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Bedrohte Kurden
Langer Abschied
Berlins HDP-Landeschefin Mehtap Erol
über Angriffe auf ihre Partei. Seite 11
Volksmusik hinter Hard-Rock-Barriere:
Das letzte Konzert der Puhdys. Seite 15
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Demokratie
Yanis Varoufakis
will die EU mit
einer neuen
Bewegung demokratisieren.
Am 9. Februar
geht es los.
Seite 2
Foto: dpa/Jens Kalaene
Foto: dpa/Michael Kappeler
Montag, 4. Januar 2016
STANDPUNKT
Legales Ballern
René Heilig glaubt nicht an das
schärfste Waffenrecht hierzulande
2016 war noch jung, als eine Elfjährige im fränkischen Unterschleichach auf der Straße zusammenbrach. Das Mädchen war
von einem Kleinkalibergeschoss
getroffen worden. Die Ärzte hatten keine Chance. Ein gezielter
Schuss, ein Unfall? Wer feuerte
den Schuss aus welcher Waffe ab?
Noch weiß niemand, warum sie
starb. Natürlich zeigen sich alle
Vereine, die irgendetwas mit
Schusswaffen zu tun haben,
ebenso betroffen wie sicher, dass
bei ordnungsgemäßer Handhabung... Die alte Leier. Geschenkt
auch, dass Deutschland über ein
restriktives Waffenrecht verfügt.
Es stimmt ebenso nicht, dass die
Gefahr nur von sogenannten illegalen Waffen ausgeht. Niemand
muss sich schämen, wenn er nicht
nur vor Dschihadisten, sondern
auch vor dem netten Nachbarn
Angst hat. Denn hierzulande darf
jedermann ballern. Schießstände
gibt es genügend. Zur Not fährt
man ein paar Kilometer über die
Grenze ins EU-Ausland. Nicht nur
mit Kleinkaliber, auch mit Waffen
und Kalibern, die Militärs vorbehalten sind, kann man üben.
»Eignungsprüfungen« und »Kontrollen« bleiben trotz versuchter
Verschärfungen ein Witz. Wie
sonst kann es sein, dass organisierte Kriminelle ebenso wie gewaltbereite Neonazis Waffenbesitzkarten vorzeigen können?!
Man mag vielleicht nicht, sollte
sich aber vorstellen, was passiert,
wenn »besorgte Bürger« das, was
sie für Recht halten, in die eigenen Hände nehmen – bewaffnet.
Streife laufen sie ja schon gegen
alles » Fremde«. Ist es wirklich
absurd zu fürchten, dass sie – wie
Kameraden gerade in Oregon
(USA) – »patriotisch« werden?
UNTEN LINKS
Man bekommt die historischen
Bilder einfach nicht aus dem
Kopf: Helmut Schmidt, im Amphetaminrausch den Kopf in den
Nacken werfend, auf dem Wacken-Open-Air-Festival beim rasend schnellen Bearbeiten seines
Basses; Günther Schabowski, wie
er, nur mit einem strahlend weißen Bademantel bekleidet, mit
seinem Hit »Ich war noch niemals
in New York« die Massen begeisterte; Lemmy Kilmister bei seinem
legendären Kniefall von Warschau. Es sind Bilder, die sich uns
für immer eingebrannt haben. In
diesem Jahr werden neue historische Ereignisse, neue kranke Bilder, neue dicke Dinger unaufhaltsam auf uns zukommen: Sigmar
Gabriel alias DJ Social Justice
Master, die geballte Faust
schwenkend, spielt im Berghain
(März), Til Schweiger, Ulf Poschardt, Sahra Wagenknecht und
Richard David Precht legen öffentlich ihr lebenslanges Schweigegelübde ab (August). Und:
Joschka Fischer in seiner Rolle als
neuer Bond-Bösewicht Slobodan
Schlimmfinger (Dezember). tbl
ISSN 0323-3375
71. Jahrgang/Nr. 2
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Auf der Suche nach Frieden
Massenhinrichtung
in Saudi-Arabien
Hilfsorganisationen setzen auf Lesbos Zeichen für Millionen Schutzsuchende
Heftige Protestreaktion in Iran
Bundesregierung äußert »Besorgnis«
Berlin. Nach der Hinrichtung des regierungskritischen schiitischen Geistlichen
Scheich Nimr Baker al-Nimr in Saudi-Arabien hat sich die Bundesregierung besorgt gezeigt. »Die Hinrichtung verstärkt unsere bestehenden Sorgen über zunehmende Spannungen und sich vertiefende Gräben in der
Region«, hieß es am Sonntag aus dem Auswärtigen Amt in Berlin.
