Schweizer Illustrierte (3,4 MiB)

Rösti
on the
Rocks
Es gilt als «interessantestes Restaurant
der Welt»: Im AESCHER im Appenzeller Alpstein wohnt und wirtet Familie
Knechtle. Wie lebt man mit zwei kleinen
Kindern so nah am Abgrund?
Felsenfest Am Fusse einer Schratten­
kalkwand klebt der «Aescher» auf
1454 Metern Höhe. Ein hektischer Sonntag mit vielen Gästen endet; jetzt wird
es Nacht, Stille und Ruhe kehren ein.
SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 37
Ein mystischer Ort.
Der
Fels
bedroht und
beschützt zugleich
Steiler Wohnen Familie Knechtle:
Bernhard, 30, und Nicole, 29, mit
den Mädchen Sofia, 18 Monate,
und Elice, 4 Monate. Im «Aescher»
bewohnen sie zwei kleine Zimmer.
SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 39
Kindersicherung Am Sonnenschirmsockel festgebunden, spielt
Sofia im Häuschen Röstikochen.
Unten: Leinenpflicht Ein Schild
warnt. Grossmutter Claudia hat
Sofia am Strick und fest im Griff.
Hochbetrieb Terrasse und Gaststube im «Aescher» sind voll ­belegt
mit Gästen aus aller Welt.
Oben: Morgens, 5.30 Uhr Grossvater
Beny Knechtle beobachtet Gämsen
von der «Aescher»-Terrasse aus.
40 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
Machen Dampf «Aescher»-Wirt
Bernhard Knechtle (l.) an den Pfannen.
Hinten helfen Vater Beny (r.) und
Bruder Reto. Katrin Wendel balanciert
Teller zu den Gästen.
42 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
Schönes Wetter bedeutet
Sturm
für Küche und Service
Schmaler Weg Wirt Bernhard
und sein Bruder Dominik, 23, unter­
wegs mit dem Raupentransporter.
Rechts oben: Höhlengereift In
der sechs Grad kühlen Grotte
­lagern Knechtles ihre Lebensmittel.
Rechts unten: Versteckt Die Tür
zum Höhlenkeller ist hinter dem
Altar der Wildkirchli-Kapelle.
44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
TEXT MARCEL HUWYLER
FOTOS KURT REICHENBACH
Be­weis­führung als «Chalberei»
und sich «sölber» als «total uninteres­
sant». Das Ehepaar hat
iese Aussicht, der
zwei Töchter, ­
Sofia ist 18 MoBerg, das Haus
nate, Elice 4 Monate alt. Wie so
am Fels – das ist
kleine Kinder zwischen Gästen,
selbst für einen
Felswänden und dem ­Abgrund
Amerikaner ziem- «Ich war auch
wohnen, spielen und aufwachlich «crazy». Der Mann mit Vor- schon dort!
sen – das ist nun wirklich «most
namen Tex ringt nach Luft. Und Das Restaurant
interesting».
Aescher ist
Worten. Schliesslich breitet er die
Heute ist Sonntag, heute ist es
sensationell
Arme aus, macht ein theatralisch ge­legen – kein
schön, «en struube Tag» wird erverzücktes Gesicht und schreit Wunder, ist
wartet. Noch herrscht Ruhe. Die
ein stummes «Wow!» hinaus. Tex es jetzt welt­
ersten Sonnenstrahlen züngeln,
berühmt.
Doch
stammt aus Texas, ist 25, trägt
die Sonnenterrasse ist leer, ein
Rucksack und Zahnspange. Die- auch eine touris- paar Bergdohlen stemmen sich
tische Ikone
sen Sommer reist er erstmals
gegen den Wind, es ist halb sechs
lebt letztlich von
durch die Schweiz; zuoberst auf der täglichen
Uhr morgens. Familie Knechtle
seiner Wunschliste steht dieser Arbeit. Ich beschläft noch, oben im ersten
Ort hier: am Abhang, tollkühn an wundere, wie
Stock, wo sie neben dem Gästeden Fels gelehnt, am Fusse einer die Knechtles
Matratzenlager (45 Schlafplätze
Beruf und
hundert Meter hohen Schrattenmit Daunendecken) zwei kleine
Familie unter
kalkwand – das ist das Berggast- einen Hut
Zimmer bewohnt. Auf der Terrashaus Aescher-Wildkirchli.
se, ganz allein, sitzt Grossvater
bringen.»
In der «Huffington Post» habe
Beny Knechtle, 58, und linst mit
er davon gelesen, sagt Tex aus
dem Fernglas zu den Gämsen, die
­Texas (ob er es seinen Eltern je
in den Steilwiesen der Berge äsen.
heimgezahlt hat?). Die Online­
27 Jahre lang waren Beny und seizeitung – mit täglich 115 Millione Frau Claudia, 51, die «Aescher»nen Besuchern die meistgelesene
Wirtsleute. Vor zwei Jahren haben
News­seite in den USA – präsenSohn Bernhard und Schwiegertierte letzthin eine Liste der
tochter Nicole die Pacht angetre«most interesting restaurants in
ten, trotzdem ist Beny noch jeden
the world»: Auf Platz drei steht
Tag hier und hilft mit. Vom 1. Mai
ein Höhlenrestaurant in Mexiko,
bis 1. November dauert die Saison,
auf Platz zwei eine Insel-Beiz auf
im Winter wohnt man im Tal unSansibar und auf dem ersten
ten, in Weissbad AI. Sein Sohn sei
Platz – der «Aescher» im Appenhier oben aufgewachsen, erzählt
zeller Alpsteingebirge. Seither
Beny, der wisse drum genau, was
wird der Ort weltweit in Reisees für Sofia und Elice bedeute, auf
Foren gelobt und gehypt als
dem «Aescher» gross zu werden.
