IM JAHR 30 . BB. Boris Becker machte seine Heimatstadt weltberühmt. 30 Jahre nach seinem Triumph in Wimbledon besuchen wir das Örtchen Leimen. Sein Geist ist noch immer spürbar ORIGINALFOTO: Der junge Boris Becker (hier 1981) war früher oft auf dem Fahrrad druch Leimen unterwegs. TEXT ANNABELL BEHRMANN FOTOS THOMAS NIEDERMÜLLER L eimen südlich von Heidelberg ist eher klein und überschaubar – so schwer kann es doch nicht sein, das berühmte Fahrrad-Foto von Boris Becker vor demselben Ortsschild wie damals nachzustellen. Falsch gedacht! Nach einer Fahrt kreuz und quer durch die Stadt, vorbei an zig verschiedenen Ortsschildern, sieht keines dem Original ähnlich. Feststeht: Die Heimatstadt von Becker hat sich nach 30 Jahren verändert. Ihr berühmtester Sohn bleibt aber unvergessen. Die Spurensuche beginnt. EINE RADTOUR, DIE IST LUSTIG: Mehrere Stunden dauerte die verzweifelte Suche von tM-Reporterin Annabell Behrmann nach dem OriginalOrtsschild (siehe Foto rechts). FOTOS: PAUL ZIMMER SP U RE N SU CH E IN LE IM EN TURNIERE WIMBLEDON RATHAUS Eine Reise in die Vergangenheit: Leimen, 12. Juli 1985. Eine 17.000-Seelengemeinde platzt aus allen Nähten. 50.000 Menschen – fast dreimal so viele wie Leimen Einwohner hat – füllen die Straßen, um ihren Wimbledon-Helden zu empfangen. Die Menge stürzt sich auf den offenen Geländewagen, in dem Boris mit seinem Trainer Günther Bosch fünf Kilometer von der Kurpfalzhalle bis zum Rathaus zurücklegt. Das Spektakel 7/2015 www.tennismagazin.de erinnert an einen Triumphzug wie zu Zeiten des römischen Kaisers: Begeisterte Verehrerinnen werfen ihm Blumensträuße zu. Eltern strecken dem 17-Jährigen ihre Kinder entgegen. In der ganzen Stadt hängen überdimensional große Plakate des neuen Volkshelden. Der Bäcker von nebenan verkauft Brezeln namens „Bobele“, die „Bobele-Brezeln“ & „Becker-Schopf“ Friseure der Stadt haben längst den „BeckerSchopf“ kreiert. Mehr als 200 Journalisten aus aller Welt warten am Rathaus auf den frischgebackenen Champion. Die gegenüberliegende Grundschule wird zum Pressezentrum umfunktioniert, die Kinder bekommen schulfrei. Leimen, ein bisher weißer Fleck auf der Landkarte, wird zum Mekka der Tenniswelt. „Wir profitieren noch heute von Boris Becker. Es gibt nicht viele Städte, die in derartiger Weise mit einem Sportler in Verbindung gebracht werden“, sagt Michael Ullrich, Referent des Oberbürgermeisters Wolfgang Ernst. Er steht mitten im Boris-Becker-Zimmer, das 2001 des Champions zu Ehren im ersten Stock des Rathauses eingerichtet wurde. Umringt von zahlreichen Trophäen, alten Schuhen und Schlägern, die Becker großzügig sponserte, erzählt Ullrich, wie dankbar die Stadt ihm noch heute sei und dass es keine bessere Werbung für Leimen hätte geben können. „Wenn Touristen das Rathaus besuchen, dann nur, um das Boris-Becker-Zimmer zu sehen“, berichtet er. Der Raum strahlt durch seinen altertümlichen Stil und die Goldverzierungen an den Wänden etwas Majestätisches aus. Die Gemälde von Becker erinnern an Portraits eines Königs. „Es kommen Menschen aus aller Welt, die weiteste Strecke nahm ein Gast aus Neuseeland auf sich“, sagt Ullrich. Im Rathaus 39 TURNIERE WIMBLEDON SU CH E IN LE IM EN 2 RE N 3 SP U EINMAL FÜHLEN WIE BORIS: Die Reporterin auf dem Rathausbalkon. 30 Jahre später ist nichts los auf den Straßen. Das war 1985 noch ganz anders. 5 7 BEEINDRUCKENDE KULISSE: 20.000 Menschen empfangen ihren Helden nach dem WimbledonSieg am Rathaus. 