der Fachstelle MenschenKind im Humanistischen Verband Vielfalt – Das Bildungsmagazin Vorgestellt /14 Berlin-Brandenburg, die den Prozess einer systematischen Aufarbeitung mit weiteren Akteuren der Behinderten- und Flüchtlingshilfe angestoßen hat. „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass hier massiv gegen Kinder- und Menschenrechte verstoßen wird“, fordert Musa Al Munaizel, Leiter der Lebenshilfe Integrationskita in Berlin-Neukölln. LEISTUNGEN UNTER VORBEHALT Die Politik ist gefordert: 2012 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Paragraphen 1 bis 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) gegen die EU-Aufnahmerichtlinie von 2003 verstoßen. Bis Mitte Juli 2015 muss Deutschland das Gesetz novellieren und an geltendes EU-Recht anpassen. Unberührt von der Novellierung bleibt jedoch u.a. der Paragraph 6, der bei nicht akuten Erkrankungen die Bewilligung von Leistungen bei der medizinischen Versorgung ins Ermessen der Behörden stellt, was ein langwieriges Prüfverfahren voraussetzt und insbesondere Kinder mit Behinderungen in ihren Entwicklungschancen beeinträchtigt. die von Deutschland beide ratifiziert worden sind. Experten wie die Menschenrechtlerin Judy Gummich, die Berliner Rechtsanwältin Julia Kraft und Sven Veigel vom Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (BNS) fordern, das Asylbewerberleistungsgesetz wie auch die asyl- und aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen konsequent im Sinne der Menschenrechte von Kindern mit Behinderung auszulegen. Damit wären die bisher bei der Bewilligung notwendiger Hilfen sehr restriktiv gehandhabten Ermessensspielräume nicht mehr gegeben. Die gegenwärtige Praxis widerspricht eindeutig dem in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Grundsatz „Das Kindeswohl hat absoluten Vorrang“ sowie der UN-Behindertenrechtskonvention, Die Herausgeber der Dokumentation – die Lebenshilfe Berlin, der Humanistische Verband Deutschlands - Landesverband Berlin-Brandenburg (HVD), MenschenKind - Fachstelle für die Versorgung chronisch kranker und pflegebedürftiger Kinder und der Berlin Global Village e.V. – fordern: Das AsylbLG ist als diskriminierendes „Sondergesetz“ abzuschaffen. So lange das AsylbLG gilt, soll eine Ausführungsvorschrift zur Auslegung von §6 AsylbLG ein verbindliches und transparentes Verfahren zur Versorgung schaffen. Beschleunigte Leistungsverfahren sollen sicherstellen, dass die Kinder schnellstmöglich eine angemessene Versorgung erhalten und die ihnen Geflüchtete Menschen sollen schneller als bisher an Sprachkursen teilnehmen können – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Das forderte jetzt Frank Johannes Hensel, Direktor der Caritas Köln, von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Bisher dürfen sie zwar nach drei Monaten Wartezeit arbeiten. Bis sie aber Zugang zu einem öffentlich geförderten Deutschkurs bekommen, verstreichen durchschnittlich acht Monate. So lange dauert ein Anerkennungsverfahren in der Regel. Zu lange an- gesichts der Bedeutung von Sprachkenntnissen für die Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt, betont Hensel. Wer früher an einem Sprachkurs teilnehmen möchte, muss rund 2000 Euro für 600 Stunden selbst bezahlen. Die allermeisten Asylbewerber_innen oder geduldeten Flüchtlinge können das keinesfalls leisten. Auch der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit bemängelt, dass in Deutschland zu wenig Geld für Sprachkurse zur Verfügung gestellt werde und zustehenden Rechte auf Versorgung und Teilhabe wahrnehmen können. Eine einheitliche und bedarfsgerechte Steuerung der Versorgung der Kinder braucht einen geregelten