Das Bildungsmagazin - Integrationsagentur der AWO Mittelrhein

Sommer 2015
Vielfalt–
Das Bildungsmagazin
Foto: Sommerblut Festival
warum wird ein zwölfjähriger Junge ein Jahr lang
nicht beschult? Ist es ein tragischer Einzelfall? Eine
Verkettung blöder Zufälle? Waren es individuelle
(Fehl)entscheidungen innerhalb des Systems
Schule? Oder ist es Rassismus? Welche Rolle spielt
bei der Nichtbeschulung von Ashgan, dass er ein
„Flüchtlingskind“ ist? Schwierig ist das Kind obendrein, seine Eltern kennen sich nicht gut aus und
sprechen kaum Deutsch. Wäre diese Geschichte
einem deutschen Kind widerfahren? Und wenn wir
die Frage mit Ja beantworten, heißt das, dass der
Fall Ashgan kein Beispiel für institutionellen Rassismus im Bildungssystem ist? Während wir auf der
Suche nach Antworten waren, haben wir Ashgan
unterstützt, einen Schulplatz zu finden. Lesen Sie
seine Geschichte. Sie ist spannend wie ein Krimi und
bitter real. Vielleicht können Sie die Fragen danach
beantworten.
Ashgans Geschichte, ein Veranstaltung der Kölner
Initiative „Schulplätze für alle“ zur Bildungssituation geflüchteter Kinder sowie eine aktuelle Dokumentation über die strukturelle Unterversorgung
von Flüchtlingskindern mit Behinderung bilden den
Schwerpunkt „Nach der Flucht - Draußen, vor der
Schultür“.
„Inklusion –schaffen wir!“ ist das Motto einer Kampagne der Elternvereinigung „mittendrin“. Die Kampagne ist eine gute Antwort auf die Behäbigkeit bei
der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die von Brigitte Schumann im Bildungsmaga-
zin kommentiert wird: „Alles ist schwer – bevor es
leicht wird“.
Die Tarifverhandlungen, der Streik der
Erzieher_innen und die Schlichtung zwischen Verdi
und den Kommunen zeigen auch, unter welchen
misslichen Bedingungen pädagogische Fachkräfte
in Kitas den Bildungsauftrag umsetzen müssen. In
einem Interview vertieft „Vielfalt“ das Thema Arbeitsbedingungen mit einer engagierten Erzieherin.
Und dann zeigen wir Ihnen in diesem Bildungsmagazin besonders schöne Porträtaufnahmen des Fotografen Vico Leon.
Es sind tolle Menschen, die sich mit ihren – oft auch
schmerzhaften – Geschichten in einem Theaterprojekt im Rahmen des Sommerblut Festivals auf die
Suche nach „inklusiven Momenten“ begeben haben.
Das Stück „Schrei mich an“ zeigt die Wirklichkeit von
Armut, Behinderung, Alter und nicht normgerechten Leben und wunderbaren, auch witzigen Begegnungen auf der Bühne.
Mit diesen Bildern schickt die Redaktion Sie in die
Sommerferien. Auf dass Sie Kraft tanken und Ihren
Spaß finden an dem, was Sie tun.
Für die Redaktion Mercedes Pascual Iglesias
Kitastreik - Was auf der Strecke
bleibt
Seite 3
Seite 13
Deutsches Schulsystem Etappen einer Wiederbeschulung
Seite 5
Kölner Initiative: Recht auf
Bildung für Geflüchtete
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Seite 16
Albert Scherr: Anti-Roma-Rassismus/Forum Inklusive Bildung
Seite 18
Aktuelles /2
3 200 Familienzentren gibt es in Nordrhein-Westfalen. Von herkömmlichen Kitas unterscheiden sie sich
durch erweiterte Beratungs- und Hilfsangebote für
Eltern. Die Sozialwissenschaftlerin Sybille StöbeBlossey von der Universität Duisburg/Essen hat die
Nutzung dieser Einrichtungen untersucht.
Gerade benachteiligte und einkommensarme Fami-
lien können davon profitieren, hat Stöbe-Blossey
festgestellt. So bieten manche Zentren neben der
Kinderbetreuung auch mehrtägige Ausflüge an.
Impfungen, Kleiderbörsen oder Infoveranstaltungen zum Beispiel für günstiges Kochen werden
ebenfalls angeboten. Auch preiswertes Haareschneiden für die Kinder ist zuweilen inbegriffen.
Eltern werden beim Ausfüllen von Anträgen unterstützt. MitarbeiterInnen von Jobcenter und Arbeitsagentur beraten Mütter, wie sie wieder eine Arbeit
aufnehmen können. So wird die Kita vom Betreuungsort zur Beratungs- und Begegnungsstätte.
http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2015/report2015-01.pdf
Als erster Talentscout geht Suat Yilmaz in Auftrag
der Westfälischen Hochschule an Schulen im Ruhrgebiet auf die „Suche” nach jungen Leuten, die das
Zeug für ein Studium haben. „Wir wollen so eine Art
Rampe sein für die, die vielleicht nicht von sich aus
an ein Studium denken“, beschreibt Suat Yilmaz
seine hauptberufliche Aktivität. Es geht darum, Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen - wie etwa
Geflüchteten - Ängste zu nehmen und sie bei den
ersten Schritten ins Hochschulleben zu begleiten.
Jetzt will die NRW-Landesregierung weitere Talentsucher finanzieren: An sieben Hochschulen werden
Experten eingestellt, die in Schulen gehen, Eltern
besuchen und beraten – unter anderem auch zum
Bafög-Antrag. Auch FörderschülerInnen sollen so
unterstützt werden. Das Programm soll laut Wis-
senschaftsministerin Svenja Schulze soziale Schieflagen ausgleichen und Hürden auf dem Weg in die
Hochschulen abbauen.
Weiterführende Infos zum Talentscouting-Programm unter www.wissenschaft.nrw.de/studium/informieren/talentscouting.
Das „Netzwerk Willkommenskultur Köln“ will bürgerschaftliches Engagement vernetzen und in Kooperation mit hauptamtlichen Beratungsstellen
unterstützen. Dafür bietet die vom Verein „wir hel-
fen“ des Kölner Stadt-Anzeigers finanzierte Website
„wiku-koeln.de“ eine Plattform. Dort finden Interessierte unter anderem Termine für Austauschtreffen und eine Veranstaltungsreihe für Freiwillige und
Initiativen. Denn „Helfen muss geschult werden“,
erklärt Joachim Ziefle, Studienleiter der Melanchthon-Akademie in Köln.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Aktuelles /3
NACHLESE ZUM KITASTREIK
Dagmar Hagmann, 47, ist Erzieherin in einer
Kita in Köln-Ehrenfeld. „Vielfalt“ traf sie am
Rande des Demonstrationszugs der Streikenden
kommunaler Tageseinrichtungen zum Kölner
Rathaus und erkundigte sich nach ihrer Situation:
Warum haben Sie gestreikt?
Es geht um eine Aufwertung unseres Berufs – und
nicht nur eine Aufwertung mit mehr Geld. Das heißt:
Wir brauchen mehr Anerkennung und wollen in unseren pädagogischen Anliegen ernst genommen
werden.
Das gesellschaftliche Bewusstsein, wie wichtig unsere Arbeit ist, ist ja mittlerweile da: wie wichtig gerade die ganz frühen Eindrücke für Kinder sind. Nur
die Arbeitsbedingungen sind nicht so, dass gute
Leute wirklich ein Interesse daran haben, diesen
Beruf zu ergreifen, in diesem Beruf zu bleiben und
gute Arbeit zu tun.
Womit sind Sie denn vor allem unzufrieden?
Ich bin damals aus großer Begeisterung und mit großem Idealismus Erzieherin geworden. Aber schon
seit langem denke ich: Das will ich nicht bis an mein
Lebensende tun, denn das, wofür ich ausgebildet
worden bin, kann ich in der Praxis meistens gar nicht
umsetzen. Die besteht oft einfach in der Verwaltung
des Notstands.
Wie sieht dieser Notstand aus?
Zu dritt mit zwanzig Kindern sind wir in der Realität
ganz selten. Unser Team besteht aus sechzehn Mitarbeitenden. Aber real sind oft nur acht anwesend.
Dazu kommt, dass unsere Arbeit ja auch Vor- und
Nachbereitung erfordert – was dann leider oft als
erstes gestrichen wird: Dokumentationen, Elterngspräche, gemeinsame Planung im Team, mit ko-
VICO: ICH ERZÄHLE EUCH EINE GESCHICHTE,
DIE NICHT VERGESSEN WERDEN DARF.
operierenden Schulen und Therapeutinnen und Therapeuten, alles Zeiten, die wir außerhalb der Kindergruppe brauchen, um allen berechtigten
Anforderungen an eine gute Arbeit für Kinder und
Familien gerecht zu werden. Dazu kommen noch
Fortbildungen und Urlaubstage, all das müsste im
Personalschlüssel berücksichtigt werden. Wir haben
einfach zu große Kindergartengruppen. In unserer
Gruppe waren bisher zwanzig Kinder von zwei bis
sechs Jahren. Dabei waren auch zwei Kinder, die in
eine integrative Gruppe gehört hätten. Das ist dann
auch irgendwann anerkannt worden. Aber dieser
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Aktuelles /4
Prozess zieht sich ja unter Umständen zwei Jahre
lang hin. Wir waren zu dritt, aber nicht zuletzt durch
diese Arbeitsbedingungen sind die Kolleginnen häufig erkrankt.
Um welche Krankheiten geht es vor allem?