Nimr war im Oktober 2014 zum Tode verurteilt und am Samstag zusammen mit 46
weiteren Menschen hingerichtet worden. Der
schiitische Geistliche war ein entschiedener
Gegner des erzkonservativen sunnitischen
Königshauses in Riad. Während der Proteste
im Zuge des Arabischen Frühlings im Jahr
2011 soll Nimr die Abspaltung der östlichen
Regionen Katif und Al-Ihsaa befürwortet haben. Dort leben die meisten der rund zwei
Millionen Schiiten Saudi-Arabiens. Die Hinrichtung sorgte für massive Spannungen zwischen Saudi-Arabien und Iran. In Teheran
griffen Demonstranten die saudi-arabische
Botschaft an. AFP/nd
Seiten 4 und 7
Oettinger: Polen
unter EU-Aufsicht
Mediengesetz erhitzt die Gemüter
Mahnmal für Zufluchtsuchende: Friedenszeichen aus Tausenden Rettungswesten auf Lesbos
Berlin. 60 Millionen Menschen sind derzeit
weltweit auf der Flucht – die Hälfte davon sind
Kinder: ein trauriger Weltrekord. Die meisten
Schutzsuchenden stammen aus Syrien. So
passt es ins Bild, dass der erste Flüchtling, der
im neuen Jahr in der Ägäis gestorben ist, ein
syrisches Kind ist. Der zweijährige Junge aus
Syrien, der am Samstag umkam, war von Helfern der privaten maltesischen Initiative MOAS
entdeckt worden. Das Schlauchboot mit dem
Kind, seiner Mutter und mehreren Dutzend
anderen Migranten sei nahe der kleinen griechischen Insel Agathonisi gegen einen Felsen
geprallt. Am Silvestertag hatte die griechische
Küstenwache in der Ägäis die Leichen von zwei
Migranten entdeckt.
Ein anderes Flüchtlingsboot kenterte bei der
gefährlichen Überfahrt aus der Türkei vor der
griechischen Insel Chios. Die 56 Insassen
konnten aus den eisigen Fluten gerettet werden, wie der Staatsrundfunk am Sonntag meldete. Auch auf einer kleinen Insel vor der Türkei strandeten Flüchtlinge. Auf der Balkanroute sind weiter Tausende Flüchtlinge in
Richtung Österreich und Deutschland unterwegs – trotz des Wintereinbruchs mit bis zu
20 Zentimetern Schnee und Minusgraden.
Auf der griechischen Insel Lesbos erinnert
seit Neujahr ein riesiges Friedenszeichen aus
rund 3000 Rettungswesten von Flüchtlingen
an das Schicksal Hunderttausender. Mehrere
Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen,
Foto: AFP/Florian Schulz
Greenpeace und Sea Watch bildeten das von
Weitem sichtbare Zeichen auf einem Hügel
nahe der Ortschaft Mithymna.
In Deutschland geht die Diskussion über den
Umgang mit den Schutzsuchenden weiter.
CSU-Chef Horst Seehofer verlangt eine konkrete Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro
Jahr für Deutschland und verschärft den AsylStreit in der Union damit weiter. »Diese Zahl
ist verkraftbar, und da funktioniert auch die Integration. Alles, was darüber hinaus geht, halte ich für zu viel«, sagte der bayerische Ministerpräsident der »Bild am Sonntag«. Kanzlerin
Angela Merkel (CDU) lehnt eine solche Obergrenze strikt ab. Die Opposition kritisierte Seehofers Vorstoß als populistisch. nd
Seite 3
»Besorgte Bürger«, bewaffnet und trainiert
Rechte US-Miliz besetzt Naturschutzzentrum in Oregon / Auch deutsche Nazis üben mit scharfem Schuss
Wer eine Waffe hat, hat das Sagen. Angehörige einer rechten
Miliz besetzten die Nationalparkzentrale im US-amerikanischen Oregon besetzt.
Von René Heilig
Selbstjustiz als Bürgerrecht? Nach
einer Demonstration in Burns (USBundesstaat Oregon) zur Unterstützung zweier wegen Brandstiftung in Haft sitzender Rancher haben Dutzende Milizionäre die
Zentrale einer Naturschutzbehörde besetzt. Ihre Forderung: Das
Wildlife Refuge solle für immer
geschlossen werden und die Bundesregierung auf eine Kontrolle
des Gebietes verzichten. »Was wir
tun, ist in Übereinstimmung mit
der Verfassung, die das oberste
Gesetz des Landes ist«, sagte einer
der Anführer.
Über soziale Netzwerke riefen
die Milizionäre dazu auf, sich an
dem »Aufstand« zu beteiligen. Sie
sehen sich »nicht als Terroristen«
– sondern als »besorgte Bürger«.
Notfalls würden sie »für einige
Jahre« blieben und das Gebäude
der Nationalparkbehörde zu einem »patriotischen Zentrum«
umgestalten. »Das ist keine Entscheidung, die wir in letzter Minute vorgenommen haben«, sagte einer der Besetzer. Angeblich
stünden rund 100 Milizionäre zur
Unterstützung bereit – bewaffnet
mit allem, was die US-Gesetze
hergeben.