Feststellungsbedarf, eine direkte Anlaufstelle für die Betroffenen mit adäquaten personellen Ressourcen sowie qualifiziertes Fachpersonal auf allen Ebenen. Über den Bundesrat soll sich das Land Berlin bei der Novellierung des AsylBLG für die Umsetzung der EURichtlinie und die Einhaltung menschenrechtlicher Standards einbringen und dabei auf die Erfahrungen für ein Beurteilungs- und Feststellungsverfahren besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge verweisen, wie es das Modellprojekt des Berliner Netzwerks besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge seit 2009 entwickelt hat. Link zur Dokumentation: http://www.menschenkind-berlin.de/sites/menschenkind-berlin.de/files/HVD_Menschenkind_Fluechtlingskinder.pdf verlangt angesichts der gestiegenen Flüchtlingszahlen zusätzlich 300 bis 400 Millionen Euro bis 2017. Die nordrhein-westfälischen Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen verlangen gleichfalls vom Bund bezahlte Sprach- und Integrationskurse für alle Asylsuchenden und Geduldeten. Flüchtlinge zu Passivität und Isolation zu verdammen, so der SPD-Landesparlamentarier Josef Neumann, sei ein Unding. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Aktuelles /15 Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen fordern ein Gesamtkonzept für die Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. "Seit zwei Jahren gibt es eine krisenhafte Entwicklung", sagte Irmela Wiesinger vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF) auf einer Fachtagung Ende Mai in Frankfurt. Infolge der stark steigenden Ankunftszahlen seien die Einrichtungen überlastet. Das Kindeswohl könne in einigen Bundesländern nicht mehr im gesetzlich geforderten Maß beachtet werden. Irmela Wiesinger arbeitet beim Jugendamt Hofheim und ist Koordinatorin für Hessen im Bundesfachverband. Sie schildert die Situation der mehr als 14.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die sich Ende letzten Jahren in Deutschland aufgehalten haben, als äußerst schwierig, denn zwei Drittel der Jugendhilfe-Einrichtungen hätten keine Erfahrung mit diesem Personenkreis. Die Haupt-Herkunftsländer der zumeist jugendlichen unbegleiteten Flüchtlinge waren Afghanistan, Somalia und Eritrea. KRANK Die medizinische Erstuntersuchung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sei häufig durch Verständigungsschwierigkeiten erschwert, berichtete die Ärztin Meike Huber vom Frankfurter Gesundheitsamt. Die Hälfte der Jugendlichen brauche drin- gend eine Zahnbehandlung, jeder fünfte habe Hauterkrankungen, oft von Gefängnisaufenthalten etwa in Libyen. Auch habe jeder Fünfte Erreger im Stuhl infolge schlechter Ernährung. Häufig seien auf der Flucht erlittene Brüche oder Schnittverletzungen. Dazu kämen Magenbeschwerden, Angstzustände und Schlafstörungen. TRAUMATISIERT 60 bis 80 Prozent der jungen Flüchtlinge sind nach Angaben der Psychologin Ilka Quindeau traumatisiert. Die meisten schwiegen jedoch darüber und verhielten sich "auffällig unauffällig". Daher würden ihre psychischen Belastungen von den Betreuern leicht unterschätzt. Manche erinnerten sich immer wieder an traumatische Erlebnisse, zögen sich sozial zurück oder seien reizbar und aufbrausend. Das Überleben einer traumatisierenden Situation erzeuge im Nachhinein Scham- und Schuldgefühle. VERTEILT PER GESETZ Das Bundesjugendministerium hat für Juni einen Gesetzentwurf zur Verteilung der jungen Flüchtlinge auf die Bundesländer ab 2016 angekündigt. Dieser geplanten bundesweiten Verteilung steht der Bundesverband kritisch gegenüber. An den bisher erkannten Mängeln wie dem Fehlen von Fachpersonal und Behandlungsmöglichkeiten für traumatisierte alleinstehende