Zeitungsbericht Würdevoller Abschied, WAZ

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BESTATTUNGSKULTUR IN GELSENKIRCHEN
ARBEIT & SOZIALES
Dienstag, 23. Juni 2015
Pfarrerin Zuzanna Hanussek fragt im Stillen
oft: „Wer bist du, wie hast du gelebt
und wie bist du gestorben?“
KOMPAKT
Daten & Fakten
Wo Gelsenkirchener
unentdeckt starben
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Bei der Sozialraumanalyse
hat Susanne Loke auf verfügbare sozio-demografische
Daten zurück gegriffen, um Rückschlüsse auf die Bevölkerung und
deren soziale Lage in den einzelnen Stadtteilen ziehen zu können.
Soweit verfügbar, konnte sie mit
Daten Stand 31. Dezember 2013
arbeiten. Die Auswertung hat sie
nach thematischen Schwerpunkten vorgenommen: Bevölkerungsstruktur und Wanderungsverhalten, Erwerbssituation und Armutslage, Wohnsituation und politische
Partizipation.
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Unter den 59 unbedacht
Verstorbenen waren 46
Männer (78 Prozent) und 13
Frauen (22 Prozent). Eine Gemeinsamkeit hat die Studentin festgestellt: 50 Prozent der Männer und
Frauen sind in Gelsenkirchen geboren und hier gestorben. Die
Männer waren häufiger ledig, die
Frauen dagegen häufiger verwitwet. Bei den Liegezeiten – also
dem Zeitraum zwischen Tod und
Auffinden – wurde anhand des
Datenmaterials ein Mittelwert errechnet, der folgendes Bild ergibt:
Bei den Männer lag diese bei
acht, bei den Frauen lag die Zeitspanne bei 13 Tagen.
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Von den 59 unbedacht Verstorbenen stammten zehn
aus Schalke (inklusive
Schalke-Nord); jeweils neun Personen wurden in Horst, Buer und
Bulmke-Hüllen gefunden. In
Ückendorf und Rotthausen lebten
jeweils vier der Verstorbenen, in
der Feldmark, in Scholven und
Hassel jeweils drei. Zwei Tote wurden in der Altstadt, jeweils ein Toter in Resse, Erle und in Bismarck
gefunden.
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Erschreckend am Ergebnis
der Forschungsarbeit sind
diese Zahlen: Jeweils ein Toter hat in Schalke, Schalke-Nord,
Horst, Buer, Feldmark und Hassel
länger als 50 Tage gelegen, bevor
er entdeckt wurde. Mehr als 30 Tage dauerte es, bis man jeweils
zwei Verstorbene in Schalke und
Schalke-Nord, und je einen in
Bulmke-Hüllen, Horst, Buer und
Feldmark fand.
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Zum Auftakt der Sozialraumanalyse wurden die Bevölkerungszahlen beleuchtet. Buer als bevölkerungsreichster und
Schalke-Nord als Stadtteil mit der
geringsten Bewohnerzahl bilden
dabei so etwas wie die Klammer.
Wanderbewegungen innerhalb
Gelsenkirchens im Jahr 2013 haben ergeben, dass Bulmke-Hüllen
und Schalke überdurchschnittlich
hohe Zuwächse hatten, SchalkeNord dagegen den höchsten Bevölkerungsverlust.
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Zum Vergleich enthält die
Forschungsarbeit der Studentinnen auch diese Zahlen mit Stand 31. Dezember 2013:
In Schalke (Bevölkerung 19 722)
sind insgesamt 264 Menschen gestorben (sieben unentdeckt), in
Schalke Nord (Bevölkerung 4282)
61 (drei unentdeckt), in BulmkeHüllen (Bevölkerung 23 678) 328
(neun unentdeckt), in Horst (Bevölkerung 19 492) 262 (neun unentdeckt) und in Buer (Bevölkerung
33 730) 435 (neun unentdeckt).
