Antrittspredigt 1.November 2015 - Evangelisch

Tut um Gottes Wille etwas Tapferes!
Antrittspredigt 1. November 2015 (Reformationssonntag) zu Matthäus 9
Pfr. Bruno Waldvogel, Mittelgäustrasse 15, 4612 Wangen
Liebe Gemeinde, liebe Gäste, eines meiner Lieblingsmottos stammt vom Schweizer
Reformator Ulrich Zwingli. Er sagte: „Tut um Gottes Willen etwas Tapferes.“ Und damit
meinte er ganz grundsätzlich Folgendes: Aus Glauben an Jesus Christus dürfen wir mutig
über unsern Schatten springen. Nicht weil wir fehlerlos sind, oder weil wir alles besser
wissen. Wer wollte Dir, lieber Erich, nach den vielen Jahren hier das Wasser reichen? Du hast
viele segensreiche Spuren gelegt und dich tapfer durch Höhen und Tiefen des
Gemeindelebens gekämpft zuzsammen mit deiner Hanni. Tapfer sein und nicht aufgeben –
das muss man dir wirklich nicht beibringen! Ich hoffe, ich kann noch viel davon lernen! Also
nicht weil wir alles anders oder besser machen wollen sollen wir etwas Tapferes tun, sondern
weil wir wissen dass Christus uns trägt – gerade weil wir so oft danebenhauen.
Etwas Tapferes tun um Gottes Willen meint, dass wir als Reformierte immer neu fragen: Was
will Jesus Christus, der Herr der Kirche, heute, jetzt für diese Gemeinde? Wo bauen wir auf
Tradition und bewahren wir das viele Gute? Und wo müssen wir mutig etwas Neues wagen?
Das ist ein Spagat zwischen Bewahren und Aufbrechen. In der Theologensprache sagt man:
Ecclesia semper reformanda est. Oder in der Alltagssprache: Die christliche Kirche muss sich
immer wieder neu erfinden, reformieren. Damit ist nicht gemeint: Jedem modernen Gag
hinterherzujagen. Damit ist gemeint: Die christliche Gemeinschaft darf nie müde werden, den
Weg zu den Menschen um sie herum zu suchen. Reformiert sein heisst: Treu dem Erbe von
Gnade, Schrift und Glaube verpflichtet zu sein. Es heisst aber auch: Mutig aufzubrechen und
Altgewohntes zurückzulassen.
Als die Reformation in der Schweiz losbricht, da geschieht viel Unheilvolles. Aber auch viel
Mutiges. Da stellt sich der Katholik Zwingli mitten ins Münster in Zürich und sagt: „Ihr
Lieben, ab heute wird alles anders!“ Nicht weil das Alte einfach schlecht oder falsch gewesen
wäre. Niemand, der die Geschichte kennt, würde das einfach so zu sagen wagen! Nein, der
Grund war ein anderer: Zwingli, der seine katholische Kirche liebt, will, dass sie wieder eine
Kirche wird, die Gott dient und den Menschen. Und nicht umgekehrt, dass nämlich die
Menschen oder der liebe Gott dazu da sind, um der Kirche zu dienen. Ich glaube, darin sind
wir Christen uns – egal welcher Konfession – heute, fünfhundert Jahre später, einig.
Wenn man nahe bei Gott und den Menschen sein will, braucht es einen unbestechlichen Blick
für die Realität, eine Einsicht in die Herzen der Menschen und das betende Gespräch mit Gott.
Und dann handeln – das braucht Mut, Tapferkeit und viel Glauben. Woher aber den Mut zu
etwas Tapferem nehmen? Etwas salopp gesagt: Beim Kirchenchef höchst persönlich! Bei
Jesus Christus! Er ist für mich der Inbegriff von Mut und Tapferkeit. Er hat gezeigt wie es
geht. Und jeder, der sich Christ oder Christin nennt, kann von Ihm lernen. Als ich im April
dieses Jahres vor dieser wunderschönen Kirche stand, ging mir plötzlich eine Geschichte
durch den Kopf, die im Matthäus-Evangelium steht. Sie zeigt sehr schön, was Jesus Christus
motiviert hat zu seiner grossen Aufgabe. Wir lesen im 9. Kapitel: Jesus zog ringsumher
durch alle Städte und Dörfer. Dort lehrte und predigte in ihren Synagogen die gute
Nachricht vom Himmelreich. Und er heilte alle Kranken und Leidenden. Wie er die
Leute so vor sich sah, da empfand er tiefes Mitgefühl für sie. Sie waren wie
halbverhungerte Schafe, die keinen Hirten haben. Da sagte er zu seinen Freunden und
Jüngern: Es ist eine grosse Ernte bereit. Aber es sind nur ganz wenige da, die sie
einbringen wollen. Bittet den Besitzer dieser grossen Felder, dass er mehr Erntearbeiter
1
schickt. Und er rief seine zwölf Jünger und gab ihnen Kraft, Kranke und Besessene zu
heilen. “
Als junger Mensch, der sich erfolgreich aus der Kirche hinauskonfirmieren liess, frage ich
mich immer: Wozu ist diese Kirche eigentlich da? Alte Lieder singen mit traurigen Gesichtern
auf harten Holzbänken? Ein paar Rappen in ein Holzkästchen werfen und alle Jahre ein
Kirchbazar mit selbstgestrickten Socken? Ein Bisschen „Seid nett und schützt die Blumen“?