Ich hatte über viele Jahre hinweg mehrmals jährlich
eine Gürtelrose – das war mein Schwachpunkt, und
das ist ja eine Erkrankung, die auftritt, wenn man
nervlich nicht mehr kann.
Wissen Sie, woran die Kolleginnen und Kollegen
vor allem erkranken?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich finde es traurig, dass
einem der Körper auf diese Art und Weise eine
Grenze aufzeigen muss.
Wie wirkt sich das auf die Kinder aus?
Es bedeutet, dass man nicht immer zuverlässige Bezugspersonen in der Gruppe hat, weil durch Krankheit so viel vertreten werden muss. Dann lastet zu
viel Druck auf den Kolleginnen und Kollegen, und
der landet letzten Endes – ganz gleich, wie professionell man ist – auch bei den Kindern. Arbeit in
kleineren Gruppen, in denen Kinder gezielter gefördert und wahrgenommen werden können, fällt aus.
Wie merken Sie das den Kindern an?
Man merkt immer an den Kindern ganz wunderbar,
wie es einem selber geht. Also wenn es mir gut geht,
dann geht es auch den Kindern gut. Dann strahle ich
natürlich eine ganz andere Ruhe aus. Die eigene Unruhe überträgt sich unweigerlich – Kinder haben
ganz feine Antennen. Und letzten Endes fördern wir
Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern. Wer in
der Gruppe für Stress sorgt, bekommt Aufmerksamkeit.
Wie ist denn die Zusammensetzung in Ihrer
Kita?
Wir haben ein sehr heterogenes Umfeld. Die Kinder
kommen aus vielen verschiedenen Ursprungsländern. Wir haben sowohl alleinerziehende Mütter
mit drei Kindern, die in Nachtschicht arbeiten und
morgens völlig übermüdet ihre Kinder bringen, wir
haben aber auch Eltern, die mit ihren Kindern in
schicken Eigentumswohnungen leben.
Wie sieht Ihr Alltag aktuell aus?
Wir haben auch eine reine Unter-3-Gruppe. Da bin
ich im Moment sozusagen als Dauervertretung eingesetzt, weil wir versuchen, zumindest in dieser
Gruppe Kontinuität zu wahren.
Unsere Räume sind leider auch zu klein, und wir
haben nur einen Wickeltisch – da stehen wir dann
Schlange, das kostet zusätzlich Zeit.
Wie wirkt sich das auf Ihre persönliche Situation
aus?
Ich habe immer das Gefühl, ich renne mit einem
Gießkännchen herum und versuche einen Großbrand zu löschen. Also ich kann auf die Bedürfnisse
der Kinder oft gar nicht wirklich eingehen – ihr Bedürfnis, gehört und gesehen zu werden, wahrgenommen zu werden. Und sie verbringen ja oft neun
Stunden am Tag in der Kita, 45 Stunden in der
Woche, mit bis zu 25 Kindern plus bis zu vier Erwachsenen die meiste Zeit in einem Raum. Das ist
Stress für alle!
Von welchen Bedürfnissen sprechen Sie konkret?
Dass einfach jemand da ist, der mitbekommt, wie
es dem Kind heute geht: ist es glücklich, ist es traurig? Ich kann nicht in Ruhe mit einem Kind ein Gespräch führen oder mit einem Kind kuscheln, wenn
das andere gerade eine frische Windel braucht oder
ein Streit eskaliert.
aus?
Mittlerweile kann ich wieder Vollzeit arbeiten,
davon kann man einigermaßen leben. Die Jahre in
Teilzeit bedeuteten für mich Dauer-Existenzkrisen,
wo mich jede Schulbuchrechnung über zwanzig
Euro in Panik versetzte, und jede Fünfzig-EuroRechnung war geradezu eine Katastrophe. Die Heizölnachzahlung habe ich über ein Jahr hinweg
abgestottert.
Momentan komme ich mit meinem Gehalt aus. Allerdings kann ich mir die Mieten in Köln nicht leisten. Ich arbeite hier, wohne aber in der Eifel. Alles,
was ich hier hätte bekommen können, wäre feucht,
dunkel oder mit Durchgangszimmern gewesen, was
mit einem halbwüchsigen Sohn wirklich nicht geht.
Was versprechen Sie sich von verbesserten Arbeitsbedingungen?
Vor allen Dingen ein gelassenes, positives Miteinander. Denn wenn ich nur noch überforderte Kolleginnen habe, dann sprechen die natürlich nicht so
freundlich mit den Kindern, als wenn es ihnen selber gut geht. Dann entsteht natürlich auch mehr
Freude am Austausch, als wenn man als Kind froh
ist, dass diese überforderte alte Ziege einen bloß in
Ruhe lässt und man sich ein stilles Eckchen sucht,
aus dem man gar nicht zurückkehren will.
Die Kinder lernen ja auch viel vom Vorbild, und
wenn sie von mir erleben, dass ich sie tröste, dass
ich ihnen zuhöre, dass ich nicht über ihre Gefühle
hinweggehe und nicht sofort etwas von ihnen verlange, wenn sie gerade noch etwas zu Ende bringen
wollen, dann werden sie genauso mit Nachsicht und
mit Freundlichkeit auf die anderen Kindergartenkinder reagieren. Darum sind Erzieherinnen und Erzieher, denen es gut geht, die besten Pädagogen,
denn all das potenziert sich in so einer Kindergartengruppe, und das ist es, was wir ihnen mitgeben
auf ihren Lebensweg.
Wie sieht Ihre eigene wirtschaftliche Situation
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /5
SHERVIN: DU HAST SCHON IMMER GEWUSST,
DASS AUSLÄNDER HIER NICHT HINGEHÖREN –
ABER ICH MUSS DIR SAGEN, ES KOMMEN IMMER
MEHR.
Am 23. April erfährt die Initiative „Schulplätze für
alle“ von der Situation eines geflüchteten Jungen,
der seit fast einem Jahr keinen Schulplatz mehr hat.
Ein Novum. Bisher wurde an die Initiative herangetragen, dass neu nach Köln gezogene nichtdeutsche
Kinder Wochen bis Monate auf einen Schulplatz
warten mussten. Dass ein Schulplatz verloren gehen
kann, hat die Initiative noch nicht erlebt.
DIE AKTEURE
Die Eltern dieses Kindes. Sie sind fassungslos, dass
ihr Kind nach sechs Tagen Schule im August letzten
Jahres der Schule verwiesen wurde und im April dieses Jahres immer noch keinen neuen Schulplatz hat.
Sie reden mit Bekannten darüber, suchen aktiv nach
Hilfe in Beratungsstellen – und sie setzen sich ein.
Natascha Fröhlich. Sie hilft einem geflüchteten
Schulkind als Mentorin. Von den Eltern „ihres“ Patenkindes hört sie von diesem anderen Kind ohne
Schulplatz – und sie setzt sich ein.
Farima Flaig-Sadeghi von der Kölner Initiative
„Schulplätze für alle“. Sie arbeitet für die Integrationsagentur der AWO Mittelrhein. Hier kommt der
Anruf von Frau Fröhlich auf der Suche nach Hilfe an.
Flaig-Sadeghi spricht mit den Eltern und dem Zwölfjährigen, sichtet Amtsbriefe und wendet sich an
Wolfgang Blaschke von der Elterninitiative mitten-
drin e.V. – und beide setzen sich ein.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin schildert die Etappen, bis Ashgan in einer Kölner Schule endlich willkommen geheißen wird.
ANKOMMEN IN DEUTSCHLAND MAI 2014
Ashgan ist 12 Jahre alt und besucht eine Teheraner
Privatschule, als er im Mai 2014 mit seiner Mutter
aus dem Iran nach Deutschland flüchtet. Sein Vater
Babak Soleymani ist ein Jahr zuvor nach Deutschland gekommen und nach nur wenigen Monaten
als politisch Verfolgter anerkannt worden. Damit
hat die ganze Familie eine gute Grundlage, um in
Deutschland dauerhaft Fuß zu fassen.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /6
Die Zuweisung von Ashgan zu einer Schule erfolgt recht bald. Nach der obligatorischen Untersuchung des Gesundheitsamtes soll er eine Kölner Realschule
im bürgerlichen Stadtteil Sülz besuchen. Allerdings erst zum neuen Schuljahr, um
den Unterricht nicht zu stören und dem Jungen einen guten Neustart zu ermöglichen, lautet die Begründung der Schule. Bis dahin gibt es keine Freizeitbetreuung und keinen Sprachkurs für den Jungen. 16 Wochen, davon 6 Wochen
Ferien, vergehen ohne Anschluss an andere Kinder, ohne Vorbereitung auf die
deutsche Schule und ohne Sprachkurs.
ERSTER SCHULTAG, 20. AUGUST 2014
Ashgan versteht nichts an seinem ersten Schultag in der Realschule. Er ist zwar
anwesend, kann aber nicht teilnehmen. Er fühlt sich unwohl und unter Druck.
Ein Sprachlernprogramm für Kinder, die neu Deutsch lernen und auch die lateinische Schrift erlernen müssen, scheint es an seiner Schule nicht zu geben. Seine
Klassenlehrerin versteht er überhaupt nicht.
SCHULAUSSCHLUSS, 28. AUGUST 2014
Sechs Schultage später erhalten die Eltern ein Schreiben der Schule mit der Information, dass ein schulärztliches Gutachten bevorstünde, da Ashgans Verhalten während dieser sechs Tage sehr auffällig gewesen sei. Außerdem wurde
„aufgrund des hohen Gefährdungspotentials“ unverzüglich der „vorläufige Ausschluss vom Schulbesuch“ angeordnet.