«Highlight high in Switzerland».
«Wundeschö» seis (Innerrhödler,
Das interessanteste Restaurant
das lernen wir im Laufe des Tages,
der Welt wird logischerweise
lassen gern und oft das r weg),
von den interessantesten Wirtsfrei sei man hier oben, nur auf­
leuten der Welt geführt. Bernpassen müsse man halt, runter­
hard, 30, und Nicole Knechtle, 29.
fallen dürfe man nicht. Gross­
Beide Appenzell Innerrhödler,
vater Beny nimmt den letzten
beide Wirtskinder, kennengelernt
Schluck Zmorgekafi (hier trinkt
haben sie sich im Kindergarten.
man aus dem Glas), sagt, bald seis
Sie winken ab, bezeichnen die
vorbei mit der Ruhe, das erste
D
Da macht man Augen Knechtles
in der Gaststube. Die hinterste
Hauswand ist kalter, nackter Fels.
Unten: Am Stammtisch Susanne
Kölbener, Nicoles Gotte, hütet
Baby Elice in der Babywippe.
Das sagt
Alain Berset
Seil­bähnli in Wasserauen unten
fahre um halb acht los, «denn goht
denn ebis do».
Ein paar Stunden später:
Tau­
sende Wanderer, Ausflügler
und Touristen kreuzen sich auf
den schmalen Weglein; Stau gibt
es, wenn Alphornträger, Senioren
mit Wanderstöcken und Asiaten
mit Selfie-Stangen ihre Geräte ineinander verkeilen. Im Minutentakt flattern Gleitschirmflieger
um die Felsecken, zwei deutsche
Alpinisten kühlen mit Eisbeuteln
ihre blutigen Unterarme («Mann,
was für ein Steinschlag, Mann!»),
und in die Steilwände haben sich
Sportkletterer festgekrallt.
Familie Knechtle, verstärkt
durch Geschwister und Angestell­te, wirtet und wirbelt. Nicole
serviert, kassiert, parliert und
jongliert Tablette voller Höhlenmerin­
gues, Schlorziflade und
Schwaate­mage (ohne r). Berühmt
aber ist das Berggasthaus für seine Rösti, «Aescher»-Rösti direkt
am Fels – Rösti on the Rocks.
Chef in der Küche ist Bernhard
Knechtle. 14 Tonnen Kartoffeln
pro Saison (er schwört auf die
Sorte Agria) verarbeitet er. Sieben schwere, tiefe Bratpfannen in
Töff­rei­fen­grösse stehen unter
Dauerhitze. Die Kartoffeln werden 18 Minuten im Dampf vorgegart, zwei Tage in Ruhe gelassen,
von Hand geschält und mit einer
Maschine gerieben. Pfeffer und
Streuwürze drauf «und nicht
dauernd mit der Kelle herumfuhrwerken», doziert Bernhard
(er ist Koch und Metzger) und
rüttelt und kehrt die Sache mit
Schwung aus dem Handgelenk.
Auch Tex aus Texas kaut an
­einer Rösti mit Käse (er pappt
noch Ketchup drauf ) und verdreht ge­
nies­
serisch die Augen.
Eine Lands­
frau von ihm mit
«Chic happens»-Bluse wischt u
SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 47
u derweil mit Desinfektionstüch-
lein Tisch, Stuhl und Besteck
ab. Von den Bratspeck­
streifen,
die sie später samt Rösti ordert,
chirurgiert sie Fett- und Knorpelstückli heraus.
Das Gebiet Aescher-Wildkirchli zog die Menschen seit
je an. In den drei WildkirchliHöhlen hausten von 50 000 bis
30 000 v. Chr. Neandertaler. Von
1658 bis 1853 lebten hier Eremiten, welche auch Wallfahrer
bewir­­te­ten – und so den Tourismus be­
grün­
deten. Wo früher
Sennhüt­ten standen, wurde 1850
der «Aescher» gebaut (das Wort
stammt wohl von Asche, eine
Hütte muss ab­gebrannt sein). So
mystisch der Ort auch ist, er hat
seine Tücken.
Der letzte Eremit stürzte
1853 beim Laubsammeln tödlich
ab, und 1904 verunglückte die
Tochter des Wirtes. Der «St. Galler Rheinbote» schrieb damals:
«Beim Teppichreinigen stürzte
die Marie über den Felsen, das
brave Mädchen war eine Leiche.»
Hier zu leben, ist nicht ungefährlich, besonders für Kinder.