Ein Blick auf die gesamt Stadt, die
Ende 2013 insgesamt 258 094
Einwohner verzeichnete: 3422
Menschen sind in dem Jahr (1,33
Prozent) gestorben – und 59 von
ihnen unentdeckt.
ans
Spurensuche zu Forschungszwecken kaum möglich
Von Inge Ansahl
Adieu Karl-Erich: In das offene Urnengrab des ehemals Betreuten wirft einer
seiner Betreuer eine Rose.
Ausnahmen nur in besonders
begründeten Fällen
Seit gut zehn Jahren gibt es inzwischen
ordnungsbehördliche Feuerbestattungen
„In § 8 Abs. 1 Satz 1 Bestattungsgesetz ist eine Rangfolge der zur
Bestattung verpflichteten Hinterbliebenen enthalten. Kommt der
Bestattungspflichtige seiner Verpflichtung nicht oder nicht rechtzeitig nach, hat die örtliche Ordnungsbehörde der Gemeinde, auf
deren Gebiet der Tod eingetreten
oder die oder der Tote gefunden
worden ist, die Bestattung zu veranlassen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Bestattungsgesetz NRW).“ So liest sich
die Kostenregelung in der Amtssprache des Städte- und Gemeindebundes Nordrhein-Westfalen.
Seit wann gibt es diese ordnungsbehördlichen Bestattungen
eigentlich? Die WAZ fragte bei
Stadtsprecher Oliver Schäfer
nach. „Zur reinen Begrifflichkeit
muss festgehalten werden, dass es
sich bei den sogenannten ordnungsbehördlichen Bestattungen
um Beisetzungen von Personen
handelt, die entweder keine nahen Angehörigen haben bzw. diese eine Übernahme der Beisetzung ablehnen.“ Klar abzugrenzen davon seien die durch das Sozialamt veranlassten Beisetzungen. Schäfer: „Hierbei existieren
Angehörige, welche die Beisetzungen im bestimmten Rahmen
unter Gewährung finanzieller Zuschüsse quasi in Eigenregie durchführen lassen.“ Und: „Beide Bestattungsformen existierten seit jeher.“ In Gelsenkirchen sei das Verfahren rund um die ordnungsbehördlichen Bestattungen unbedacht Verstorbener zum 1. Mai
2011 in Zusammenarbeit mit den
Kirchen neu aufgestellt worden.
Auch bei Beisetzungen
von Amts wegen muss auf die Kosten geachtet werden. Die kommunalen Ordnungsbehörden sind
durch die Rechtsprechung gehalten, die günstigste Bestattungsart
zu wählen. Vor gut zehn Jahren
fand laut Oliver Schäfer in Gelsenkirchen ein Umschwenken
von Erd- auf Feuerbestattungen
statt. „Wobei in besonders begründeten Fällen davon abgewichen
werden kann.“ Wie viele dieser
ordnungsbehördlichen Bestattungen es in den letzten Jahren gab?
„Seit Jahren bewegt sich die Zahl
zwischen 200 und 250 Fällen“, so
Schäfer. Eine Tendenz lässt sich
demnach nicht ableiten.
Gelsendienste pflegt die Gräber
Bevor evangelische und katholische Kirche die regelmäßigen Bestattungen auf dem Hauptfriedhof
in Buer übernommen haben, fanden die Beisetzungen unbedacht
Verstorbener auf Friedhöfen in
Wohnortnähe statt, wobei, so der
Stadtsprecher, auch dann die Kirchen eingebunden waren – und
zwar die jeweiligen Gemeinden.
Was die Stadt für eine Bestattung inklusive Einäscherung
zahlt, wenn der Verstorbene kein
Geld hinterlassen bzw. keine Angehörigen hat, dazu könne die
Verwaltung aus Gründen des
Datenschutzes keine Angaben
machen. Schäfer: „Allgemein
kann gesagt werden, dass die Leistungen des Bestattungsunternehmens im Rahmen einer Ausschreibung ermittelt wurden.“
Und wer pflegt die Urnengräber
der ordnungsbehördlich Bestatteten auf dem Hauptfriedhof? Das
ist einfach: „Gelsendienste.“ ans
Ein letzter Gruß am offenen Urnengrab: Die Rose ist für Karl Erich Kuschmierc. Betreuer des Sozialwerks St. Georg, eine Nachbarin und der Mitbewohner des Verstorbenen haben sich eingefunden, um die Urne auf ihrem letzten Weg von der Trauerhalle zum Besstattungsfeld
zu begleiten. Drei weitere Urnen werden in die Erde gelassen – sie haben einen Namen, aber keiner kannte die einsam Gestorbenen.