Jugendliche würde sich dadurch nichts ändern. „Letztlich werden die Jugendlichen und ihre Probleme einfach an andere Orte geschoben“, sagt Thomas Berthold, Referent des Bundesfachverbands UMF. GESAMTKONZEPT GEFORDERT Quindeau und Wiesinger fordern von den Jugendund Ausländerbehörden des Landes, der Kreise und Kommunen, der freien Wohlfahrtsverbände und Einrichtungsträger die Entwicklung einer "kompetenten Aufnahmestruktur" für minderjährige Flüchtlinge, um die Standards der Jugendhilfe zu gewährleisten. Dazu gehören der Aufbau von Kompetenzzentren, die Aus- und Weiterbildung von Betreuern, eine psychotherapeutische Versorgung der Jugendlichen und ihre Beschulung von Anfang an sowie die Einbeziehung von ehrenamtlichen Helfern. Die Aufnahme der Jugendlichen sollte ihre Ressourcen stärker berücksichtigen, sagte die Psychologin, und ihnen erlauben, ihre psychische Verfassung an einem sicheren Ort zu stabilisieren. Außerdem sollten sie eine Zukunftsperspektive entwickeln können. (Quellen: http://www.migazin.de/2015/06/05/forscher-mahnen-konzept-fuer-minderjaehrigefluechtlinge-an/, und http://www.b-umf.de/ DRAUSSEN, VOR DER SCHULTÜR (Bonn) 35 Kinder warten in Bonn auf einen Schulplatz – Druck auf Landesministerien wächst In Bonn stehen derzeit 35 Kinder auf der Warteliste für einen Schulplatz. Zwei Wochen zuvor konnten 125 junge Flüchtlinge in zusätzlichen internationalen Klassen versorgt werden. Zwar müssten die Kinder längere Wege zurücklegen, aber dennoch seien nahezu alle jüngeren Flüchtlingskinder, laut Schul- aufsicht, in Schulen vermittelt worden. Problematisch ist vor allem die Beschulung in weiterführenden Schulen. Schulamtsleiter Hubert Zelmanski erklärte schon Anfang Mai: „Unsere Schulen sind auch schon so rappelvoll. Alle Ressourcen sind ausgeknautscht. Die Stadt Bonn geht davon aus, dass sich die Schulsituation weiter zuspitzen und die Wartezeiten verlängern werden: Die Schuldezer- nentin Angelika Maria Wahrheit forderte den Schulausschuss dazu auf, den Druck auf die Landesregierung zu erhöhen, damit mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig wurden unterstützende Maßnahmen gefordert und die Stadtverwaltung dazu angehalten, regelmäßig über die Situation von Flüchtlingskindern zu berichten. Vielfalt – Das Bildungsmagazin Aktuelles /16 Am 17. 4. 2015 veröffentlichte der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) in Genf nach eingehender Staatenberichtsprüfung seine Kritik an und seine Empfehlungen zu der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. Auch im Bereich der Bildung wurde den bildungspolitisch Verantwortlichen ein fehlendes menschenrechtsbasiertes Verständnis von Inklusion nachgewiesen. Während die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte und die BRK-Allianz, die beide den Prozess der Überprüfung Deutschlands aktiv mit eigenen Stellungnahmen begleitet hatten, unverzüglich die Abschließenden Bemerkungen (Concluding Observations) des Fachausschusses verbreiteten und begrüßten, wartet man bislang vergeblich auf Reaktionen aus den Kultusministerien und der Kultusministerkonferenz. WAS IST LOS? Nach Sichtung aller Pressemittteilungen, die in jüngster Zeit von den Pressestellen der Kultusministerien herausgegeben wurden, steht fest, dass kein einziges Bundesland sich presseöffentlich zu den kritischen Abschließenden Bemerkungen verhalten hat. Auch eine gemeinsame Pressemitteilung der KMK liegt dazu nicht vor. Was verschlägt den Kultusministerinnen und -ministern, die sonst bei jeder Gelegenheit sich gerne zu Inklusion äußern und nicht müde werden, vollmundig ihre Erfolge auf diesem Gebiet darzustellen, die Sprache? Dass man die in englischer