Begründet wird dieser sofortige Ausschluss des Jungen mit einem unkontrollierten und unberechenbaren Verhalten, das sich durch Teilnahmslosigkeit und
„spontane körperliche Zuckungen“ zeige. Er schlage andere Schüler und fasse
„besonders weibliche Lehrkräfte an Haaren und Körper“ an. Das klingt schlimm!
Aber ist es die Wahrheit? Ashgan bestreitet die Vorwürfe. Die Eltern sind schokkiert und wollen genau wissen, was vorgefallen ist. Sie möchten mit der Lehrerin und am besten noch mit den anderen Schülern sprechen. „Ich wollte mir ein
eigenes Bild machen“, sagt der Vater. „Aber die Schulleitung ist nicht darauf
eingegangen. Und weil ich wenig Deutsch spreche, war es für mich schwer mich
zu verständigen.“
Ein Gespräch zwischen Eltern und Schule findet nicht statt. Es gibt auch keine dokumentierte Beobachtung durch eine weitere Lehrkraft, von der die Eltern erfahren hätten. Der schulpsychologische Dienst wird nicht beauftragt, sich des
Jungen anzunehmen. Es wird keine Integrationshilfe beantragt. Und mit dem
Jungen spricht aufgrund der Sprachbarrieren auch keiner. Fragen wie: Was ist los
mit dem Jungen? Was hat er auf der Flucht erlebt? Wie hat er als Sohn eines politisch Verfolgten im Iran gelebt? Musste er sich verstecken? Wie hat er die Trennung vom Vater verkraftet? Ist er möglicherweise krank? Gar traumatisiert?
bleiben unbeantwortet.
Was mit ihm los ist, scheint nicht zu interessieren. Ashgan ist raus aus der Schule.
Von nun an wird ihn dieser vernichtende Eintrag in seiner Schulakte begleiten.
VERMUTUNG SONDERPÄDAGOGISCHER FÖRDERBEDARF, 8. OKTOBER
2014
Mehr als sechs Wochen nach seinem Schulausschluss erstellt die Schulleitung
unter Mitwirkung der Lehrkraft, die Ashgan gerade mal fünf Tage unterrichtet
hat, einen Antrag zur Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs. Angekreuzt sind alle Förderschwerpunkte außer Sehen und Hören. Das heißt, die
Schulleitung geht von einer Lern- und Entwicklungsstörung in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotionale Entwicklung aus. Angekreuzt
sind im Fragebogen zudem die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung und
körperliche Entwicklung. Das ist viel, aber auch unspezifisch. Ob es konkretere
Schilderungen über das Verhalten ihres Sohnes gibt, erfahren die Eltern nicht.
Sie suchen Hilfe beim Jugendamt, versuchen ihren Sohn sogar selbst in einer
Kölner Förderschule anzumelden, was ihnen nicht gelingt, und melden ihn zur
psychologischen Diagnostik in der Uniklinik Köln an. Am 19.11.2014 ist die Diagnostik erstellt und geht an die Bezirksregierung Köln.
ERMITTLUNG DES BEDARFS AN SONDERPÄDAGOGISCHER UNTERSTÜTZUNG, 16.12.2014
Knapp einen Monat braucht die Bezirksregierung, um den Eltern anzukündigen,
dass ein Verfahren eröffnet wurde, um festzustellen, „wie Ihr Kind zukünftig
besser gefördert werden kann“. Die Eltern sollen sich für Gespräche bereithalten. Der Amtsbrief endet mit dem Satz: „Die Überprüfungen, Gespräche und
Entscheidungen nehmen Zeit in Anspruch. Ich bitte deshalb um Verständnis,
falls das geschilderte Verfahren etwas länger dauern sollte.“
SCHULÄRZTLICHE UNTERSUCHUNG, 22. JANUAR 2015
In der dritten Januarwoche 2015, also 21 Wochen nach dem Schulausschluss, soll
ein schulärztliches Gutachten darlegen, ob der Verbleib von Ashgan in der Schule
„eine konkrete Gefahr für die Gesundheit anderer bedeutet“. Diese Entscheidung kann laut Schulgesetz zwar bei Gefahr im Verzuge von einem Schulleiter
oder einer Schulleiterin getroffen werden, allerdings nur vorläufig (§54 Abs4
SchulG NRW).
SCHULÄRZTLICHES GUTACHTEN, 13. FEBRUAR 2015
„Aus schulärztlicher Sicht sollte der Junge adäquat, gemessen an seinen kognitiven Fertigkeiten, beschult werden.“ Auf die Frage, „für welchen Zeitraum eine
reguläre Beschulung ggf. nicht möglich ist“, kommt der Gutachter zu dem
Schluss: „Aus kinder- und jugendärztlicher Sicht ist die reguläre Beschulung, sofern sie an den besonderen Förderbedarf angepasst ist, ab sofort möglich.“
Erstmals begründet ein Amt in diesem Schulausschlussverfahren die „zeitliche
Verzögerung“: Die Familie sei „zwischenzeitlich umgezogen und war deshalb
nicht erreichbar“. Das stimmt – aber auch nicht ganz. Die Familie ist am 1. November 2014 umgezogen und hat der Schulbehörde die neue Adresse mitgeteilt, wie aus der amtlichen Post hervorgeht. Einmal, so erinnert sich der Vater,
war sogar eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt mit einer Dolmetscherin bei der
Familie, um nach dem Jungen zu sehen.
HILFERUF AN DIE INITIATIVE SCHULPLÄTZE FÜR ALLE, 22. APRIL 2015
Fast ein Jahr ist zwischen der Ankunft von Ashgan in Deutschland und dem Kontakt zur Initiative vergangen. Während seine Eltern einen Deutsch- und Integrationskurs besuchen, sitzt Ashgan alleine und isoliert in der kleinen Wohnung.
Er traut sich nicht mehr vor die Haustür und hat Angst vor den Nachbarskindern.
GESPRÄCH MIT DER BEZIRKSREGIERUNG, 29. APRIL 2015
Nur wenige Tage, nachdem sich die Initiative und der Elternverein „mittendrin“
bei der Bezirksregierung melden, kommt es zum Termin. Im Gespräch wird von
Seiten der Bezirksregierung ein Versäumnis der Realschule und möglicherweise
auch des Schulamtes eingeräumt. Die Bezirksregierung schien überrascht über
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /7
diesen Fall und dessen Verlauf gewesen zu sein,
schildert Wolfgang Blaschke von mittendrin e.V.
seine Eindrücke von dem Gespräch mit der Bezirksregierung. „Ich glaube schon, dass es öfter zu solchen Ausschlüssen kommt. Aber bis es bei der
Schulaufsicht landet, dauert das.“
Am Ende des Gesprächs verspricht der Vertreter der
Bezirksregierung der Familie, dass sich das Schulamt spätestens am nächsten Tag mit einer neuen
Schule für Ashgan melden werde. Schnell wolle
man sich um eine Lösung bemühen, damit der
Junge schnellstmöglich einen neuen Schulplatz in
einer Seiteneinsteigerklasse erhalte.
TELEFONAT MIT DEM SCHULAMT 5. MAI
Fast eine Woche nach dem Gespräch mit der Bezirksregierung vergeht, bis sich das Schulamt auf
Drängen der Initiative hin meldet und erklärt, es
würde eine Hauptschule mit Vorbereitungsklasse für
ausländische Seiteneinsteiger gesucht. Von besonderer Förderung, kleiner Gruppe, angemessener Beschulung ist nicht mehr die Rede. Dafür aber kernige
Vorwürfe an die Adresse der Eltern und des Jungen.
Die Eltern hätten schließlich ein ganzes Jahr gebraucht, um den Weg zum Schulamt zu finden, da
könne nicht erwartet werden, dass von einem Tag
auf den nächsten ein Schulplatz für den Jungen organisiert werden könne. Der Junge „sei ja sogar
handgreiflich geworden“. Nun sei es an den Eltern,
dafür zu sorgen, dass der Junge auch pünktlich und
vor allem regelmäßig in der Schule erscheine, so das
Schulamt weiter.
RHONDA: MENSCH, SCHREI MICH AN. MEINE OHREN
DIE BESCHULUNG, 08. MAI 2015
Auch die Leitung von Ashgans neuer Schule äußert
am Telefon sogleich Bedenken, ihn aufzunehmen.
Er habe ja schon in der anderen Schule Ärger gemacht: „Wir haben Schulregeln, an die muss sich
jeder Schüler halten.“ Von ihrer Absicht, dem Jungen zunächst die Schulregeln einzuimpfen, bevor er
überhaupt in eine Klasse kommt, nimmt sie Abstand, als sie mehr von der ganzen Geschichte hört.
Das Erstgespräch zwischen den besorgten Eltern,
dem verängstigten Jungen, der zukünftigen Klassenlehrerin und der Schulleitung entwickelt sich
freundlich. Die Schulleiterin spricht mit Ashgan und
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /8
• Kann er es jetzt an dieser Schule ohne individuelle
Hilfe noch schaffen?
Schaden verantwortlich und wer kommt dafür auf?
Es bleibt der fade Geschmack zurück, dass die Akteure, die – und das wäre genau zu prüfen – verantwortlich sind, keine Konsequenzen aus der
Nichtbeschulung ziehen werden, oder gar für sich
fürchten müssen. Während Eltern beim unerlaubten Schulfehlen ihrer Kinder mit Bußgeldern bestraft werden, gibt es keinen Passus im Schulgesetz,
dass bei amtlicher Schulverweigerung ein Schadenersatz gezahlt werden muss.