FOTOS: THOMAS SCHMIDTKE
Dieses Urnengrabfeld mit ordnungsbehördlich Beigesetzten ist bereits komplett
mit Ruhe-Steinen ausgestattet.
würdigen Rahmen zu festen Terminen zu geben und die Toten mit dem
Segen beider Konfessionen zu verabschieden. „Es hat gedauert, aber
seit drei Jahren finden diese Bestattungen regelmäßig statt“, sagt sie.
Während Seelsorger bei Beerdigungen im Kreis von Familien,
Freunden, Nachbarn und Kollegen
aus dem Leben der Verstorbenen
erzählen können, stoßen Zuzanna
Hanussek und Pfarrer i.R. Hermann Zimmermann bei ordnungsbehördlichen Abschieden an ihre
Grenzen. „Wer bist du, wie hast du
gelebt, wie bist du gestorben?“ habe
sie oft im Stillen gefragt, wenn niemand der Urne eines Verstorbenen
das letzte Geleit gab. „Ich möchte
diese Dunkelheit erhellen.“ Aber:
Während die Pfarrerin bei Sozialdezernentin Karin Welge bei ihrem
Plan, zu regelmäßigen Zeiten Bestattungen durchzuführen, Unterstützung fand, wurde ihr Anliegen
auf Datenschutzaufhebung bei unbedacht Verstorbenen zu Forschungszwecken abgelehnt. Weil
kein öffentliches Interesse bestehe.
Aber ein zutiefst menschliches ...
Würdevoller Abschied von allen Menschen
An jedem ersten und dritten Dienstag im Monat zelebrieren Pfarrerin Dr. Zuzanna Hanussek und ihr katholischer Amtskollege Hermann
Zimmermann, Pfarrer i.R., auf dem Hauptfriedhof in Buer ordnungsbehördliche Bestattungen
Von Inge Ansahl
Karl Erich Kuschmierc, Lothar Lutz
Stasiak, Heike Bauer, Walter Arthur
Rohman – vier Namen, vier Schicksale.
Vier Tote. Die Urnen mit den eingeäscherten Überresten der Verstorbenen stehen zur Bestattung bereit am
Urnengrabfeld auf dem Hauptfriedhof
in Buer. Letzte Ruhestätte für Menschen, deren Bestattungskosten niemand tragen kann oder die keine Angehörigen haben. Für Menschen, die völlig vereinsamt gestorben sind, die
manchmal lange an dem Ort gelegen
haben, wo sie ihren letzten Atemzug getan haben ... bevor sie jemand entdeckt
hat. Manchmal nur durch Zufall.
Pfarrerin Dr. Zuzanna Hanussek, ihr
katholischer Amtskollege, Pfarrer i.R.
Hermann Zimmermann, und Bestatterin Doreen Giacchi treffen heute auf
fünf Leute, die Punkt Zwölf vor der
Trauerhalle auf dem Hauptfriedhof
warten, um an der ordnungsbehördlichen Bestattung teilzunehmen. Sie alle
kannten Karl-Erich Kuschmierc, der
vom Sozialwerk St. Georg betreut wurde. 71 Jahre war er alt, soll „ein netter
Kerl, mit dem man gut auskommen
konnte“ gewesen sein. Seine St. GeorgBetreuer sind gekommen, eine
Nachbarin
und
sein
Zum Gedenken an einen Verstorbenen leuchtet ein
Grablicht.
Mitbewohner, der sichtbar ergriffen ist.
Krank sei er gewesen, der Kollege, sagt
der Mann. Jeder hat eine Rose mitgebracht. Letzte Grüße für Karl-Erich.