Sprache abgefasste Stellungnahme des UN-Fachausschusses nicht versteht, darf doch wohl mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Ist man deshalb so kleinlaut, weil das mit unabhängigen Experten besetzte und im Auftrag der Vereinten Nationen tätige Fachgremium die bildungspolitisch Verantwortlichen in den Ländern wegen ihrer ungenügenden Maßnahmen abgewatscht hat? Will man die Bedeutung des UN-Fachausschusses als offizielles Überwachungsgremium durch bewusste Nichtbeachtung kleinhalten? Oder könnte es sich um ehrliche Betroffenheit handeln, weil der zuständige Fachausschuss die strukturelle Unvereinbarkeit der segregierten Sonderschulen mit einem inklusiven Bildungssystem festgestellt und damit die bisherigen Annahmen grundsätzlich erschüttert hat? BAYERN UND HESSEN LIEFERN BEISPIELE FÜR UNBELEHRBARKEIT Das bayerische Kultusministerium teilt drei Tage nach der veröffentlichten Stellungnahme des UNFachausschusses in einer Presseerklärung mit, dass 16 Förderschulen das "Schulprofil Inklusion" verliehen wird. Als wäre nichts gewesen, werden Förderschulen mit dem Prädikat Inklusion geadelt und als fester Bestandteil des "inklusiven" Schulsystems in Bayern bestätigt. Das hessische Kultusministerium bekennt sich in einer Presseerklärung vom 15. 4. 2015 offen und ohne den geringsten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns dazu, dass in 51 Fällen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gegen den Wunsch der Eltern im Schuljahr 2014/15 der Weg in die Regelschule versperrt wurde, weil die personellen, räumlichen oder sächlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Dabei konnten auch die Verantwortlichen in Hessen per Livestream die Staatenüberpüfung von Deutschland am 26. und 27. 3. in Genf verfolgen und spätestens dann feststellen, dass der Fachausschuss die Verweigerung des Zugangs zur Regelschule als schwerwiegende Konventionsverletzung wertet OHNE DRUCK GEHT ES IN DEUTSCHLAND NICHT. Alles deutet darauf hin, dass die politisch Verantwortlichen Druck brauchen. Die Monitoring- Stelle hat mit ihrer deutschen Übersetzung der Abschließenden Bemerkungen eine wichtige Voraussetzung für eine öffentliche gesellschaftliche Debatte über dringend notwendige bildungspolitische Weichenstellungen geliefert. Die BRK-Allianz wird als zivilgesellschaftliches Bündnis auch für eine gesellschaftliche Verbreitung der Kritik sorgen und die Politik damit konfrontieren. Mittendrin e.V. in Köln hat als Elterninitiative eine ideenreiche Kampagne ins Netz gestellt und will zeigen, dass viele Menschen sich nicht mit dem abspeisen lassen, was politisch als Inklusion ausgegeben wird. Sie bietet viele Möglichkeiten der Mitwirkung an. Dr. Brigitte Schumann Zum Weiterlesen: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/pre ssemitteilung-un-ausschuss-kritisiert-gesellschaftliche-ausgrenzung-von-menschen-mit-behinderung/ Vielfalt – Das Bildungsmagazin Aktuelles /17 NICO: DER LÖWE IST STARK UND STOLZ. ABER AUCH EIN FEIGLING, SCHÜCHTERN UND ÄNGSTLICH. Die wenigsten Lehrkräfte an den allgemeinen Schulen fühlen sich in der Lage, den gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung durchzuführen. Das ist das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage unter 1003 Lehrer_innen, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben hatte und die Mitte Mai präsentiert wurde. Danach halten 77 Prozent das Fortbildungsangebot für weniger bis gar nicht gut. Neben der schlechten Vorbereitung beklagen Lehrer_innen zu große Klassen und die mangelnde personelle und räumliche Ausstattung. Gewünscht wird von 98 Prozent der Befragten eine Doppelbesetzung durch Lehrer_innen im Klassenraum. Sechs