Kreuz-König und Herz

Kreuz-König und Herz-König
Palmsonntag
(Johannesevangelium 12, 12-16)
Liebe Gemeinde,
einige von Ihnen fragen sich vielleicht gerade: "Was war das denn?! Da schieben
welche einen Papp-Esel durch die Kirche; andere wedeln mit Papp-Zweigen in der
Luft herum, und der Spontanchor - das war allerdings nicht von Pappe! - singt: 'Hosanna, Hosanna, Hosanna!' ... Wollen die etwa - so wie letzten Sonntag die Uhr um
eine Stunde vorgestellt wurde -, wollen die jetzt etwa die Uhr wieder zurückdrehen,
und zwar (Schaltjahre nicht mitgerechnet) um 17.309.760 Stunden, also um 1.976
Jahre? Dann wären wir nämlich im Jahr 33 - und Jesus zieht gerade in Jerusalem
ein. Wollen die das?! Wollen die die Uhr zurückdrehen?!"
Nein, liebe Gemeinde, das wollen wir nicht. Wir wollen die Uhr nicht um 17 Millionen
Stunden zurückdrehen. Erstens können wir das gar nicht; und zweitens: selbst wenn
wir es könnten - es wäre eine "millionische" Eselei! Denn der, um den es an Palmsonntag geht, ist nicht Vergangenheit, sondern hier. Damit meine ich nicht den PappEsel, der hier gerade vorbeigeschoben wurde; und damit meine ich auch nicht den
Papp-Zweig, mit dem hier gerade gewedelt wurde; und damit meine ich auch nicht
den Spontanchor, der hier gerade "Hosanna" gesungen hat. Nein, der Palmesel, der
Palmzweig und der "Hosianna"-Ruf - das alles ist Nebensache an Palmsonntag und
ist Vergangenheit, die Hauptsache, der, um den es an Palmsonntag geht; der, der
nicht Vergangenheit ist; der, der jetzt gerade hier unter uns ist, liebe Gemeinde - wer
ist das?! ... Ja, das ist der, der beim Anspiel eben fehlte: der auf dem Esel, Jesus
Christus, "König und Herr", "König allein".
Bezogen auf unseren sechsten Leitsatz "Gottes Gegenwart feiern ..." steht in unserem Leitbild: "Als Christen leben wir davon, dass Christus, der Gekreuzigte, lebt."
Davon leben wir nicht nur an Ostersonntag, davon leben wir an jedem Tag des Jahres - auch heute. Deshalb sang der Spontanchor eben auch in der Gegenwartsform:
"Du bist König und Herr, /du regierst mit Macht! Deine Herrlichkeit ist offenbar." Ja,
liebe Gemeinde, Jesus Christus ist nicht Vergangenheit, sondern hier. Der Gekreuzigte ist auferstanden, er lebt; und das heißt: "Jesus Christus ist gestern und heute
derselbe und bleibt derselbe auch in Ewigkeit". Was sich also "gestern" ereignete,
Palmsonntag im Jahr 33, das kann sich auch heute ereignen, Palmsonntag im Jahr
2009. Das ist möglich - nicht, weil die Umstände damals und heute dieselben sind
(denn unser Esel hier ist kein Esel; und unsere Palmzweige hier sind keine Palmzweige; und unser Spontanchor hier singt nicht in Jerusalem) -, nein, nicht weil die
Umstände dieselben sind, kann sich Jesu Einzug heute hier ereignen, sondern weil
Er derselbe ist: Jesus Christus, "Herr und König", "König allein".
Aber wie, liebe Gemeinde, ist das zu verstehen?! Wie soll man sich das vorstellen?!
Wie kann denn Jesus heute hier bei uns in der Remigiuskirche feierlich einziehen?!
Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir ganz lange Ohren machen und auf
den heutigen Predigttext hören. Ich lese aus dem Johannesevangelium aus dem 12.
Kapitel die Verse 12 bis 16:
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass
Jesus nach Jerusalem käme, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm
entgegen und riefen:
Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!
14 Jesus hatte aber einen jungen Esel vorgefunden und ritt darauf, wie geschrieben
steht (Sacharja 9,9):
15 »Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem
Eselsfüllen.«
16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da
dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan
hatte.