Pfarrer Zimmermann begrüßt die
kleine Gruppe, sagt: „Es ist gut, dass sie
jetzt hier sind. Vielleicht nehmen sie
den Weg zu den Gräbern zum Anlass,
nachzudenken.“ Und am Ende vielleicht ein paar Worte zu sprechen, auch
für die, die niemand kannte? An den
vier Urnengräbern redet wenig später
zunächst Zuzanna Hanussek. Sie zitiert die Bibel, vergleicht das Leben
eines Menschen mit wachsendem grünen Gras und einer blühenden Blume.
„Mit einem Mal ist dann das
Gras verdorrt und die
Blume ist abgefallen.“ Aber,
fragt sie weiter: „Wo ist der
Mensch?“ Sein Leben, seine Geschichte, seine letzte Zeit … „Es gibt Menschen, die keiner kannte. Wir stehen
hier, damit sie nicht nur Erde und
Asche sind, sondern eine Persönlichkeit, von der wir uns verabschieden.“
Sie bittet darum, ins „Vater unser“ auch
die Leute einzuschließen, die vielleicht
gerade unbemerkt mit dem Tod ringen.
Namenssteine für die Toten
Jeder der vier Verstorbenen wird einzeln mit seinem Namen verabschiedet
und gesegnet. Zusammen bilden die
vier frischen Urnengräber ein neues
Quadrat auf dem schmalen, von Steinen
eingefassten
„Gottesacker“.
Gleich nebenan sind die Reihen mit
unbedacht Verstorbenen belegt. Die
Urnengräber tragen Steine mit den Namen der Verstorbenen.
Die Kosten dafür, dass der Name der
Toten in Erinnerung bleibt, trägt der
ökumenische Verein Ruhe-Steine e.V.,
der aus der Arbeitsgemeinschaft
Christlicher Kirchen und Gemeinschaften Gelsenkirchen hervorgegangen ist. Arm oder einsam sein dürfe
nicht bedeuten, namenlos zu sein,
unterstreicht Zuzanna Hanussek an
anderer Stelle.
Doreen Giacchi arbeitet für das Bestattungsinstitut Bergermann, dass die
ordnungsbehördlichen Bestattungen
im Auftrag der Stadt durchführt. Sie
geht, wenn sie kann, immer mit. Aus
Überzeugung. Weil manchmal außer
Pfarrerin Hanussek, Pfarrer Zimmermann und ihr selbst niemand an den offenen Urnengräbern steht, um die Toten zu verabschieden, die niemanden
mehr hatten, arm waren – einfach vergessen. Eine Beisetzung ohne Menschen, die Abschied nehmen, das wün-
Das soziale Sterben geht dem physischen Tod oft voraus
Das ist eine Erkenntnis der Studentin Susanne Loke, die ein Jahr lang am Forschungsprojekt „Unentdeckte Tode“ mitgearbeitet hat
Von Inge Ansahl
Würdevoll: Behutsam wird
eine Urne der
letzten Ruhe
übergeben.
Schon, als sie noch in Herford im
Bereich Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit gearbeitet hat, regte Zuzanna Hanussek an, aufmerksam zu sein für die Menschen aus
dem Kreis der Betreuten. Weil sie
merkte: „Da stand immer einer an
derselben Stelle – und plötzlich war
er weg.“ Dann kamen hier und da
Anfragen von Bestattern, „ob ich
auch Menschen ohne Konfession
bestatten würde“? Natürlich, keine
Frage. Als „Begleitservice“ beschreibt sie leise lächelnd die Beerdigungen, denen sie fortan immer
wieder Würde verlieh. Denn: „Ich
finde, dass niemand ohne ein Wort
gehen sollte.“ Die Würde des Menschen sei auch auf seinem letzten
Weg unantastbar.