Jahre, nachdem Deutschland sich mit der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet hat, einen inklusiven Unterricht umzusetzen, beklagt der NRW-Landesvorsitzende des VBE Udo Beckmann, die Lehrer_innen würden „vom Dienstherrn einfach ins kalte Wasser geworfen“. Laut Beckmann fehlen in NRW 7000 Sonderpädagog_innen. „Zum Glück“, so Natascha Reisen, Mutter eines Kindes mit geistiger Behinderung, „müssen unsere Kinder nicht mehr länger auf den gemeinsamen Unterricht warten, bis alle finanziellen, personellen und dann noch die selbst- und fremdgemachten Probleme beseitigt sind.“ Die Elternvereinigung „mittendrin – eine Schule für alle“ hat unter dem Motto „Inklusion schaffen wir!“ Fragen und Antworten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung, Eltern und Lehrern in kurzweiligen und aussagekräftigen Filmen zusammengestellt, die eines gemeinsam haben: Sie vermitteln eine Vor- stellung davon, wie Inklusion gehen kann. Eine der Fragen lautet: Ist das eigentlich nicht viel zu anstrengend mit der Inklusion? Max, Schüler: Nö. Luzie, Schülerin: Nö, ich finde das voll gut! Fidi, war Schüler: Überhaupt nicht. Das ist eigentlich ein Grund, warum ich jeden Morgen aufstehe und meinen Job gerne mache. Walter, Sonderpädagoge: Nicht anstrengender als Schule auch ist. Niklas, Schüler: Für wen? Nina, Schülerin: Für die Lehrerinnen schon. Mareike, Mutter und Bloggerin: Ja, das Leben ist anstrengend und Inklusion auch. Das kann aber auch Spaß machen. Walter, Lehrer: „Das ist eine Frage, die ist(…) alles ist schwer, bevor es nicht leicht ist.“ Vielfalt – Das Bildungsmagazin Vorgestellt /18 GÜNTER UND FLATCHER: FLATCHER ÖFFNET FÜR MICH DIE HERZEN DER MENSCHEN. Maßnahmen gegen Diskriminierung und Integration von Roma, ja sicher. Aber bitte nicht bei “uns”! Ungefähr so beschrieben Prof. Dr. Albert Scherr von der Universität Freiburg und Dr. Orhan Jasarovski, Projektleitung bei Acasa Dom in Wuppertal, die Haltung von Nicht-Roma in der EU. Die Begegnung der beiden Antirassismus-Aktivisten fand im April an der Kölner Fachhochschule statt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Erfindung der Anderen: Diskurse im Kontext von Inklusion“ - einer Kooperation zwischen der Integrationsagentur der AWO Mittelrhein e.V., der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft und der Fachhochschule Köln fin- den Diskussionen zwischen Theorie und Praxis statt. Unübersehbar aktuell sind Vorurteile und Rassismen gegen Roma und Sinti bis hin zur strukturellen Diskriminierung und Gewalt. Prof. Dr. Albert Scherr berichtete von Untersuchungen, die belegen, dass rund 75 Prozent aller EU-Bürger_innen zwar der Einschätzung zustimmen, dass Roma von Diskriminierung betroffen sind, aber nur 41 Prozent befürworten „Maßnahmen zu einer besseren Integration von Roma“. Außerdem lehnen 34 Prozent der Befragten ab, dass ihre Kinder „mit Roma in die gleiche Schule gehen“. Die einzige Gemeinsamkeit der heutigen Roma in Europa ist, so Jasarovski und Scherr übereinstimmend, der Rassismus, der ihnen begegnet. Über die Geschichte(n) der Roma und ihrer Migration ist wenig bekannt, außer dass ihre Vorfahren ursprünglich aus Indien stammen und seit mehr als 800 Jahren in Europa leben. Selbst „das romatypische Romanes“ zählt laut Jasarovski an die 72 unterschiedliche Dialekte. Die Roma in Europa sind so unterschiedlich wie die Nicht-Roma in Europa. Und, so Scherr weiter, „es besteht keine Binnenloyalität zwischen den Roma-Gruppen über Ländergrenzen hinweg“. Allenfalls zwischen Dorfgemeinschaften oder über die regionalbedingte Nähe zueinander Vielfalt – Das Bildungsmagazin Vorgestellt /19 kann auf Gemeinsamkeiten geschlossen werden. Weder