6 4 ist man stolz auf den berühmtesten Sohn der Stadt. Jedes Jahr werden die Abschlussklassen der Kindergärten durch das Gebäude geführt. „Vor zehn Jahren wussten die Kinder noch ausnahmslos, wer Boris Becker ist, heute weiß das nur noch ein gutes Viertel. Natürlich hat sich der Hype nach 30 Jahren ein wenig gelegt“, gesteht der 54-Jährige. Er geht raus auf den Balkon, von dem Becker einst 20.000 ausgeflippten Fans zuwinkte – heute hat sich keine Menschenseele FOTOS: PAUL ZIMMER Leimen kennen sie sogar in Thailand auf den Rathausplatz verirrt. Ullrich erzählt seine Lieblingsanekdote des Oberbürgermeisters: „Vor zehn Jahren war der OB in einer Bambus-Lodge in Thailand und ein Barkeeper fragte ihn, woher er käme. Als er den Namen Leimen hörte, sagte er sofort ‚Ah, Boris Becker!’ – ich dachte, ich spinne, als ich die Geschichte hörte.“ Zum Abschied gibt es noch ein Souvenir der Stadt, einen Sticker, auf dem 40 DAS BORIS-BECKER-ZIMMER 1| Becker wurde 1986 nach seinem zweiten WimbledonSieg der mit Abstand jüngste Ehrenbürger Leimens. „Boris Becker“ und „Leimen“ steht. „Zwei Komponenten, die immer miteinander verbunden bleiben“, sagt Michael Ullrich. LEISTUNGSZENTRUM Mehr als 50 Kinder spielen 1976 in Biberach den Trainern des Deutschen Tennis Bundes bei einer Talentsichtung vor – auch der achtjährige Boris ist dabei. Kaum zu glauben: Er fällt durch. Aber Becker gibt nicht auf. Bei einer zweiten Sichtung im September 1978 in Leimen überragt er alle. Der damalige Bundestrainer Richard Schönborn schreibt dem Knaben einen fast schon prophetischen Satz ins Zeugnis: „Sehr bissig, kämpferisch ausgezeichnet motiviert, sehr gutes Ballgefühl. Könnte einmal deutscher Spitzenspieler werden oder sogar viel mehr! Ab sofort individuelles Training durchführen – Talent!“ (siehe Zeugnis S. 43) Von 1977 bis 1984 absolviert Becker ein tägliches, gezieltes, in der Regel dreistündiges Training im Leistungszentrum Leimen unter dem badischen Verbandstrainer Boris Breskvar. Das sind in den acht Jahren etwa 2| Überraschenderweise liegt nicht nur BB‘s Puma-Schläger in der Vitrine, auch das Racket von Ivan Lendl. 3| Sogar in Nordkorea und Paraguay gab es Sonderbriefmarken vom deutschen Tennishelden. 4| 1985 wurde Boris Becker der BRAVO Otto als Sportler des Jahres von den Lesern der Jugendzeitschrift verliehen. 5| Michael Ullrich (l.) arbeitet seit 1993 im Rathaus. Er kennt jede Becker-Geschichte in und auswendig. 7| „Ich möchte herzlich die Stadt Leimen begrüßen“, schrieb Becker 1985 beim Empfang ins Goldene Buch. 6| Das Boris-Becker-Zimmer wurde 2001 im ersten Stock des Rathauses eingerichtet. 8| Mit diesen Bällen gewann BB 1986 und 1989 seinen zweiten und dritten Titel in Wimbledon. 8 8.000 Stunden, die Breskvar dem Knaben widmet. Im Leistungszentrum in Leimen erinnert heute nicht mehr viel an Boris Becker. Die hilfsbereite Dame der Öffentlichkeitsarbeit sucht verzweifelt das gesamte Gebäude ab, um Erinnerungsstücke von Boris zu zeigen. Sie erzählt von einem zerhackten Schläger, den sie aufbewahrt haben – nach mehreren Telefonaten und dem Durchwühlen sämtlicher Räume bleibt er unauffindbar. Stattdessen holt sie aus den Ecken der Archive gerahmte Bilder von Boris heraus. Sie sind verstaubt und lange abgehängt. Bei der Renovierung vor ein paar Jahren mussten www.tennismagazin.de 7/2015 7/2015 www.tennismagazin.de 41 TURNIERE WIMBLEDON WEITLÄUFIG: 15 Courts gibt es auf der Anlage des TC Blau-Weiß Leimen. SP U RE N SU CH E IN LE IM EN redet gern über die alten Zeiten. Früher habe Im Clubheim hängen große Fotos vom es immer Ärger gegeben, weil die älteren Rotschopf an den Wänden. Nächste Woche Spieler Becker unterschätzt hatten und nicht ist Weber auf dem 80. Geburtstag von gegen einen 13-Jährigen antreten wollten. Beckers Mutter eingeladen. Sie wohnt noch „Danach sind sie mit 1:6, 1:6 vom Platz immer in Leimen. gekrochen“, sagt er und lacht. Das Fazit der Spurensuche: Auch nach Heute Nachmittag ist es trotz strahlen- 30 Jahren ist der Geist von Becker in Leimen dem Sonnenschein leer auf der Anlage. Die spürbar. Und das, obwohl er nach seinem Anzahl der Mitglieder ist in den letzten Wimbledon-Sieg einmal sagte: „Nie im Jahren auf 350 gesunken. Auch die berühmte Leben will ich eine Legende werden. Ich Boris-Becker-Halle müsste renoviert werden bleibe nicht der ewige Tennisspieler.