2008 trat Pfarrerin Dr. Zuzanna
Hanussek ihren Dienst im Referat
Altern beim Ev. Kirchenkreis GEWattenscheid an. Hier erlebte sie
als Seelsorgerin auch die Geschichte einer alten Frau, die sich zu Lebzeiten ausdrücklich gewünscht hat,
man möge sie nach ihrem Ableben
nicht verbrennen. Und dann sollte
sie ordnungsbehördlich bestattet
werden. Das Ringen um die Erdbestattung der Verstorbenen war der
Auslöser für die Bemühungen Hanusseks, Sozialbeisetzungen einen
Keine Forschungsgrundlage trotz der
Brisanz dieses Themas: Vor diesem
Hintergrund hat sich Susanne Loke
mit ihren Kommilitoninnen Laura Geser und Nadine Henke an das Lehrforschungsprojekt „Unentdeckte Tode“
gemacht, sich mit den Hintergründen
des Lebens und Sterbens einer Gruppe
unentdeckt Verstorbener in Gelsenkirchen befasst. Den Anstoß dazu gab
Pfarrerin Dr. Zuzanna Hanussek, die
beim evangelischen Kirchenkreis
Gelsenkirchen-Wattenscheid das Referat Altern leitet. Sie weckte das Interesse der Studentinnen des Masterstudiengangs Soziale Inklusion
an der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.
Der Theologin war bei der Durchsicht
von Dokumenten aufgefallen, dass ein
nicht unerheblicher Teil der ordnungsbehördlich Bestatteten schon längere
Zeit tot in ihren Wohnungen gelegen
haben muss. Die Studentinnen haben
ihrer Forschungsarbeit also die Frage
zu Grunde gelegt: Gibt es in Lebenslage und Sozialraum unentdeckt Verstorbener Gemeinsamkeiten?
Susanne Loke hat die Sozialraumanalyse übernommen und zu diesem
Zweck Gelsenkirchener Stadtteile besucht, Bestattungsunterlagen eingesehen – die Dokumente von 59 toten Gelsenkirchenern standen ihr zur Verfügung – und sich in ein Thema eingearbeitet, mit dem sie sich vorher nie beschäftigt hatte. Ende 2013 hat sie mit
den Kolleginnen die Forschungsarbeit
begonnen. Ein Jahr später lag das Ergebnis vor. „Mein Studium hat durch
diese Arbeit eine andere Ausrichtung
bekommen. Ich würde mich gerne beruflich damit beschäftigen“, zieht Susanne Loke ihr persönliches Fazit.
Neuausrichtung, das passt zu der 50Jährigen Wattenscheiderin. In den
1990er Jahren hat sie Sozialpädagogik
studiert, vor der Diplomarbeit der Familiengründung den Vorzug gegeben.
Es folgten Teilzeitbeschäftigung im sozialen Bereich, dann der Bachelor-Abschluss im Heilpädagogik-Studium.
Jetzt sattelt sie also den Master drauf.
Das Thema der Forschungsarbeit hat
sie nachdenklich gemacht. „Es wäre
möglich, Ursachenforschung zu betreiben, wenn die Zahl der unbemerkt Verstorbenen erfasst würde“, sagt sie.
Denn: „Auf den Totenscheinen ist die
Liegezeit erfasst.“ Allerdings würden
diese Ereignisse von den Standesämtern statistisch nicht erfasst – obwohl es
doch so einfach wäre.
Bei Menschen, die Tage, Wochen
oder gar Monate tot in ihrer Wohnung
lagen, bevor man sie fand, sei das soziale Sterben dem physischen Sterben vorweg gegangen. Woraus die 50-Jährige
den Schluss zieht: „Wir müssen schauen, wo die Verstorbenen aus dem Sozialraum gefallen sind, um künftig genau da anzusetzen. Da müssen Handlungskonzepte entwickelt werden.“
Weil davon auszugehen sei, dass das
Thema in Zeiten demografischen Wandels, wachsender Altersarmut, Vereinsamung, aber auch der Erwerbslosigkeit an Bedeutung gewinne. „Nötig
sind soziale Fachkräfte, die in den
Quartieren auf Vereinsamung achten und Unterstützung anbieten“, formuliert sie ihre Zielvorstellung.