positive Vorurteile wie der „Gypsy-Klang“, noch negative Assoziationen wie „Nomadentum“ können nach einem Vergleich der Gruppen Bestand haben. „Unsere Assoziation mit ‚den‘ Roma bezieht sich lediglich auf ein bestimmtes Bild von Menschen – in der Regel Bettler - denen wir auf der Straße flüchtig begegnen“. Gleichzeitig würden die Augen vor der Vielfältigkeit dieser vermeintlich homogenen Gruppe verschlossen bleiben. Scherr macht deutlich, dass nicht die Gleichheit oder das Verhalten „der“ Roma verantwortlich sind für einen Anti-Roma-Rassismus, sondern die Konstruktionen einer vermeintlich homogenen Gruppe, die sich unterscheidet von einer ebenfalls vermeintlich homogenen eigenen, aber dominanten Gruppe. Am Beispiel „wir“, die Sesshaften im Gegensatz zu denen, „die Nomaden“ illustriert Scherr die Mechanismen. Fakten, die auf eine existentielle Diskriminierung hinweisen, wie unterschiedliche Lebenserwartungen von Roma-Frauen (62,5 Jahre) und Nicht-RomaFrauen (75 Jahre) in Ungarn, führten auch deshalb nicht zu einem Aufschrei des Entsetzens. Die Diskriminierung von Roma hier und anderswo wird ebenso hingenommen wie ihre Abschiebung in Herkunftsländer, in denen sie durch Gewalt bedroht sind sowie den Ausschluss aus sozialen Systemen und von Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten fürchten müssen. In der Bildungsarbeit müsste deshalb, so Scherr, zunächst einmal der Antidiskriminierungsgrundsatz „gleiche Würde und gleiche Rechte“ erarbeitet werden. Das romantische Bild des „fahrenden Volkes“ lebt, so Scherr, von der Vorstellung eines gruppeneigenen Wesensmerkmals „der Roma“. In Wirklichkeit aber ist die Nichtsesshaftigkeit durch das Verbot einer Ansiedlung und einer regulären und angesehenen Erwerbstätigkeit entstanden. Um ihr Überleben zu sichern, bleibt all jenen, die dieser Gruppe zugeschrieben werden, nur die Möglichkeit, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Nach Scherr sind diese Zuschreibungen zum Wesen „der Sinti und Roma“ in erster Linie Auswirkungen der Diskriminierung. Die Folgen von Vertreibung, von eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt, dem Bildungssystem und der Krankenversorgung prägen bis heute. Der Sozialwissenschaftler Scherr verbindet den aktuellen Rassismus gegen Roma mit der Verweigerung des Lernens aus der Geschichte des Nationalsozialismus. Während sich in Bezug auf den Völkermord an den europäischen Juden eine Scham entwickelt habe, würde bis heute das Ausmaß der Verfolgung und Ermordung der Roma nicht einmal gesellschaftlich wahrgenommen. Es fehle eine „moralischen Sperre“ gegen Anti-Roma-Rassismus, die in Bezug auf Antisemitismus durch die Aufarbeitung der Vergangenheit existiere. KONSTRUKTIONSELEMENTE DES ANTI-ROMA-RASSISMUS NACH ALBERT SCHERR • Nomaden in Differenz zur Sesshaftigkeit der Mehrheitsbevölkerung • Nicht-Arbeitswillige in Differenz zur fleißigen Mehrheitsbevölkerung • Nicht-ehrhafte Strategien („betteln, stehlen“, Sozialmissbrauch) in Differenz zu den ehrbaren Berufen und Lebensweisen • Kriminelle im Unterschied zur rechtschaffenen Mehrheitsbevölkerung • ethnisches Kollektiv, das sich in eine individualisierte Gesellschaft freier und gleicher Bürger/innen nicht einfügt Impressum Herausgeber: Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V. Integrationsagentur Dienststelle Venloer Wall 15, 50672 Köln Verantwortlich (i. S. d. P.) Andreas Johnsen, Geschäftsführer Telefon: 0221 – 29942874 E-Mail: [email protected] Redaktion Donja Amirpur Ariane Dettloff Vico Leon Farima Flaig-Sadeghi Mercedes Pascual Iglesias Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. 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