Leider hatte mir damals mein Pfarrer nie wirklich erklärt, worum es Jesus eigentlich ging.
Heute bin ich hoffentlich etwas gescheiter und habe inzwischen dazugelernt. Drei Dinge,
glaube ich, machen eine gesunde Kirchgemeinde aus. Sie sammelt, sie stärkt, und sie sendet.
Eine gute Freundin hat dazu diese drei wunderbaren Hängebilder geschaffen. Sammeln,
stärken, senden!
Das will ich kurz erklären. Zuerst zum Thema sammeln. Jesus baut keine Häuser und stellt
auch keine neue Organisation auf die Beine. Er trommelt nicht für eine politische Partei oder
bestimmte Events. Er sammelt Menschen um sich, so wie ein Hirt seine verstreuten Schafe
zusammensucht. Und dazu nimmt er immer wieder lange Wege unter die Füsse. Er geht
dorthin, wo die Menschen sind. Oder wie es in der Bibel heisst: Jesus zog ringsumher durch
alle Städte und Dörfer. Christen, so wie Jesus es uns vorgelebt hat, leben ihren Glauben bei
den Menschen, dort wo sie sind. Sie sitzen nicht in einer Kirche und warten, bis die Leute
kommen und dann wird es plötzlich ganz komisch religiös. Nein, sie sind unterwegs wie alle
andern auch. Mit dem Wissen, dass sie etwas in ihrem Herzen tragen, das andere auch
glücklich machen kann. Sie sind – um ein altes Bild zu nehmen – wie Bettler, die andern
Bettlern erzählen, wo man Brot bekommt. Sie sind aktiv mit offenen Augen und Ohren
unterwegs. Bei den Menschen im echten Leben. Und dort reden sie davon, dass diesen Gott
gibt. Und dass dieser himmlischer Vater einen wunderbaren Plan hat für jeden von uns. Dass
wir nicht einfach ins Leben geworfen sind, nur um nach ein paar Jährchen wieder unter der
Erde zu verschwinden. Oder als Staubkorn in einem kalten toten Universum unterzugehen.
Oder dass wir halt mit unseren Sorgen, Ängsten und Sünden einfach etwas positiver umgehen
müssen. Wir sind zu mehr berufen als nur zu schönen Ferien, ein gutes Essen, Partnerschaft
und ein Bisschen Karriere. Sicher – das sind auch schöne und wichtige Dinge. Aber sie sind
nicht der letzte Sinn.
Unser letzter Sinn besteht darin, eine persönliche Beziehung zu Christus aufzubauen. Darum
heissen wir Christen. Und dort, bei Ihm, finden wir Ruhe für unsere Seelen. Meine Aufgabe
als Pfarrer sehe ich darin, uns allen zu helfen, diese grosse mächtige Hand zu ergreifen und
eine eigenständige tragende Beziehung zu Jesus Christus aufzubauen. Eine Beziehung, die Sie
hier selber leben und gestalten werden. Denn wenn es diesen Gott gibt wirklich gibt, wird
jeder von uns am Ende seines Lebens allein vor diesem Schöpfer stehen. Und darum ist es
wichtig, jetzt in diesem Leben schon eigenständig die Beziehung zu Ihm aufzubauen und zu
pflegen. Das kann uns kein Pfarrer und keine betende Oma abnehmen. Aber eine gesunde
Kirche hilft, alten und jungen Menschen Wege zu zeigen, wie man diese Beziehung finden
und bauen kann. Mir hat diese Beziehung buchstäblich das Leben gerettet. Aber darüber ein
andermal. Soweit zum Thema „sammeln“.