Allerdings steht im Schulgesetz NRW, dass „Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter
verpflichtet sind, Schulpflichtige, die ihre Schulpflicht nicht erfüllen, zum regelmäßigen Schulbesuch anzuhalten“.
• Welcher Schaden ist entstanden? Wer ist für diesen
*Die Namen der Familie sind der Redaktion bekannt.
erlaubt eingereiste Ausländer auf die Bundesländer
verteilt werden sollen. Diesen Kindern wird der
Schulbesuch in Köln verwehrt.
Allein aus der Herkulesstraße sind der Initiative
„Schulplätze für alle“ 33 Kinder bekannt, die dringend einen Schulplatz brauchen. Dazu gehören die
Geschwister Fatbardh und Isni, 16 und 17 Jahre alt,
die seit dem 7. Mai 2014 in Köln leben, ebenso wie
Enis (12), Zejnebe (10) und Ebubeker (6) - sie sind
schon im September letzten Jahres in Köln angekommen. Freiwillige Betreuungsangebote studentischer Hilfskräfte von einigen Stunden täglich, so
Pascual Iglesias, bieten keinen angemessenen Ersatz für Schule und Kita. Dabei haben alle Kinder,
selbstverständlich auch geflüchtete, laut der UNKinderrechtskonvention das Recht auf Bildung!
die Zuweisung - manchmal um viele Monate -, besuchen die Kinder in dieser Zeit keine Schule. Denn
die zuständigen Behörden in Köln: das Schuldezernat, das Kommunale Integrationszentrum, das
Schulamt, die Bezirksregierung, orientieren sich bei
der Schulplatzvergabe nach der Schulpflicht, nicht
aber am Recht auf Bildung. Das muss so nicht gehandhabt werden. Daher fordert die Initiative
„Schulplätze für alle“ umgehend Abhilfe.
Für die Initiative steht fest: Auch wenn die Schulpflicht nach dem NRW-Schulgesetz aufgrund noch
nicht beendeter aufenthaltsrechtlicher Verteilungsprozesse nicht greifen sollte, haben auch diese Kinder das Recht auf einen Schulplatz. Den sichert
ihnen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) zu. In Artikel 28
Absatz 1 a) heißt es: „Die Vertragsstaaten [...] werden [...] den Besuch der Grundschule für alle zur
Pflicht und unentgeltlich machen.“ Artikel 28 Absatz 1b schreibt fest, die weiterführende Schule
„allen Kindern verfügbar und zugänglich“ zu machen.
heißt ihn an ihrer Schule willkommen. An ihrer
Schule sei jeder Schüler wichtig.
Ashgan geht nach dem Gespräch in seine neue
Klasse zum Unterricht, und die Eltern dürfen sogar
hospitieren. Als es zur Pause läutet und die anderen
Kinder Ashgan mit nach draußen nehmen, sind die
Eltern „das erste Mal seit einem Jahr erleichtert und
nicht mehr in Sorge um unseren Sohn“.
sich wenden sollen.“ Problematisch ist ebenso, dass
die einzelnen Einrichtungen nicht zusammenarbeiten. „Jugendamt und Schule, das sind zwei verschiedene Welten.“
ES BLEIBEN FRAGEN, SORGEN - GEDANKEN
Die Schulgeschichte Ashgans ist noch nicht zu Ende.
Die Initiative „Schulplätze für alle“, der Elternverein
„mittendrin“, haben lediglich das erreicht, was ein
selbstverständliches Mindestmaß sein müsste: die
Beschulung eines schulpflichtigen Kindes. „Eltern
blicken bei unserem System nicht durch“, erklärt
Blaschke. „Sie wissen oftmals gar nicht, an wen sie
• Welche Folgen hat die einjährige Nichtbeschulung
des Jungen für seine Schulkarriere, für sein Selbstbewusstsein, für seine psychische Gesundheit, für
seine gesellschaftlichen Teilhabechancen?
• Ist Ashgan ein Einzelfall? Wie vielen Kindern von
Flüchtlingen und anderen Einwanderern ergeht es
ähnlich? Wie leicht fallen gerade sie durch die Maschen eines offenbar lückenhaften Systems?
ERFAHRUNGSAUSTAUSCH UND FORDERUNGEN
74 Frauen und Männer hatten sich auf Einladung der
Initiative „Schulplätze für alle“ Ende Mai im Kölner
Domforum eingefunden, um gemeinsam die Bildungssituation junger Geflüchteter in Köln zu erkunden und Konsequenzen zu erörtern. Lehrer und
Lehrerinnen, Erzieher_innen, Sozialarbeiter_innen,
Studierende und einfach Interessierte waren dabei,
und auch das Bildungsmagazin „Vielfalt“.
Mercedes Pascual Iglesias von der Integrationsagentur der AWO Mittelrhein hielt das Eingangsreferat. 6 100 geflüchtete Menschen, berichtete sie,
sind derzeit in kommunalen Einrichtungen der Stadt
Köln untergebracht. Wie viele von ihnen im Schulalter sind oder Anspruch auf einen Kitaplatz bzw.
eine Tagesbetreuung haben, ist unbekannt. Dieser
Bildungs- und Betreuungsbedarf wird nicht ermittelt.
Das Flüchtlingswohnheim in der Herkulesstraße gilt
offiziell als Notunterkunft. Doch anders, als der Begriff vermuten lässt, leben viele Familien länger als
drei Monate in der Herkulesstraße. Häufig sind es
Familien, die nach §15a Aufenthaltsgesetz als un-
WIE KOMMT ES ALSO, DASS KINDERN IN KÖLN
SCHUL- UND KITAPLÄTZE VERWEIGERT WERDEN?
Nach dem Schulgesetz von NRW gilt für die Kinder
von Asylbewerbern erst dann die Schulpflicht, wenn
sie einer Kommune zugewiesen sind. Verzögert sich
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /9
MAHMUT: MEIN TRAUMBERUF, ABER GEHÖRLOSE MENSCHEN NEHMEN SIE NICHT.
Pascual Iglesias nannte Gründe für die oft lange
Dauer der Zuweisung Geflüchteter an einen Wohnort: Die Bezirksregierung Arnsberg ist zuständig für
die Zuweisung von Flüchtlingen. Mehr Flüchtlinge
bedeuten mehr Arbeit, und so kommt es zu längeren Verweildauern in den Notunterkünften der
Städte. Zum anderen legen manche Eltern gegen
Zuweisungen in ein anderes Bundesland Rechtsmittel ein. Oder Krankheiten, die Geburt eines Kindes, familiäre Verwurzelung, aber auch eine gute
rechtliche Betreuung bringen Flüchtlingsfamilien
dazu, nicht aus Köln weggehen zu wollen.
Nach diesem Input gruppierten sich die Teilnehmenden an vier Tischen zum „Weltcafé“, tauschten
eigene Erfahrungen aus und entwickelten Forderungen an die Kommune, die Landes- und Bundesregierung.
In der Bestandsaufnahme gab es unter anderem folgende Beobachtungen:
Grundsätzlich braucht es mehr Hilfen zur Verständigung. Dafür fehlt es an Mitteln und Personal. Besonders schwierig sei die Kommunikation, wenn
Familien in Hotels untergebracht sind. Dort gibt es
oft gar keine Kontaktperson für Willkommensinitiativen und engagierte Menschen.
Rasch wurde es an den Gruppentischen sehr konkret: Manche Eltern, berichtet eine Teilnehmerin,
bekommen zwar vom Kommunalen Integrations-
zentrum einen Termin für den Gesundheitscheck
ihres Kindes, schaffen es aber nicht, ihn wahrzunehmen. Das kann eventuell daran liegen, dass sie
nicht lesen können oder nicht wissen, wie sie zum
Gesundheitsamt kommen. „Da braucht es also
mehrsprachige Informationen an den Orten, wo die
Geflüchteten untergebracht sind. Nötig sind informierte Ansprechpartner und geschulte Begleiter“,
bemerkt Kornelia Meder, Leiterin des Antidiskriminierungsbüros der Caritas Köln. Eine Lehrerin berichtet: „Bei uns findet der Gesundheits-Termin in
der Schule statt. An zwei Vormittagen sind die Ärzte
vor Ort. Ich weiß nicht, warum das nicht überall so
funktioniert.“
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /10
LERNHEMMUNGEN?
„Was mich vor allem stört: Es gibt keine richtigen Erhebungsverfahren um festzustellen, welche Leistung ein Kind gegenwärtig bringen kann – ist es kognitiv altersentsprechend
entwickelt? Hat es eventuell eine Lernhemmung aufgrund von
Fluchterlebnissen?
Im Endeffekt muss ich aber sagen: Die Kinder schaffen es, sich
gut zu integrieren. Die sozialen Regeln zwischen den Kindern
erfassen sie sehr schnell. Meistens lernen sie die Sprache innerhalb von drei bis sechs Monaten recht gut. Allerdings müssen sie dann oft als Dolmetscher für ihre Eltern dienen.“
Anja Gurk, Nachmittagsbetreuung Gemeinschaftsgrundschule
Zwirnerstraße
Eine Teilnehmerin erzählt: „Ich habe schon monatelanges Hickhack erlebt, weil
das Schulamt sagt: der bleibt jetzt da, die Schule aber sagt: der bleibt nicht da!“
Eine andere: „Es gibt Schulen, in denen die Kinder extrem lange in Seiteneinsteigerklassen verharren.“ Und: „Das System der internationalen Förderklassen
ist weder ausgereift noch individualisiert. Manche Kinder werden nach einer
gewissen Zeit in normale Klassen integriert, obwohl sie noch gar nicht auf dem
Level sind, das zu stemmen – es passiert aber auch das genau Entgegengesetzte.“
Außerdem wird bemängelt: „Für Deutsch als Zweitsprache gibt es kein einheitFür EIN ANDERES, EIN INKLUSIVES SCHULSYSTEM wirbt
Klaus Adrian, pensionierter Lehrer und aktiv in der Willkommensinitiative Moselstraße:
„Ich glaube, wenn das deutsche Schulsystem wirklich irgendwann Inklusion ernst nimmt, löst sich das Problem von selbst.