“ – ein wunder Punkt des Vereins! Vor zwei Jahren kursierten in der Presse Gerüchte, dass der Tennisclub die Halle umbenennen wolle, weil er enttäuscht sei, dass Boris nie vorbeikäme. „Ich habe das sofort richtig gestellt: Für den Vorstand kam es nie in Frage, die Halle umzubenennen“, sagt Weber. „Einige Außenstehende waren der Meinung, man müsse einem Sponsor als Ausgleich für die Renovierungsarbeiten anbieten, die Halle nach ihm zu benennen. Das stand für uns nicht zur Debatte.“ Die HERZLICHER EMPFANG: Kurt Weber und ChrisEnttäuschung ist ihm anzusehen. „Schlechte tel Oberhofer (v.li.) wandeln mit tM-Reporterin Nachrichten verbreiten sich eben schnell.“ Annabell Behrmann auf den Spuren Beckers. ERSTER TRAININGSPARTNER: An dieser Ballwand schlug der junge Becker die ersten Bälle. HELMHOLTZ-GYMNASIUM: „Er kämpfte nicht ums Überleben, war aber auch kein Spitzenschüler“, erzählt Otto Dressler, Sport- und Mathematiklehrer am Telefon. GROSSE EHRE: Am Bau der „Boris-Becker-Halle“ war kt Karl-Heinz Becker, Archite und Vater von Boris, höchstpersönlich beteiligt. 42 BESCHLEUNIGUNG* MSV HEPTA-TWIST 12 m noch mehr Fans dem Wimbledon-Sieg entgegen. Sogar Menschen aus fremden Städten sind gekommen, um mit den Mitgliedern den Erfolg ihres Aushängeschilds zu feiern. Beim Empfang Heute verteilt Mama Becker Autogramme im Rathaus verkündet der Vereinsvorsitzende Kurt Weber voller Stolz, dass die neue Tennishalle des Clubs „Boris-Becker-Halle“ heißen werde. Die Mitgliederzahl steigt von 500 auf 700 an. Kurt Weber, heute Ehrenvorsitzender des TC Blau-Weiß, und seine Tochter Christel Oberhofer, Vorstand für die Angelegenheiten der Mitglieder, nehmen auf der Terrasse des Clubs Platz. Oberhofer beginnt enthusiastisch ihre Boris-Becker-Sammlung auf dem Tisch auszubreiten. „Wir sind schließlich Fans!“, sagt sie und verteilt zahlreiche alte Zeitungsartikel, persönliche Fotos, einen signierten Tennisball sowie ein Buch, das sie von Barbara Becker geschenkt bekam. „Ich habe ein eigenes Regalfach für alle Sachen von Boris zu Hause“, verrät sie. Der TC Blau-Weiß befindet sich unmittelbar gegenüber dem Leistungszentrum. „Ich gehörte zum engen Freundeskreis der Familie“, erzählt Weber und zeigt auf ein Foto am Flughafen. „Wir haben Boris nach seinem Wimbledon-Sieg abgeholt.“ Der 81-Jährige www.tennismagazin.de 7/2015 € 7,90 200 m € 75,00 ZURÜCK ZUM ANFANG: In diesem Haus wuchs Becker auf. Es ist nur einen Katzensprung vom Tennisverein und Leistungszentrum entfernt. FOTOS: IMAGO TC BLAU-WEISS LEIMEN Während Boris Becker 1985 gegen Kevin Curren um den Titel kämpft, ist das Clubhaus seines Heimatvereins TC Blau-Weiß Leimen bis auf den letzten Platz besetzt. Wie etwa elf Millionen Deutsche vor den TV-Geräten verfolgen auch hier etwa 100 Leute das Match auf einer Großleinwand, auf der Terrasse fiebern BESTE TALENTSICHTUNG 19 78: Der damalige Bundest rainer Richard Schönborn att estier te Boris großes Talent. RENOVIERUNGSBEDÜRFTIG: Drei Jahrzehnte später hoffen die Clubmitglieder auf eine Modernisierung der Halle. sie neueren Bildern weichen. Die Urkunde seiner Ehrenmitgliedschaft im Badischen Tennis Verband und ein alter – heiler – Schläger zählen zu den Überresten. „Wir wollen uns nicht auf alten Zeiten ausruhen“, sagt sie. Im Leistungszentrum hofft man sehnsüchtig auf neue Talente. „Aber die Mutter von Boris kommt bei Turnieren auf der Anlage immer noch vorbei. Sie verteilt seine Autogrammkarten an die Kinder.“ MSV TENNISSAITE MSV-TENNIS.COM 7/2015 *tennisMAGAZIN Heft 10/14 43
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