Dann zum Stichwort „stärken“. Jesus geht nicht nur zu den Menschen hin und sammelt sie um
sich. Er tut noch viel mehr, etwas ganz Gewaltiges. Wir lesen wieder im
Matthäusevangelium: Und er heilte alle Kranken und Leidenden. Wie er die Leute so vor
sich sah, da empfand er tiefes Mitgefühl für sie. Sie waren wie halbverhungerte Schafe,
die keinen Hirten haben. Jesus heilt Menschen. Körperlich, seelisch und geistlich. Er stärkt,
was schwach und angeschlagen ist. Das Gebet für die Kranken, Versehrten, Verwirrten und
2
Verzweifelten gehört zum normalen Bestandteil einer gesunden christlichen Gemeinschaft.
Das passiert in der Seelsorge, in der Beratung, im persönlichen Gespräch. Es geschieht dort,
wo Hände segnend aufgelegt werden und konkret um übernatürliche Heilung gebetet wird.
Göttliche Heilungen sind für Wangen ja nichts Fremdes. Denken wir nur an die Gallus-Ruhe:
Der Heilungsort hier im Dorf, wo der irische Mönch Gallus den Alemannen das Evangelium
gepredigt hat. Gallus, Kolumban und wie sie alle diese Tapferen hiessen, kamen mitten in der
Zeit der Völkerwanderung, als das alte römische Reich entdgültig zu Ende ging und alle
glaubten, dass es keine Zukunft mehr gibt. Sie brachten Glauben und Heilung. So einen Ort
gibt es hier, wo man über Jahrhunderte hinweg kranke Kinder hingebracht und hineingelegt
hat. Ich habe selber Heilungswunder erlebt. Und darum glaube ich auch, dass unsere Kirche
hier ein Ort der Heilung ist.
Stärken ist aber mehr als nur Notfallapotheke für Verzweifelte. Stärken bedeutet auch,
mitzuhelfen, dass Menschen starke Christinnen und Christen werden. Auch die Männer und
Jünglinge unter uns! Nicht fanatisch oder fundamentalistisch, aber stark und gefestigt. So dass
sie es auch in den Alltag hineintragen, wo immer ihre Berufung oder ihr Beruf sie hinführt. So
dass sie immer mehr Ähnlichkeit mit Jesus gewinnen, mit seiner Art zu lieben und zu
handeln. In meinem Leben war es von grösster Bedeutung, dass ich ein paar Menschen hatte,
die mich in Glaubensfragen unter ihre Fittiche genommen haben. Sie haben mir geholfen,
beten zu lernen. Die Bibel zu lesen. Krumme Dinger in meinem Leben auszuräumen und
versöhnt durchs Leben zu gehen. Und das war eine Mengel, glauben Sie mir!
Eine gesunde Kirche stärkt Menschen, egal, ob wir nun Banker, Lehrerinnen oder Elektriker
sind. Ob wir nun Teenager oder Senioren sind, Mütter, Väter oder Singles. Ich höre immer
wieder, dass die Menschen hier in der Region kein Interesse am Glauben und Kirche hätten.
Aber das habe ich eigentlich an jedem Ort in der Schweiz genauso gehört. Und darum glaube
ich das nicht mehr! Weil meine Erfahrung eine andere ist. Viele Menschen sind sehr offen.
Wir dürfen uns nur nicht von äusseren Umständen oder Situationen beeindrucken lassen. Wir
brauchen die Herzensschau, so wie unser Meister, Christus. Jesus hat immer mit Liebe und
Leidenschaft hinter die Fassade gesehen. Und was Er sah, hat Ihn persönlich bewegt. Eine
Kirche, die nahe bei den Menschen ist, sieht nicht das Parteibuch, die soziale Schicht oder das
teure Auto, sondern die Seele hinter der Fassade. Und da gibt es ein riesiges Feld an
Sehnsüchten, Nöten und Fragen. Familie, Ehe, Beziehungen, Geld, Arbeitsplätze, Schule….
Ein starker Christ ist jemand, der gelernt hat, zu sehen, wie Jesus sieht. Und dann hilft,
langfristige Lösungen zu finden. Und die Lösung beginnt immer in einem erlösten Herzen.
Soweit zum Wort „stärken“.
Nun noch zum letzten Wort: „Senden“. Jesus hat Menschen um sich herum gesammelt. Er hat
sie gestärkt und geheilt. Und zuletzt lesen wir von ihm: Da sagte er zu seinen Freunden und
Jüngern: Es ist eine grosse Ernte bereit. Aber es sind nur ganz wenige da, die sie
einbringen wollen. Bittet den Besitzer dieser grossen Felder, dass er mehr Erntearbeiter
schickt. Und er rief seine zwölf Jünger und gab ihnen Kraft, Kranke und Besessene zu
heilen. “ Es wird immer wieder viel über Sekten und sektiererische Gruppierungen diskutiert
und geschrieben. Und dann heisst es immer wieder: Die reformierte Kirche ist aber eine
Volkskirche. Wie wahr! Nicht der Pfarrer ist die Kirche. Nicht der Bischof ist die Kirche.