Denn wenn man inklusiv sein will, dann hat man auch die nötigen Strukturen und die personellen und finanziellen Ressourcen, um Flüchtlinge zu integrieren - das ist der Dreh- und
Angelpunkt. Wir haben ein hochgradig selektives Schulsystem.
Wir haben ein defizitorientiertes Schulsystem. Wir gucken
immer, was der eine oder andere nicht kann und warum er nicht
ins Gymnasium oder nicht in die Realschule passt. Und dann
schulen wir ihn ab. Und da haben natürlich alle Flüchtlinge, die
nicht Deutsch können, ein Riesen-Problem. In Schweden habe
ich Folgendes erlebt: Mathematikunterricht in einer achten
Klasse. Da saßen zwei Flüchtlingskinder in einer Ecke mit einem
Dolmetscher. Sie konnten dem Unterricht wunderbar folgen.
Was machen wir? Weil sie nicht Deutsch können, landen die im
Zweifelsfalle nicht da, wo sie hingehören. Hier wird oft nach
Alter sortiert. Alter ist aber kein Indiz für Qualifikation.“
liches System.“ – „Viele Lehrkräfte werden ins kalte Wasser geworfen, sind
kaum vorbereitet.“
Farima Flaig Sadeghi weist auf eine völlig vernachlässigte Flüchtlingsgruppe
hin: „Jugendliche zwischen 16 und unter 18 fallen komplett durchs Raster.“ Auch
Über-18-jährige sollten wie bereits in Bayern Berufsschulen besuchen dürfen.
Angesprochen wird auch das Thema Mobilität: Wie kommen die Kinder in die Bildungseinrichtungen? Ist das organisiert, wie erfahren sie das? Problematisch
seien zuweilen auch lange Schulwege. Manche Kinder fahren länger als eine
halbe Stunde durch die Stadt. Für kleinere Kinder sei es noch schwieriger, in
deutschen Bildungseinrichtungen zu landen als für diejenigen im Schulalter:
„Was gar nicht gut funktioniert, ist, Kitaplätze zu finden. Es wird eine Meldebescheinigung für das Kind verlangt – ein Unding!“
Erwähnt werden aber auch positive Beispiele. So hat die Caritas in Leverkusen
eine Sprachgruppe eingerichtet, zu der die fünf- bis sechsjährigen Flüchtlingskinder mit einem Bully im Heim abgeholt werden. Sie bekommen dann eine
alltagsintegrierte Sprachförderung. Drei Tagesmütter sind in dieser Gruppe beschäftigt. Ein Student berichtet von seiner Bachelor-Arbeit zur Schulsituation
junger Geflüchteter: „Bei der Recherche bin ich immer wieder darauf gestoßen,
dass es zur Flüchtlingsbildung kaum Erhebungen gibt.“
In einer weiteren Austauschrunde erarbeiten die Weltcafé-Besucher_innen Forderungen, die sie aus den gesammelten Erfahrungen ableiten. Eine Wortmeldung jagt die nächste. Leidenschaftlich werden dringende Wünsche
vorgetragen. Es ergibt sich eine umfangreiche Liste.
Ausgewählte Punkte seien hier genannt:
* Einig waren sich die Anwesenden darin, dass eine Schulpflicht für alle
bundesweit gelten sollte. Die Kinder müssen dort beschult werden, wo
sie sich aufhalten. „Ob die Personen Papiere haben oder nicht, es muss
Schulpflicht bestehen. Nach einem Monat muss die Anmeldung an einer
Schule erfolgen. Das darf keine Ermessensfrage mehr sein!“
* Bildung kostet auch Geld. Daran darf das Recht auf Bildung für alle
nicht scheitern.
* Die Lehrerausbildung muss der veränderten Situation angepasst werden – erforderlich ist interkulturelle Kompetenz.
*Unbedingt nötig sind mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund
sowie Muttersprachler_innen zur schulischen Einschätzung der neu eintreffenden Schüler_innen.
* Alle, die ankommen, sollten einen Integrationskurs besuchen dürfen,
der fünfmal pro Woche stattfindet und ein ordentliches Zeitkontingent
hat!
* Rücknahme der für den Kölner Haushalt geplanten Kürzung um 10,5
Prozent aller sozialen Ausgaben: Gerade jetzt muss aufgestockt werden!
* Um auch Flüchtlingskinder angemessen unterrichten zu können,
braucht es mehr Personal und grundsätzlich kleinere Klassen.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Schwerpunkt /11
* Wir brauchen Kulturmediatoren, wie es sie in einigen Ländern schon
gibt. Kulturmediatoren besitzen Kompetenzen in der interkulturellen Arbeit, im Konfliktmanagement, im Dolmetschen und im Ausländerrecht.
Sie können mitwirken „bei der notwendigen Sensibilisierung der NichtFlüchtlingskinder für den Umgang mit Flüchtlingskindern, denn die
schönste Schulpflicht nützt nichts, wenn die Kinder in die Schule kommen und dort Parias sind“.
* Es sind Schulbegleiter nötig, die nicht mehr als drei Familien haben,
um die sie sich kümmern.
* In jedem Wohnheim soll eine Person eingestellt werden, die sich um
die Bildung der Familien und konkrete Schulzuweisungen kümmert.
* Ein gleichberechtigter Zugang zum Gesundheitssystem von Anfang an
ist besonders für Kinder und Jugendliche notwendig.
* Die Wohnheime müssen räumlich besser ausgestattet werden. Geflüchtete benötigen einen PC-Raum und WLAN, Kinder und Jugendliche
brauchen Räume zum Lernen.
* Die Eltern brauchen Deutschkurse. Im Moment haben sie, wenn sie
Flüchtlinge sind, keinen Zugang zu den Integrationskursen. Das soll geändert werden!
MIT GUTEM BEISPIEL VORAN: INTENSIVE BEGLEITUNG
„Das neue Projekt „Amen Ushta“ des Kölner Rom e.V. unterstützt
Roma-Flüchtlingskinder in fünf rechtsrheinischen Schulen. „Amen
Ushta“ bedeutet „Wir stehen auf“. Wir verbinden Schulmediation,
Alphabetisierung und Elternarbeit. Wir vernetzen die verschiedenen Player vor Ort und begleiten die Familien auf ihrem Weg in
die deutsche Bildungslandschaft. Ich kenne Kinder, die zwei Jahre
zuhause gesessen und auf einen Schulplatz gewartet haben.
Auf der anderen Seite ist die Schule sehr streng, was die Verhängung von Bußgeldern bei Fehlzeiten betrifft. Ich finde es merkwürdig, dass man einerseits die Leute monate-, fast jahrelang
warten lässt, bis sie einen Schulplatz bekommen; dann verändert
sich das Leben, die Kinder werden immer schulferner – und wenn
sie dann nicht jeden Tag von der ersten bis zur letzten Stunde am
Unterricht teilnehmen, gibt es gleich ein Bußgeld. Was wir brauchen, ist – neben viel Engagement von den LehrerInnen – der Einsatz von Dolmetschern und Sozialarbeitern. Sie dürfen sich auch
nicht zu fein sein, die Kinder im Flüchtlingsheim zu besuchen.“
Christina von Haugwitz, Alphabetisierungsfachkraft im Projekt
„Amen Ushta“ des Kölner Rom e V.
Schließlich erntet Eliza Aleksandrova vom „Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen“ einhelligen Applaus für ihre Forderung nach einem „legalen Einwanderungsweg, damit alle
Flüchtlinge ankommen und nicht unterwegs sterben müssen“.
Abschließend bekräftigt das versammelte Publikum, die Forderungen an Stadt,
Land und Bund richten zu wollen. Schließlich könne man mit Argumentation,
Pressearbeit und Druck der Beteiligten doch einiges erreichen. Als Beispiel
führt Kornelia Meder von der Integrationsagentur der Caritas Köln die Erfahrungen mit Zuweisungen und Koordination der Gesundheitsamtstermine an:
„Als wir anfingen mit der Initiative „Schulplätze für alle“, war es so: Eine einzige Honorarkraft im Kommunalen Integrationszentrum war zuständig für Zuweisungen in der gesamten Stadt Köln. Wir sagten: Das kann nicht
funktionieren! Und dann haben wir die Presse eingeschaltet. Es wurden ziemlich schnell Arbeitskräfte mit vollen Stellen zunächst von anderen Themen abgezogen, um die Zuweisungsaufgabe zu übernehmen. Der nächste Schritt war
die Verbindung mit dem Gesundheitscheck beim Amt. Das lief damals völlig
abgekoppelt. Mittlerweile ist es so, dass das Kommunale Integrationszentrum
diese Termine koordiniert. Das zeigt uns: Mit vereinten Kräften können wir
etwas erreichen!“
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Vorgestellt /12
Asylbewerber_innen erzählen ihre Geschichte in Bild und Text – diese ungewöhnliche Wanderausstellung konzipierte die unabhängige Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“, in der sich junge Flüchtlinge, Menschen mit
Migrationsgeschichte und Bürger_innen, die sich für ein besseres Leben und
eine stärkere Einbindung von Flüchtlingen vor Ort einsetzen, engagieren. Ver-
eine, Institutionen oder Initiativen, die die Wanderausstellung zeigen möchten,
können sich unter der E-Mail-Adresse [email protected] (Nelli Foumba)
oder [email protected] bei den Initiatoren des Projekts melden.
http://jogspace.net/
Was nimmt man mit, wenn man nicht
weiß, wohin man geht? Wie richtet man
sich ein, wenn man nicht weiß, wie lange
man bleiben kann? Wie verständigt man
sich, wenn man eine Sprache nicht
spricht? Ist Duldungsstatus ein Begriff, der
Mut machen kann? Und wie wächst man
auf, wenn man zur Volljährigkeit abgeschoben werden kann, in eine Heimat, die
man nicht kennt?