Baby Elice kommt noch nicht
sehr weit. Auf dem Stammtisch –
an hektischen Tagen Knechtles
Familienoase – liegt sie in einer
Wippe und wird abwechselnd
von einem Familienmitglied gehütet. Zudem stecken überall Haken in der Decke, an die man eine
Baby-Hängematte festbindet. So
kann der Papa am Herd stehen,
Rösti kehren und gleichzeitig sein
Töchterchen schaukeln.
Da ist es mit der 18 Monate alten Sofia komplizierter. Die sei
wiesel­flink, immer «ondewegs»
(ohne r) sagt die Mutter. Und das
bei den Abgründen . . . Also bindet
man ­Sofia ein Seil um den Bauch,
zwei Meter lang, und geht so mit
ihr spazieren. Ist das Kind allein,
48 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
wird das Seil an einen Sonnenschirmsockel geknotet. Da steht
das angeleinte Mädchen im Spielhäuschen vor dem Spielkochherd,
schwingt ein Pfännchen und
spielt – Röstikochen.
Noch heute werden im Höhlenkirchlein Wildkirchli Gottesdienste gefeiert. Die grosse Offenbarung allerdings erfährt man
hinter den Kapellkulissen. Hinter dem Altar, in der Felswand
drin, ist eine Tür, dahinter eine
riesige Höhle, sechs Grad kühl –
das Lebensmittellager der Knechtles. Mit einem Raupentransporter,
Knechtles nennen ihn «s Motöli»
(ohne r), wird die Ware von der
Höhle zum «Aescher» gefugt.
­Material aus dem Tal wird mit der
Luftseilbahn transportiert, die
auf halbem Weg stoppt und die
Ware zu einem Standplatz abseilt.
Nicole und Bernhard sind
glücklich hier. Was für andere
Stress und Entbehrung bedeutet,
bewältigt die Familie mit kluger
Organisation, Gelassenheit, Biss
und einer gesunden Einstellung
zu harter Arbeit. Sieben Tage in
der Woche, 17 Stunden am Tag
den flinken, flotten, freundlichen
Gastwirt geben, die Nerven behalten, obwohl «d Goofe» am
­Abgrund spielen, improvisieren,
weil der nächste Laden Stunden
entfernt im Tal und nur per Seilbahn erreichbar ist – so ein Leben
muss man wollen und meistern.
Bernhard redet von der Freiheit hier oben, der «wundeschöne» (ohne r) Aussicht und vom
Sonnenaufgang, der ihn wecke,
Nicole schwärmt von der einmaligen Atmosphäre und der Ruhe
nachts. Hin und wieder wär es
zwar schön, in eine Badewanne zu
steigen, sagt sie, doch im Winter,
im Tal unten, könne sie das nachholen. Und Bernhard, wo sieht er
Negatives? Den Befehlston man-
Röstifest
Pro Jahr brauchen Knechtles
14 Tonnen
Kartoffeln. Nur
die Sorte Agria
kommt ihnen
in die Pfanne.
Schnapsbild
Der «Aescher»
ziert sogar
die Flaschen­
etikette des
Appenzeller
Alpenbitters
(mit 42 Kräutern).
cher Gäste mag er nicht, und ex­
travagante Wünsche wie Schampus oder Kaviarrösti findet er hier
oben ziemlich daneben.
Es wird Nacht. Die letzten
Gäste wandern talwärts, Tex
aus Texas ist längst weg, er
schaut sich morgen Zermatt an.
Das «Aescher»-Team höckelt auf
der Sonnenterrasse, die nun zur
Mond­terrasse wird. Und jetzt, wo
man wieder a­ llein hier oben ist,
der Stille lauscht, die Abgeschiedenheit spürt und die Macht und
Pracht der Berge einen demütig
stimmt, erkennt man, was für ein
guter Ort dieser «Aescher» ist.
Das wissen auch die Promis. Graf von Zeppelin besuchte
den Ort, Prinz Louis Napoleon, Nobelpreisträger Röntgen
und Tina Turner. US-Schauspieler Ashton Kutcher postete auf
Facebook ein «Aescher»-Foto.
Der Star hat 17 Mil­lionen Follower, da brauchen Knechtles weiss
Gott nicht noch extra Werbung zu
schalten. Im Herbst wird «National Geographic» ein Buch mit
«225 of the world’s most amazing
places» publizieren. Titelbild: der
«Aescher».
Bernhard kippt Appenzeller
Alpenbitter in Schnapsgläser.
Prost, «guet, göll – me nemmid
no en», der Bitter wird mit jedem
Gläsli süsser. Auf der Flaschen­
etikette ist der «Aescher» drauf.
Der Ort ist Kult, die Rösti auch –
und schon ist man wieder beim
Thema. Nicole scherzt, ihre nächste Tochter heisse Amandine, wie
die Kartoffelsorte. Nein, nur ein
Witz seis, kein Elternpaar gebe
­seinem Kind einen so blöden Namen. Gelächter, der Mond schimmert an der «Aescher»-Felswand,
eine letzte Runde Appenzeller.
Vielleicht sollte sich Nicole mal
mit den Eltern von Tex aus Texas
unterhalten. 