Nicht die Kirchenkommission ist die Kirche. Nicht der Papst und auch nicht sonst ein
Gremium. Sie sind es, die die Kirche ausmachen! Sie und ich, wir sind die verlängerten Arme
und Beine von Jesus Christus. Das ist Volkskirche im wörtlichen Sinn! Das Volk der Kirche,
geschickt von Jesus, ein Stück Himmel auf Erden zu bringen. Dort wo wir sind. Ich wünsche
mir, dass wir zusammen in Wangen und Umgebung etwas von diesen christlichen Werten zu
3
leben und vermitteln. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam mit unseren unterschiedlichen
Fertigkeiten helfen, dass etwas davon spürbar und sichtbar wird. Aber dazu braucht es jeden
von uns.
Vieles kann man dabei lernen. Ich selber habe festgestellt – schon lange vor meiner Zeit als
Pfarrer: Wenn ich anfange, meine Berufung als Christ zu leben, ist es so, wie wenn der Fisch
ins Wasser und der Waldvogel in die Luft oder in den Wald kommt. Das gibt meinem Leben
einen andern und tieferen Sinn. Das hat mein familiäres und berufliches Leben im besten
Sinne auf den Kopf gestellt. Mein Leben ist seither spannender, fröhlicher und
abenteuerlicher geworden. Wie so etwas ganz praktisch im Alltag aussehen kann – darüber
werden wir in den kommenden Wochen und Monaten nachdenken. Dazu werden wir
Gesprächsgruppen bilden, Kurse durchführen und Gemeindeferien planen. Als Christen haben
wir eine grossartige Berufung und besondere Würde. Wenn wir nur bereit sind, unsere alten
ausgetrampelten Pfade zu verlassen. Wir werden auf diesem Weg Ressourcen entdecken, von
denen wir nicht einmal wussten, dass es sie überhaupt gibt. Kommen Sie mit? Ich finde es so
eindrücklich, wie die ersten Reformierten nach Wangen kamen: Einfach harte
Eisenbahnarbeiter. Und da sie keine Kirche hatten, beteten und sangen sie in den
Arbeitshallen und machten sie zur Kathedrale. Mich berührt das. Kirche bei den Menschen!
So viel zum Thema „senden“.
Jesus zog ringsumher durch alle Städte und Dörfer. Dort lehrte und predigte in ihren
Synagogen die gute Nachricht vom Himmelreich. Und er heilte alle Kranken und
Leidenden. Wie er die Leute so vor sich sah, da empfand er tiefes Mitgefühl für sie. Sie
waren wie halbverhungerte Schafe, die keinen Hirten haben. Da sagte er zu seinen
Freunden und Jüngern: Es ist eine grosse Ernte bereit. Aber es sind nur ganz wenige da,
die sie einbringen wollen. Bittet den Besitzer dieser grossen Felder, dass er mehr
Erntearbeiter schickt. Und er rief seine zwölf Jünger und gab ihnen Kraft, Kranke und
Besessene zu heilen. “
Jesus sammelt Menschen um sich. Weil Er der gute Hirte ist, der am besten weiss, was jeder
von uns braucht. Er stärkt Menschen, indem er sie heilt, ermutigt und wo nötig in einem
gesunden Mass korrigiert. Und schliesslich sendet Er Menschen, damit etwas von seiner
Liebe und Leidenschaft in dieser Welt sichtbar wird. Sammeln. Stärken. Senden. Ich schliesse
mit ein paar Worten des Dorfchronisten August Pfefferli. In seinem dicken Buch „Wangen im
Buchsgau“ schreibt er im Kapitel über die Reformierten ganz am Schluss: „Wir hoffen
zuversichtlich, dass es möglich sein werde, auf diesem Wege weiter zu schreiten, damit auch
Fernstehende erkennen, dass es letztlich nur ein Heil für alle Menschen gibt: „Jesus Christus –
gestern und heute derselbe und ich in Ewigkeit.“ Steht in Ihrem dicken Buch! Die erlösende
Nachricht von der Liebe Gottes unter die Menschen bringen, sie neu erklären, Hoffnung und
Zukunft bringen – dazu wollen wir um Gottes Willen etwas Tapferes tun. Es lohnt sich!
Amen.
4