Zu diesen Fragen präsentiert eine Wanderausstellung des Flüchtlingsrats NRW
gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden der ecosign/Akademie für Gestaltung aus Köln fotografische Antworten.
Die Ausstellung zum Themenfeld Flucht
und Asyl kann noch bis zum 30. November in der Einrichtung „Kolping Jugendwohnen Köln-Mitte“, Helenenstraße 13,
besichtigt werden.
Infos zur Ausstellung http://nirgendwoisthier.de/ und www.frnrw.de
MAJID: ICH BIN JA MITTLERWEILE VOLL EINGEDEUTSCHT.
ICH FREUE MICH DARÜBER WENN DIE LEUTE SAGEN, SIE SPRECHEN ABER GUT DEUTSCH...UND ICH ESSE
SCHWEINEFLEISCH.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Vorgestellt /13
NATASCHA: ICH SCHAUE HINAUS UND ERWARTE,
DASS SICH DRAUSSEN WAS VERÄNDERT.
In Berlin wurde Ende April eine aktuelle Dokumentation vom Humanistischen Verband Deutschland
und der Lebenshilfe Berlin vorgestellt. Die Herausgeber sprechen von Menschenrechtsverletzungen
an Kindern mitten in Deutschland
Schätzungen zufolge sind zehn bis fünfzehn Prozent
der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Deutschland
krank oder behindert. Die aktuelle Dokumentation
„(K)eine Zukunft – Flüchtlingskinder mit Behinderung / Menschenrechtsverletzungen in Berlin“ gibt
erstmals eine umfassende Darstellung der besorgniserregenden Situation in Berlin.
Behinderte Flüchtlingskinder gehören entsprechend
der EU-Richtlinie 2003/9/EG zu den „besonders
schutzbedürftigen Flüchtlingen“. Dennoch sind sie
oft von Ausweisung bedroht, was dazu führt, dass
ihnen medizinische und sonstige Leistungen versagt
bleiben bzw. erst nach Monaten oder Jahren bewilligt werden.
EIN EINZELFALL?
Hisham ist seit einem Bombenangriff in seiner Heimat schwerstbehindert. Im Dezember 2012 floh
seine Mutter mit ihm und seiner Schwester nach
Berlin. Bis heute muss der mittlerweile 15-Jährige
im Kinderwagen der kleinen Schwester geschoben
werden, weil die Familie immer noch auf einen Roll-
stuhl wartet. Dem vierjährigen Salah, der als Kind
palästinensischer Eltern in Berlin geboren wurde,
droht die Abschiebung in den Libanon, wo Kinder
mit Down-Syndrom kaum einen Zugang zu medizinischen und sozialen Leistungen haben. Der gleichaltrige Ali leidet an einer zerebralen Parese und
entwickelt wegen zu spät bewilligter Hilfsmittel
Fehlstellungen in den Gelenken, die zu bleibenden
Schäden mit Folgeoperationen führen.
„Es sind keine Einzelfälle! Wir waren selbst sehr erschrocken, dass es sich um ein strukturelles Problem
handelt“, mahnt Benita Eisenhardt von der Fachstelle MenschenKind im Humanistischen Verband
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Vorgestellt /14
Berlin-Brandenburg, die den Prozess einer systematischen Aufarbeitung mit weiteren Akteuren der
Behinderten- und Flüchtlingshilfe angestoßen hat.
„Wir dürfen nicht hinnehmen, dass hier massiv
gegen Kinder- und Menschenrechte verstoßen
wird“, fordert Musa Al Munaizel, Leiter der Lebenshilfe Integrationskita in Berlin-Neukölln.
LEISTUNGEN UNTER VORBEHALT
Die Politik ist gefordert: 2012 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Paragraphen
1 bis 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG)
gegen die EU-Aufnahmerichtlinie von 2003 verstoßen. Bis Mitte Juli 2015 muss Deutschland das Gesetz novellieren und an geltendes EU-Recht
anpassen. Unberührt von der Novellierung bleibt jedoch u.a. der Paragraph 6, der bei nicht akuten Erkrankungen die Bewilligung von Leistungen bei der
medizinischen Versorgung ins Ermessen der Behörden stellt, was ein langwieriges Prüfverfahren voraussetzt und insbesondere Kinder mit
Behinderungen in ihren Entwicklungschancen beeinträchtigt.
die von Deutschland beide ratifiziert worden sind.
Experten wie die Menschenrechtlerin Judy Gummich, die Berliner Rechtsanwältin Julia Kraft und
Sven Veigel vom Berliner Netzwerk für besonders
schutzbedürftige Flüchtlinge (BNS) fordern, das
Asylbewerberleistungsgesetz wie auch die asyl- und
aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen konsequent
im Sinne der Menschenrechte von Kindern mit Behinderung auszulegen. Damit wären die bisher bei
der Bewilligung notwendiger Hilfen sehr restriktiv
gehandhabten Ermessensspielräume nicht mehr gegeben.
Die gegenwärtige Praxis widerspricht eindeutig dem
in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Grundsatz „Das Kindeswohl hat absoluten Vorrang“ sowie der UN-Behindertenrechtskonvention,
Die Herausgeber der Dokumentation – die Lebenshilfe Berlin, der Humanistische Verband Deutschlands - Landesverband Berlin-Brandenburg (HVD),
MenschenKind - Fachstelle für die Versorgung chronisch kranker und pflegebedürftiger Kinder und der
Berlin Global Village e.V. – fordern:
Das AsylbLG ist als diskriminierendes „Sondergesetz“
abzuschaffen. So lange das AsylbLG gilt, soll eine
Ausführungsvorschrift zur Auslegung von §6
AsylbLG ein verbindliches und transparentes Verfahren zur Versorgung schaffen.
Beschleunigte Leistungsverfahren sollen sicherstellen, dass die Kinder schnellstmöglich eine angemessene Versorgung erhalten und die ihnen
Geflüchtete Menschen sollen schneller als bisher an
Sprachkursen teilnehmen können – unabhängig
von ihrem Aufenthaltsstatus. Das forderte jetzt
Frank Johannes Hensel, Direktor der Caritas Köln,
von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Bisher dürfen sie zwar nach drei Monaten Wartezeit arbeiten. Bis sie aber Zugang zu einem öffentlich
geförderten Deutschkurs bekommen, verstreichen
durchschnittlich acht Monate. So lange dauert ein
Anerkennungsverfahren in der Regel. Zu lange an-
gesichts der Bedeutung von Sprachkenntnissen für
die Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt, betont Hensel. Wer früher an einem Sprachkurs teilnehmen möchte, muss rund 2000 Euro für
600 Stunden selbst bezahlen. Die allermeisten Asylbewerber_innen oder geduldeten Flüchtlinge können das keinesfalls leisten.
Auch der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit bemängelt, dass in Deutschland zu wenig Geld
für Sprachkurse zur Verfügung gestellt werde und
zustehenden Rechte auf Versorgung und Teilhabe
wahrnehmen können.
Eine einheitliche und bedarfsgerechte Steuerung
der Versorgung der Kinder braucht einen geregelten Feststellungsbedarf, eine direkte Anlaufstelle für
die Betroffenen mit adäquaten personellen Ressourcen sowie qualifiziertes Fachpersonal auf allen
Ebenen.
Über den Bundesrat soll sich das Land Berlin bei der
Novellierung des AsylBLG für die Umsetzung der EURichtlinie und die Einhaltung menschenrechtlicher
Standards einbringen und dabei auf die Erfahrungen für ein Beurteilungs- und Feststellungsverfahren besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge
verweisen, wie es das Modellprojekt des Berliner
Netzwerks besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge
seit 2009 entwickelt hat.
Link zur Dokumentation:
http://www.menschenkind-berlin.de/sites/menschenkind-berlin.de/files/HVD_Menschenkind_Fluechtlingskinder.pdf
verlangt angesichts der gestiegenen Flüchtlingszahlen zusätzlich 300 bis 400 Millionen Euro bis
2017.
Die nordrhein-westfälischen Koalitionsfraktionen
von SPD und Grünen verlangen gleichfalls vom Bund
bezahlte Sprach- und Integrationskurse für alle Asylsuchenden und Geduldeten. Flüchtlinge zu Passivität und Isolation zu verdammen, so der
SPD-Landesparlamentarier Josef Neumann, sei ein
Unding.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Aktuelles /15
Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen fordern
ein Gesamtkonzept für die Aufnahme unbegleiteter
minderjähriger Flüchtlinge.
"Seit zwei Jahren gibt es eine krisenhafte Entwicklung", sagte Irmela Wiesinger vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)
auf einer Fachtagung Ende Mai in Frankfurt. Infolge
der stark steigenden Ankunftszahlen seien die Einrichtungen überlastet. Das Kindeswohl könne in einigen Bundesländern nicht mehr im gesetzlich
geforderten Maß beachtet werden.