"Das verstanden seine Jünger zuerst nicht", heißt es in unserem Predigttext; und
man fragt sich: Was verstanden die Jünger zuerst nicht?! Sie verstanden nicht, dass
Jesus ein König ist, ein König ganz eigener Art. Denn "Könige" gibt es viele: im Dreisterne-Restaurant ist der Kunde König, und unter den Blinden ist es der Einäugige;
der "König der Lüfte" ist der Adler, und der "König der Tiere" der Löwe; Carl Gustav
heißt der König von Schweden und Juan Carlos der von Spanien; aber auch beim
Schachspiel gibt es zwei Könige, einen weißen und einen schwarzen; und beim Skat
gibt es sogar vier Könige: Kreuz-König, Pik-König, Herz-König, Karo-König. Könige
gibt es viele - aber was für ein König ist Jesus?! Jesus ist nicht der, für den die Menge ihn hält. Denn die Menge in Jerusalem hält Jesus für eine Art Barack Obama. Die
Palmzweig-Wedler sind Fähnchen-Schwenker, und die "Hosianna-Rufer" singen Lobeshymnen auf den Neuen. Man sieht in Jesus einen politischen Heilsbringer, eine
messianische Gestalt, eine charismatische Persönlichkeit; einen, der aus der Krise
führt, einen, mit dem eine neue Ära beginnt. Deshalb wird Jesu Einzug in Jerusalem
zu einem Triumphzug; die Massen stehen Spalier, sie winken und wedeln und jubeln
und rufen: "Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von
Israel!" Ähnliche Jubelrufe, ähnliche Lobgesänge, ähnliche Hymnen gibt es in allen
Monarchien dieser Welt: im deutschen Kaiserreich sang man einst: "Heil dir im Siegerkranz, / Herrscher des Vaterlands! / Heil Kaiser, dir!", und zur selben Melodie
singt man bis heute im Königreich Großbritannien: "God save our gracious Queen".
Gut, das klingt in unseren Ohren jetzt vielleicht alles ein wenig schräg, liebe Gemeinde: "König von Israel", Triumphzug, Fähnchen-Schwenker ... - das passt doch nicht
zu Jesus! Sicher, da ist etwas dran; aber fairerweise müssen wir eingestehen: Jesus
hatte solche Reaktionen offensichtlich bewusst provoziert. Denn Jesus ritt - demonstrativ - auf einem Esel nach Jerusalem hinein, und der Esel war das traditionelle Fortbewegungsmittel, mit dem die Könige Israels in Jerusalem "vorfuhren" bei ihrer Krönung (vergleichbar mit der goldenen Kutsche, mit der Elizabeth II am 2. Juni 1953 zur
Westminster Abbey kutschierte, um dort in einer feierlichen Zeremonie - streng nach
Protokoll - gekrönt zu werden: zur "Königin von Gottes Gnaden", zur "Queen by the
Grace of God"). Jesu Ritt auf dem Esel, hinein nach Jerusalem, war also eine bewusste Inszenierung; Jesus wollte, dass man einen König in ihm sieht, einen König
auf dem Weg zur Krönung.
Ja, liebe Gemeinde, Jesus ist ein König, Jesus ist ein Heilsbringer, Jesus ist der
Messias - aber er ist es nicht im politischen Sinn, er ist es nicht in der Weise, wie
manche Barack Obama sehen (oder - nach den ersten Ernüchterungen - sahen).
Nein, Jesus ist ein Messias, ein Heilsbringer, ein König ganz eigener Art, denn sein
Reich ist nicht von dieser Welt, und seine Krone ist nicht aus Gold, sondern aus Dornen, und sein Thron ist kein Stuhl, sondern das Kreuz. Man bringt es nur schwer über die Lippen, aber die Krönung in Jesu Leben war sein Tod auf Golgatha. Gekrönt
zu werden und den Thron zu besteigen - das ist der wichtigste und herrlichste Augenblick im Leben eines jeden Königs. Auf diesen Moment, auf diese Stunde lebt ein
König hin, und ist es dann soweit, dann trägt er die herrlichsten Gewänder aus den
herrlichsten Stoffen in den herrlichsten Farben behängt mit den herrlichsten Edelsteinen und dem herrlichsten Schmuck. Die Jünger Jesu verstanden zuerst nicht, wieso
Jesus ein König sein sollte und warum ausgerechnet von seinem Einzug in Jerusalem gesagt werden kann: "Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt
/ und reitet auf einem Eselsfüllen." Erst - wie es in unserem Predigttext heißt - erst
"als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben
stand und man so mit ihm getan hatte". Die Jünger verstanden erst, "als Jesus verherrlicht war" - das heißt: erst nach seiner Krönung, erst nach dem herrlichsten und
feierlichsten Augenblick in Jesu Leben - erst da begriffen die Jünger, dass Jesus ein
König ist - und was für ein König er ist: der Kreuz-König. Denn mit dem Ausdruck
"verherrlicht werden" bezeichnet das Johannesevangelium den Tod Jesu am Kreuz!
Jesu Tod war also die Krönung seines Lebens; auf diesen Moment, auf diese Stunde, seine Todesstunde, hatte der König Jesus hingelebt: Jesu Krone ist die Dornenkrone, und sein Thron ist das Kreuz, und er ist der Kreuz-König!