Menschen mit geringen Ressourcen seien am ehesten
vom einsamen Tod betroffen. Susanne Loke
sieht Ursachen des
unbemerkten
Sterbens auch in der Anonymität der Nachbarschaft. „Es fehlt die
Aufmerksamkeit, das
Nachforschen.“ Etwa
durch Klingeln an der
Tür eines Menschen,
der plötzlich weg ist,
durch Nachschauen, Hilfe holen …
sche sich doch niemand für seinen eigenen letzten Gang, meint sie.
Karl Erich Kuschmierc war auf seinem letzten Weg nicht allein – und die
drei toten Menschen an seiner Seite
auch nicht. Das wünschen sich Zuzanna Hanussek und Hermann Zimmermann für alle ordnungsbehördlichen
Bestattungen. Sie finden regelmäßig an
jedem ersten und dritten Dienstag
eines Monats um Punkt 12 Uhr auf
dem Hauptfriedhof in Buer statt.
Manchmal werden mehr Urnen, es waren durchaus schon einmal acht oder
zehn, in die Erde gelassen. Für Pfarrerin Hanussek, die an den festgelegten
Tagen oft Tote bestattet, die ihr zu Lebzeiten nie begegnet sind, über deren Leben sie nichts weiß, sind letztes Geleit
und würdevoller Abschied umso wichtiger. Weil es das Letzte ist, was man für
den Menschen tun kann.
Studentin Susanne Loke (50) aus Wattenscheid erforschte das
Thema „Unentdeckte
Tode“ in Gelsenkirchen.
FOTO: MICHAEL KORTE
Pfarrerin Zuzanna Hanussek und Pfarrer i.R. beerdigen gemeinsam unbemerkt oder arm Verstorbene. Viermal im Jahr finden
zudem Gottesdienste zum Gedenken an die ordnungsbehördlich Bestatteten statt.
Schalke-Nord schneidet in der Bewertung der
Studentinnen nicht sonderlich gut ab
Straßen laut und schmutzig, keine öffentlichen Treffpunkte
Um persönliche Eindrücke aus
dem sozialen Nahraum der unentdeckt Verstorbenen zu gewinnen,
haben sich die Studentinnen auf
den Weg durch die Stadtteile gemacht, haben Straßen charakterisiert, das Umfeld gesichtet oder etwa die äußeren Erscheinungsbilder
der Häuser in Augenschein genommen, in denen laut vorliegenden
Dokumenten ein Mensch unbemerkt gestorben ist. Auch die Nahversorgung in den Quartieren wurde gecheckt. Schalke-Nord schneidet in der Bewertung nicht sonderlich gut ab. Baufällige, nicht mehr
bewohnte Häuser, die Straßen laut
und schmutzig, weite Wege bis zum
nächsten Discounter, Mangel an öffentlichen Treffpunkten.
Über Bulmke-Hüllen halten die
drei Frauen in der Arbeit fest: „Viele
der letzten Wohnadressen der Verstorbenen im Westen des Stadtteils
sind Nebenstraßen der Bismarckstraße, welche ein gemischtes Bild
bezüglich des baulichen Zustands
der Häuser und der Belegung aufweisen.“ In Horst ist ihnen aufgefallen, dass die Wohnhäuser der unentdeckten Toten „in der Mehrzahl
in einem mäßigen bis schlechten
Zustand sind“, was auch das Umfeld ohne dazu gehörige nachbarschaftliche Treffpunkte angehe.
Unterstützung fanden Susanne
Loke, Laura Geser und Nadine
Henke beim Ordnungs- und Sozialamt sowie bei der Statistikstelle der
Stadt Gelsenkirchen. Bei den Statistikern stießen sie auch mit ihrem
Wunsch auf offenen Ohren, man
möge in Gelsenkirchen künftig unentdeckt Verstorbene erfassen. Dies
sei kein umständliches Verfahren
und könne in Absprache mit den
zuständigen Ämtern, wenn von der
Stadt gewünscht, geschehen, lautete die Antwort. Das in der Forschungsarbeit nachzulesende Entgegenkommen dürfte die Initiatorin des Projekts, Zuzanna Hanussek, freuen. Die am Thema dran ist –
leise, aber beharrlich.
ans