Irmela Wiesinger arbeitet beim Jugendamt Hofheim
und ist Koordinatorin für Hessen im Bundesfachverband. Sie schildert die Situation der mehr als 14.000
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die sich
Ende letzten Jahren in Deutschland aufgehalten
haben, als äußerst schwierig, denn zwei Drittel der
Jugendhilfe-Einrichtungen hätten keine Erfahrung
mit diesem Personenkreis. Die Haupt-Herkunftsländer der zumeist jugendlichen unbegleiteten Flüchtlinge waren Afghanistan, Somalia und Eritrea.
KRANK
Die medizinische Erstuntersuchung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sei häufig durch Verständigungsschwierigkeiten erschwert, berichtete
die Ärztin Meike Huber vom Frankfurter Gesundheitsamt. Die Hälfte der Jugendlichen brauche drin-
gend eine Zahnbehandlung, jeder fünfte habe Hauterkrankungen, oft von Gefängnisaufenthalten etwa
in Libyen. Auch habe jeder Fünfte Erreger im Stuhl
infolge schlechter Ernährung. Häufig seien auf der
Flucht erlittene Brüche oder Schnittverletzungen.
Dazu kämen Magenbeschwerden, Angstzustände
und Schlafstörungen.
TRAUMATISIERT
60 bis 80 Prozent der jungen Flüchtlinge sind nach
Angaben der Psychologin Ilka Quindeau traumatisiert. Die meisten schwiegen jedoch darüber und
verhielten sich "auffällig unauffällig". Daher würden ihre psychischen Belastungen von den Betreuern leicht unterschätzt. Manche erinnerten sich
immer wieder an traumatische Erlebnisse, zögen
sich sozial zurück oder seien reizbar und aufbrausend. Das Überleben einer traumatisierenden Situation erzeuge im Nachhinein Scham- und
Schuldgefühle.
VERTEILT PER GESETZ
Das Bundesjugendministerium hat für Juni einen
Gesetzentwurf zur Verteilung der jungen Flüchtlinge
auf die Bundesländer ab 2016 angekündigt. Dieser
geplanten bundesweiten Verteilung steht der Bundesverband kritisch gegenüber. An den bisher erkannten Mängeln wie dem Fehlen von Fachpersonal
und Behandlungsmöglichkeiten für traumatisierte
alleinstehende Jugendliche würde sich dadurch
nichts ändern. „Letztlich werden die Jugendlichen
und ihre Probleme einfach an andere Orte geschoben“, sagt Thomas Berthold, Referent des Bundesfachverbands UMF.
GESAMTKONZEPT GEFORDERT
Quindeau und Wiesinger fordern von den Jugendund Ausländerbehörden des Landes, der Kreise und
Kommunen, der freien Wohlfahrtsverbände und
Einrichtungsträger die Entwicklung einer "kompetenten Aufnahmestruktur" für minderjährige Flüchtlinge, um die Standards der Jugendhilfe zu
gewährleisten. Dazu gehören der Aufbau von Kompetenzzentren, die Aus- und Weiterbildung von Betreuern, eine psychotherapeutische Versorgung der
Jugendlichen und ihre Beschulung von Anfang an
sowie die Einbeziehung von ehrenamtlichen Helfern.
Die Aufnahme der Jugendlichen sollte ihre Ressourcen stärker berücksichtigen, sagte die Psychologin,
und ihnen erlauben, ihre psychische Verfassung an
einem sicheren Ort zu stabilisieren. Außerdem sollten sie eine Zukunftsperspektive entwickeln können.
(Quellen: http://www.migazin.de/2015/06/05/forscher-mahnen-konzept-fuer-minderjaehrigefluechtlinge-an/, und http://www.b-umf.de/
DRAUSSEN, VOR DER SCHULTÜR
(Bonn) 35 Kinder warten in Bonn auf einen Schulplatz
– Druck auf Landesministerien wächst
In Bonn stehen derzeit 35 Kinder auf der Warteliste
für einen Schulplatz. Zwei Wochen zuvor konnten
125 junge Flüchtlinge in zusätzlichen internationalen Klassen versorgt werden. Zwar müssten die Kinder längere Wege zurücklegen, aber dennoch seien
nahezu alle jüngeren Flüchtlingskinder, laut Schul-
aufsicht, in Schulen vermittelt worden. Problematisch ist vor allem die Beschulung in weiterführenden Schulen. Schulamtsleiter Hubert Zelmanski
erklärte schon Anfang Mai: „Unsere Schulen sind
auch schon so rappelvoll. Alle Ressourcen sind ausgeknautscht. Die Stadt Bonn geht davon aus, dass
sich die Schulsituation weiter zuspitzen und die
Wartezeiten verlängern werden: Die Schuldezer-
nentin Angelika Maria Wahrheit forderte den Schulausschuss dazu auf, den Druck auf die Landesregierung zu erhöhen, damit mehr finanzielle Mittel zur
Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig wurden unterstützende Maßnahmen gefordert und die Stadtverwaltung dazu angehalten, regelmäßig über die
Situation von Flüchtlingskindern zu berichten.
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Aktuelles /16
Am 17. 4. 2015 veröffentlichte der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) in Genf nach eingehender Staatenberichtsprüfung seine Kritik an und seine Empfehlungen zu der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. Auch im
Bereich der Bildung wurde den bildungspolitisch
Verantwortlichen ein fehlendes menschenrechtsbasiertes Verständnis von Inklusion nachgewiesen.
Während die Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte und die BRK-Allianz, die
beide den Prozess der Überprüfung Deutschlands
aktiv mit eigenen Stellungnahmen begleitet hatten,
unverzüglich die Abschließenden Bemerkungen
(Concluding Observations) des Fachausschusses verbreiteten und begrüßten, wartet man bislang vergeblich auf Reaktionen aus den Kultusministerien
und der Kultusministerkonferenz.
WAS IST LOS?
Nach Sichtung aller Pressemittteilungen, die in
jüngster Zeit von den Pressestellen der Kultusministerien herausgegeben wurden, steht fest, dass kein
einziges Bundesland sich presseöffentlich zu den kritischen Abschließenden Bemerkungen verhalten
hat. Auch eine gemeinsame Pressemitteilung der
KMK liegt dazu nicht vor. Was verschlägt den Kultusministerinnen und -ministern, die sonst bei jeder
Gelegenheit sich gerne zu Inklusion äußern und
nicht müde werden, vollmundig ihre Erfolge auf diesem Gebiet darzustellen, die Sprache?
Dass man die in englischer Sprache abgefasste Stellungnahme des UN-Fachausschusses nicht versteht,
darf doch wohl mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Ist man deshalb so kleinlaut, weil das mit unabhängigen Experten besetzte und im Auftrag der
Vereinten Nationen tätige Fachgremium die bildungspolitisch Verantwortlichen in den Ländern
wegen ihrer ungenügenden Maßnahmen abgewatscht hat?
Will man die Bedeutung des UN-Fachausschusses
als offizielles Überwachungsgremium durch bewusste Nichtbeachtung kleinhalten?
Oder könnte es sich um ehrliche Betroffenheit handeln, weil der zuständige Fachausschuss die strukturelle Unvereinbarkeit der segregierten Sonderschulen mit einem inklusiven Bildungssystem festgestellt und damit die bisherigen Annahmen grundsätzlich erschüttert hat?
BAYERN UND HESSEN LIEFERN BEISPIELE FÜR
UNBELEHRBARKEIT
Das bayerische Kultusministerium teilt drei Tage
nach der veröffentlichten Stellungnahme des UNFachausschusses in einer Presseerklärung mit, dass
16 Förderschulen das "Schulprofil Inklusion" verliehen wird. Als wäre nichts gewesen, werden Förderschulen mit dem Prädikat Inklusion geadelt und als
fester Bestandteil des "inklusiven" Schulsystems in
Bayern bestätigt.
Das hessische Kultusministerium bekennt sich in
einer Presseerklärung vom 15. 4. 2015 offen und
ohne den geringsten Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des eigenen Handelns dazu, dass in 51 Fällen Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gegen
den Wunsch der Eltern im Schuljahr 2014/15 der
Weg in die Regelschule versperrt wurde, weil die
personellen, räumlichen oder sächlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren. Dabei konnten auch
die Verantwortlichen in Hessen per Livestream die
Staatenüberpüfung von Deutschland am 26. und 27.
3. in Genf verfolgen und spätestens dann feststellen, dass der Fachausschuss die Verweigerung des
Zugangs zur Regelschule als schwerwiegende Konventionsverletzung wertet
OHNE DRUCK GEHT ES IN DEUTSCHLAND NICHT.
Alles deutet darauf hin, dass die politisch Verantwortlichen Druck brauchen. Die Monitoring- Stelle
hat mit ihrer deutschen Übersetzung der Abschließenden Bemerkungen eine wichtige Voraussetzung
für eine öffentliche gesellschaftliche Debatte über
dringend notwendige bildungspolitische Weichenstellungen geliefert. Die BRK-Allianz wird als zivilgesellschaftliches Bündnis auch für eine
gesellschaftliche Verbreitung der Kritik sorgen und
die Politik damit konfrontieren. Mittendrin e.V. in
Köln hat als Elterninitiative eine ideenreiche Kampagne ins Netz gestellt und will zeigen, dass viele
Menschen sich nicht mit dem abspeisen lassen, was
politisch als Inklusion ausgegeben wird. Sie bietet
viele Möglichkeiten der Mitwirkung an.
Dr. Brigitte Schumann
Zum Weiterlesen: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/pre
ssemitteilung-un-ausschuss-kritisiert-gesellschaftliche-ausgrenzung-von-menschen-mit-behinderung/
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Aktuelles /17
NICO: DER LÖWE IST STARK UND STOLZ.