Das alles verstanden die Jünger erst nach Jesu Tod und Auferstehung. Und wir, liebe Gemeinde?! Verstehen wir es?! Wir fragen uns doch auch: warum ist ausgerechnet Jesu Tod die Krönung seines Lebens; warum ist Jesu Tod etwas unvergleichlich
Herrliches und Großartiges?! Warum?! Die Bibel antwortet uns: Weil Jesu Tod am
Kreuz Gottes Generalamnestie ist, Gottes Vergebung aller Sünde dieser Welt. Wenn
im alten Russland ein neuer Zar den Thron bestieg, dann erließ er meist eine Amnestie und sandte zur Feier seiner Thronbesteigung einen Gnadenerlass in eines der
Gefängnisse Sibiriens - dorthin also, wo verurteilte Straftäter in Ketten geschmiedet
unter der Aufsicht gnadenloser Wärter Zwangsarbeiten verrichten mussten. Die
Thronbesteigung Jesu, sein Tod am Kreuz, ist Gottes Generalamnestie, Gottes Vergebung aller Sünde dieser Welt. Dabei meint "Sünde" nicht das, was wir uns selbst
vorwerfen, und Sünde ist auch nicht das, was andere uns vorwerfen. Dass wir vor
uns selbst und vor anderen nicht bestehen können mit dem, was wir gesagt, getan
und gedacht haben - das ist Schuldbewusstsein, aber noch keine Sündenerkenntnis.
Denn Sünde hat es immer mit Gott zu tun; als Sünder erkenne ich mich, wenn ich
bekennen muss: So wie ich bin - mit meinem Leben so wie es ist - kann ich vor Gott
nicht bestehen.
In Carl Zuckmayers Theaterstück "Der Hauptmann von Köpenick" wird die Geschichte des vielfach vorbestraften Zuchthäuslers Wilhelm Voigt erzählt. Im Jahr 1906 im
Deutschen Kaiserreich wird Voigt über Nacht berühmt, als er - verkleidet als Hauptmann - "im Namen Seiner Majestät" die Stadtkasse des Köpenicker Rathauses sich
aushändigen lässt und sie auch tatsächlich bekommt (denn die Uniform war echt!).
Bevor dieses Gaunerstück über die Bühne geht, versucht der eben strafentlassene,
arbeitslose Voigt ein anständiges Leben zu beginnen, doch überall, wohin er sich
wendet, wird er abgewiesen. Da spaziert er über einen Friedhof, wird dabei an seinen eigenen Tod erinnert - und sagt dann zu sich (in schönstem Berlinerisch): "Und
denn, denn stehste vor Jott, dem Vater, ... vor dem stehste denn, un der fragt dir ins
Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben, un denn muss ick sagen:
Fußmatte ... Fußmatte, muss ick sagen, die hab ick jeflochten im Jefängnis und denn
sind se alle druff rumjetrampelt. Det sachste zu Jott, Mensch. Aber der sacht zu dir:
Jeh weck, sacht er, Ausweisung, sacht er. Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt
... Det biste mir schuldig ... Wat haste mit jemacht?"
Sünde hat es mit Gott zu tun, und als Sünder erkenne ich mich (ob ich nun Hochdeutsch spreche und das Wort "Sünde" gebrauche oder auch nicht) -, als Sünder
erkenne ich mich, wenn ich bekennen muss: So wie ich bin - mit meinem Leben so
wie es ist - kann ich vor Gott nicht bestehen. Und das ist die Wahrheit, liebe Gemeinde; das ist die Wahrheit über Willems Leben und die Wahrheit auch über mein Leben. Ja, das ist die Wahrheit, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit erkenne ich erst, wenn ich auf das Kreuz von Golgatha schaue. Denn dort, am
Kreuz von Golgatha, bei der Thronbesteigung Jesu, hat Gott eine Generalamnestie
erlassen - für alle Sünde, für alle Welt, für alle Zeit. Damit hat eine neue Ära begonnen, eine neue Zeitrechnung. Nicht mehr "Jeh weck!" und "Ausweisung!", sacht jetzt
Gott zu mir und zu dir, Willem, sondern er sacht: "Kommt rin ins ewige Leben!" Selbst
wenn wir im Gefängnis Fußmatten flechten und andere auf uns herumtrampeln,
selbst wenn keiner uns leiden mag und auch wir selbst uns nicht ausstehen können,
- trotzdem: wir können leben wie Könige und Königinnen, denn wir sind Könige und
Königinnen "von Gottes Gnaden", "Kings and Queens by the Grace of God"!
Das, liebe Gemeinde: dass wir leben können wie Könige, dass wir jetzt und in alle
Ewigkeit leben können "von Gottes Gnaden" - das verdanken wir dem Tod Jesu, das
verdanken wir der Krönung am Kreuz, das verdanken wir dem Kreuz-König. Wenn
wir uns dafür nicht zu schade und nicht zu schlecht sind; wenn wir uns nicht zu schade und zu schlecht sind für ein Leben "von Gottes Gnaden" - ja, wenn wir uns über
Gottes Gnade königlich freuen können, dann ist das ein Zeichen, dass der KreuzKönig, der auferstandene Gekreuzigte, in unser Leben eingezogen ist, und - ganz
ohne Waffengewalt, allein durch seine Gnade - unser Herz erobert hat und nun nicht
mehr nur der Kreuz-König ist, sondern auch der Herz-König, der "König der Herzen",
the "King of Hearts". AMEN