Im Gegensatz zu anderen USStaaten war das Waffengesetz in
Oregon erst im August verschärft
worden. Doch das konnte beispielsweise einen Amoklauf am
College von Roseburg nicht verhindern. Dabei wurden neun Menschen getötet. US-Präsident Barack Obama hatte nach diesen
Morden und weiteren Anschlägen
in San Bernardino erneut für
strengere Waffengesetze plädiert.
Nun will er angeblich einen weiteren Anlauf unternehmen und
den Handel auf Waffenmärkten
einschränken.
Ein Drittel der Massenschießereien weltweit findet in den
USA mit einem Anteil von fünf
Prozent an der Weltbevölkerung
statt. In über 40 der 50 US-Bundesstaaten darf man Waffen offen tragen – bei der Arbeit, im
Bus, beim Einkaufen... Seit Jahresbeginn nun auch im zweitbevölkerungsreichsten US-Bundes-
Vermutlich 5,79
Millionen Waffen
sind in Deutschland
legal im Besitz von
Privatpersonen und
Vereinen.
staat Texas. Durchgesetzt hat das
die Bewegung »Open Carry«. Geschäfte und Restaurants dürfen
künftig selbst entscheiden, ob sie
Kunden mit offen getragenen
Waffen den Zutritt verweigern
wollen. »Open Carry« redet bereits einen Boykott gegen unwillige Ladenbesitzer herbei. Nur
Kirchen sollen noch tabu sein für
Waffenträger.
Befürworter von »Open Carry«-Gesetzen argumentieren, dass
die offen zur Schau gestellten
Waffen potenzielle Straftäter abschrecken würden. Belege, dass
Staaten mit »Open Carry«-Gesetzen sicherer sind oder es dort zu
weniger Schießereien kommt, gibt
es jedoch keine.
In Deutschland, wo es ein angeblich strenges Waffenrecht gibt,
sind 5,79 Millionen Knarren legal
im Besitz von Privatpersonen und
Vereinen. Das geht aus dem 2013
eröffneten Nationalen Waffenregister hervor, das jedoch zahlreiche Unsicherheiten birgt. 2013
hatte der Verfassungsschutz bestätigt, dass rund 400 Rechtsextremisten über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen. Doch auch
deren Kameraden dürfen legal
üben. Die Sicherheitsbehörden
wissen von zahlreichen legalen
Schießtrainings
organisierter
Gruppen aus dem rechtsextremistischen Spektrum im In- und Ausland. Doch selbst dem Parlament
werden Auskünfte dazu weitgehend vorenthalten.
Seite 6
Berlin. Das neue polnische Mediengesetz ruft
die Europäische Union (EU) auf den Plan. »Es
spricht viel dafür, dass wir jetzt den Rechtsstaatsmechanismus aktivieren und Warschau
unter Aufsicht stellen«, sagte der für Medienpolitik zuständige EU-Kommissar Günther
Oettinger. Nach dem von Oettinger ins Gespräch gebrachten Prozess würde die EUKommission zunächst im Dialog mit der polnischen Regierung die Rechtsstaatlichkeit in
dem Mitgliedsland überprüfen. Am Ende dieses Vorgangs könnte ein Verfahren wegen des
Verstoßes gegen europäische Grundwerte stehen. Laut dem gerade vom Parlament beschlossenen Mediengesetz kann die polnische
Regierung zukünftig unmittelbar über die Besetzung von Leitungspositionen im öffentlichrechtlichen Rundfunk entscheiden.
In Polen gaben unterdessen die Direktoren
der öffentlich-rechtlichen Sender TVP1 und
TVP2 sowie die Verantwortlichen des Kulturkanals TVP Kultura, der TVP-Personalabteilung sowie der TV-Informationsagentur TAI
ihre Rücktritte bekannt. Agenturen/nd
Seiten 4 und 17
Militärflugplatz in
Indien unter Feuer
Mindestens sieben Tote bei
islamistischen Angriffen
Athankot. Bei einem mutmaßlich islamistischen Angriff auf einen indischen Luftwaffenstützpunkt nahe der Grenze zu Pakistan
sind nach Armeeangaben sieben Soldaten getötet worden. Die in Armeeuniformen gekleideten Angreifer drangen in der Nacht zum
Samstag auf den Militärflughafen im nordindischen Pathankot vor und lieferten sich Feuergefechte mit Sicherheitskräften. Nach 14
Stunden gelang es, den Angriff auf den Stützpunkt im Bundesstaat Punjab vorerst zu beenden, vier Angreifer wurden getötet.
Am Sonntag gab es weitere Gefechte. Auf
der Basis seien bis zu zwei weitere »Terroristen« unterwegs, sagte Pathankots Polizeichef Kunwar Vijay Partap Singh. Die Polizei fahnde nach ihnen. Aus Polizeikreisen
hieß es, die Angreifer hätten Soldaten attackiert, die Sprengsätze entschärfen sollten.
Zu dem Angriff bekannte sich die pakistanische Islamistengruppe Jaish-e-Mohammed,
die für die Abspaltung der mehrheitlich muslimischen Bergregion Kaschmir von Indien
kämpft. AFP/nd
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