ABER AUCH EIN FEIGLING,
SCHÜCHTERN UND ÄNGSTLICH.
Die wenigsten Lehrkräfte an den allgemeinen Schulen fühlen sich in der Lage, den gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung
durchzuführen.
Das ist das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage
unter 1003 Lehrer_innen, die der Verband Bildung
und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben hatte und
die Mitte Mai präsentiert wurde. Danach halten 77
Prozent das Fortbildungsangebot für weniger bis
gar nicht gut. Neben der schlechten Vorbereitung
beklagen Lehrer_innen zu große Klassen und die
mangelnde personelle und räumliche Ausstattung.
Gewünscht wird von 98 Prozent der Befragten eine
Doppelbesetzung durch Lehrer_innen im Klassenraum.
Sechs Jahre, nachdem Deutschland sich mit der UNBehindertenrechtskonvention verpflichtet hat,
einen inklusiven Unterricht umzusetzen, beklagt der
NRW-Landesvorsitzende des VBE Udo Beckmann,
die Lehrer_innen würden „vom Dienstherrn einfach
ins kalte Wasser geworfen“. Laut Beckmann fehlen
in NRW 7000 Sonderpädagog_innen.
„Zum Glück“, so Natascha Reisen, Mutter eines Kindes mit geistiger Behinderung, „müssen unsere Kinder nicht mehr länger auf den gemeinsamen
Unterricht warten, bis alle finanziellen, personellen
und dann noch die selbst- und fremdgemachten
Probleme beseitigt sind.“ Die Elternvereinigung
„mittendrin – eine Schule für alle“ hat unter dem
Motto „Inklusion schaffen wir!“ Fragen und Antworten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne
Behinderung, Eltern und Lehrern in kurzweiligen
und aussagekräftigen Filmen zusammengestellt, die
eines gemeinsam haben: Sie vermitteln eine Vor-
stellung davon, wie Inklusion gehen kann.
Eine der Fragen lautet: Ist das eigentlich nicht viel
zu anstrengend mit der Inklusion?
Max, Schüler: Nö.
Luzie, Schülerin: Nö, ich finde das voll gut!
Fidi, war Schüler: Überhaupt nicht. Das ist eigentlich ein Grund, warum ich jeden Morgen aufstehe
und meinen Job gerne mache.
Walter, Sonderpädagoge: Nicht anstrengender als
Schule auch ist.
Niklas, Schüler: Für wen?
Nina, Schülerin: Für die Lehrerinnen schon.
Mareike, Mutter und Bloggerin: Ja, das Leben ist anstrengend und Inklusion auch. Das kann aber auch
Spaß machen.
Walter, Lehrer: „Das ist eine Frage, die ist(…) alles
ist schwer, bevor es nicht leicht ist.“
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Vorgestellt /18
GÜNTER UND FLATCHER:
FLATCHER ÖFFNET FÜR MICH
DIE HERZEN DER MENSCHEN.
Maßnahmen gegen Diskriminierung und Integration von Roma, ja sicher. Aber bitte nicht bei “uns”!
Ungefähr so beschrieben Prof. Dr. Albert Scherr von
der Universität Freiburg und Dr. Orhan Jasarovski,
Projektleitung bei Acasa Dom in Wuppertal, die Haltung von Nicht-Roma in der EU.
Die Begegnung der beiden Antirassismus-Aktivisten
fand im April an der Kölner Fachhochschule statt. Im
Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Erfindung der
Anderen: Diskurse im Kontext von Inklusion“ - einer
Kooperation zwischen der Integrationsagentur der
AWO Mittelrhein e.V., der Montag Stiftung Jugend
und Gesellschaft und der Fachhochschule Köln fin-
den Diskussionen zwischen Theorie und Praxis statt.
Unübersehbar aktuell sind Vorurteile und Rassismen
gegen Roma und Sinti bis hin zur strukturellen Diskriminierung und Gewalt. Prof. Dr. Albert Scherr berichtete von Untersuchungen, die belegen, dass
rund 75 Prozent aller EU-Bürger_innen zwar der
Einschätzung zustimmen, dass Roma von Diskriminierung betroffen sind, aber nur 41 Prozent befürworten „Maßnahmen zu einer besseren Integration
von Roma“. Außerdem lehnen 34 Prozent der Befragten ab, dass ihre Kinder „mit Roma in die gleiche
Schule gehen“.
Die einzige Gemeinsamkeit der heutigen Roma in
Europa ist, so Jasarovski und Scherr übereinstimmend, der Rassismus, der ihnen begegnet.
Über die Geschichte(n) der Roma und ihrer Migration ist wenig bekannt, außer dass ihre Vorfahren
ursprünglich aus Indien stammen und seit mehr als
800 Jahren in Europa leben. Selbst „das romatypische Romanes“ zählt laut Jasarovski an die 72 unterschiedliche Dialekte. Die Roma in Europa sind so
unterschiedlich wie die Nicht-Roma in Europa. Und,
so Scherr weiter, „es besteht keine Binnenloyalität
zwischen den Roma-Gruppen über Ländergrenzen
hinweg“. Allenfalls zwischen Dorfgemeinschaften
oder über die regionalbedingte Nähe zueinander
Vielfalt – Das Bildungsmagazin
Vorgestellt /19
kann auf Gemeinsamkeiten geschlossen werden. Weder positive Vorurteile wie
der „Gypsy-Klang“, noch negative Assoziationen wie „Nomadentum“ können
nach einem Vergleich der Gruppen Bestand haben. „Unsere Assoziation mit
‚den‘ Roma bezieht sich lediglich auf ein bestimmtes Bild von Menschen – in
der Regel Bettler - denen wir auf der Straße flüchtig begegnen“. Gleichzeitig
würden die Augen vor der Vielfältigkeit dieser vermeintlich homogenen Gruppe
verschlossen bleiben.
Scherr macht deutlich, dass nicht die Gleichheit oder das Verhalten „der“ Roma
verantwortlich sind für einen Anti-Roma-Rassismus, sondern die Konstruktionen
einer vermeintlich homogenen Gruppe, die sich unterscheidet von einer ebenfalls vermeintlich homogenen eigenen, aber dominanten Gruppe. Am Beispiel
„wir“, die Sesshaften im Gegensatz zu denen, „die Nomaden“ illustriert Scherr
die Mechanismen.
Fakten, die auf eine existentielle Diskriminierung hinweisen, wie unterschiedliche Lebenserwartungen von Roma-Frauen (62,5 Jahre) und Nicht-RomaFrauen (75 Jahre) in Ungarn, führten auch deshalb nicht zu einem Aufschrei des
Entsetzens.
Die Diskriminierung von Roma hier und anderswo wird ebenso hingenommen
wie ihre Abschiebung in Herkunftsländer, in denen sie durch Gewalt bedroht
sind sowie den Ausschluss aus sozialen Systemen und von Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten fürchten müssen. In der Bildungsarbeit müsste deshalb, so
Scherr, zunächst einmal der Antidiskriminierungsgrundsatz „gleiche Würde und
gleiche Rechte“ erarbeitet werden.
Das romantische Bild des „fahrenden Volkes“ lebt, so Scherr, von der Vorstellung eines gruppeneigenen Wesensmerkmals „der Roma“. In Wirklichkeit aber
ist die Nichtsesshaftigkeit durch das Verbot einer Ansiedlung und einer regulären und angesehenen Erwerbstätigkeit entstanden. Um ihr Überleben zu sichern, bleibt all jenen, die dieser Gruppe zugeschrieben werden, nur die
Möglichkeit, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen.
Nach Scherr sind diese Zuschreibungen zum Wesen „der Sinti und Roma“ in erster Linie Auswirkungen der Diskriminierung. Die Folgen von Vertreibung, von
eingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt, dem Bildungssystem und der Krankenversorgung prägen bis heute.
Der Sozialwissenschaftler Scherr verbindet den aktuellen Rassismus gegen Roma
mit der Verweigerung des Lernens aus der Geschichte des Nationalsozialismus.
Während sich in Bezug auf den Völkermord an den europäischen Juden eine
Scham entwickelt habe, würde bis heute das Ausmaß der Verfolgung und Ermordung der Roma nicht einmal gesellschaftlich wahrgenommen. Es fehle eine
„moralischen Sperre“ gegen Anti-Roma-Rassismus, die in Bezug auf Antisemitismus durch die Aufarbeitung der Vergangenheit existiere.
KONSTRUKTIONSELEMENTE DES ANTI-ROMA-RASSISMUS
NACH ALBERT SCHERR
• Nomaden in Differenz zur Sesshaftigkeit der Mehrheitsbevölkerung
• Nicht-Arbeitswillige in Differenz zur fleißigen Mehrheitsbevölkerung
• Nicht-ehrhafte Strategien („betteln, stehlen“, Sozialmissbrauch)
in Differenz zu den ehrbaren Berufen und Lebensweisen
• Kriminelle im Unterschied zur rechtschaffenen Mehrheitsbevölkerung
• ethnisches Kollektiv, das sich in eine individualisierte Gesellschaft freier und gleicher Bürger/innen nicht einfügt
Impressum
Herausgeber:
Arbeiterwohlfahrt
Bezirksverband Mittelrhein e.V.
Integrationsagentur
Dienststelle Venloer Wall 15, 50672 Köln
Verantwortlich (i. S. d. P.)
Andreas Johnsen, Geschäftsführer
Telefon: 0221 – 29942874
E-Mail: [email protected]
Redaktion
Donja Amirpur
Ariane Dettloff
Vico Leon
Farima Flaig-Sadeghi
Mercedes Pascual Iglesias
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