30 Ski-Sicherheitsbindung Die Ski-Sicherheitsbindung ist ins Gerede gekommen: Skiunfall-Forscher fordern massive Verbesserungen Die „Sicherheitsbindung“ ist ins Gerede gekommen. In Berichten über Skiunfälle wird deutlich: Der Skihelm hat mittlerweile zwar wesentlich dazu beigetragen, den Menschen oben, also am Kopf, zu schützen. Doch am anderen Ende, nämlich dort, wo der Skifahrer mit dem Ski verbunden ist, gilt nach wie vor das Prinzip Zufall: Wie wird eingestellt? Sind die gängigen Einstellmethoden überhaupt vertretbar? Mit diversen Beiträgen hat SAZsport im November und Dezember auf die Problematik (nicht zuletzt für den Händler) hingewiesen. Das Thema ist hoch brisant. Heute meldet sich einer zu Wort, der weiß, wovon gesprochen wird: Ulo Gertsch, Erfinder der Plattenbindung, Urheber von über 100 international erteilten Patenten im Bereich von Skibindungs- und Skischuh-Systemen, rund zehn Jahre lang Skilehrer und Bergführer. Sein nachfolgender Kommentar muss nachdenklich machen. Die Diskussion um die Probleme im Bereich der „Sicherheits-Skibindungen“ wurde in SAZsport neu entfacht. Ich erlaube mir, meine Sichtweise darzulegen. Tibiakopf oder Körpergewicht? Ende der 1960er-Jahre, als die Grundlagen der Tibiakopf-Methode als Resultat von umfangreichen, wissenschaftlichen Untersuchungen (Asang, Vogel) entwickelt wurden, standen die Unterschenkelbrüche als signifikant häufigste Verletzungsart an erster Stelle der Unfallstatistiken. Heute nehmen Knieverletzungen mit Abstand den ersten Platz ein: In der Schweiz sind es gemäß der langfristigen BFU-Statistik (20022010) 35 %, gefolgt von Schäden an Unterschenkel/Sprunggelenk/Fuß mit 17 % und Schulter/Oberarm mit ebenfalls 17 %. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Knieverletzungen in Deutschland weniger häufig sind als in der Schweiz. Konklusion: Es muss ernsthaft geprüft werden, ob die Tibiakopf-Methode, die praktisch nur noch in Deutschland angewendet wird, den veränderten Verletzungslokalisationen bei Skiunfällen gerecht wird. Sind Prüfgeräte obligatorisch? Nachdem auch die Prüfgeräte normiert wurden (ISO 11110), steht außer Frage, dass grundsätzlich alle Bindungen zumindest vor ihrem Ersteinsatz mittels Prüfgerät eingestellt werden sollten. Die Praxis zeigt aber, dass eine juristisch verbindliche Vorschrift hierfür unrealistisch wäre. So ist es beispielsweise in den Spitzenzeiten des Skiverleihs, insbe- sondere in Ski-Stationen, völlig unmöglich, jedes Paar Ski auf die Prüfanlage zu spannen und sowohl am Vorderbacken als auch an der Fersenautomatik so lange zu schrauben, bis der elektronisch angezeigte Wert des Gerätes an der Bindungsskala erreicht ist. Auch bei FirmenSkitests im Gelände mit Sporthändlern oder potenziellen Konsumenten kann nicht verlangt werden, dass die Bindungen jedesmal per Prüfgerät eingestellt werden. Ein Prüf-Obligatorium wäre zudem für den Internetverkauf von Ski mit montierter Bindung nicht praktikabel, wobei es natürlich Pflicht jedes IT-Verkäufers ist, auf die Bedeutung der Einstellung mit einem Prüfgerät klar hinzuweisen. Konklusion: Die Einführung eines Prüfge räte-Obligatoriums wäre un realistisch. Es müssen andere Wege zur Lösung dieser Problematik gefunden werden. Die Skiunfall-Verhüter und Skibindungs-Hersteller sind gefordert. Ein Appell an die Skiunfall-Verhüter Es besteht Einigkeit in der SkiFachwelt: Die Zahl der Skiunfälle ist zu hoch, die durchschnittliche Schwere der Verletzungen nimmt zu. Darunter leidet die gesamte Wertschöpfungskette Wintersport. Ein Teil der Ursachen ist bei der Skibindung zu suchen: Seit dem Skibindungstest der Stiftung Warentest (*) gab es nie mehr eine umfassende Überprü- fung dieser Art. Messungen auf Skipisten, wie sie die schweizerische Beratungsstelle für Unfallverhütung während Jahren durchführte, gibt es nicht mehr. Die Skibindungs-Hersteller sind nicht mehr verpflichtet, ihre Produkte durch offizielle Stellen (TÜV, BFU) prüfen zu lassen. Sie müssen lediglich im Falle einer Klage den Nachweis erbringen, dass das betreffende Produkt ISO-konform gebaut und zum Zeitpunkt des Unfalls voll funktionstüchtig war. Nur ein Skibindungs-Prüfgerät kann zeigen, ob die Z-Zahlen der Skibindungen den von der ISO geforderten Dreh- bzw. Biege momenten entsprechen. Werden Skibindungen ausschließlich über die Z-Zahlen der Bindungsskalen eingestellt, wie dies sehr häufig der Fall ist, besteht keine Gewähr dafür, dass die eingestellte Zahl an der Skala dem betreffenden ISO-Wert entspricht. Dies ist von besonderer Bedeutung bei Skibindungen, welche während längerer Zeit im Gebrauch waren. Selbst die Einstellung mit dem Bindungs-Prüfgerät bringt nicht zum Ausdruck, ob das Gleitelement des Vorderbackens (AFD = Anti Friction Device) der Bindung voll funktionstüchtig ist. Auch hier ist das Verhalten des AFD nach längerem Gebrauch (Alterung, Verschmutzung, Vereisung) von hoher Wichtigkeit. befassen, sind aufgefordert, periodische Tests mit neuen und gebrauchten Bindungen (auch auf Skipisten) durchzuführen, um zu prüfen, ob die Z-Zahlen der Einstellskalen als auch das AFD-Verhalten die ISO-Norm erfüllen. Dieselben Gremien sind zudem aufgefordert, in regelmäßigen Abständen stichprobenweise Vollprüfungen von Skibindungen nach den ISO-Normen durchzuführen (im Sinne eines Warentests), wobei hier auch die Anschlusselemente SkischuhSohlen, Ski (Bindungsbereich) und Skistopper mit einzubeziehen sind. Und was tun die Skibindungs-Hersteller? Nach dem Inkraftsetzen der ISONormen für Skibindungen, die unseres Erachtens in Anbetracht des damaligen Standes der Technik auf zu tiefem Niveau etabliert wurden, konnten sich die Bindungshersteller zurücklehnen – nach dem Motto: „So gut wie nötig, so günstig wie möglich.“ Wie man munkeln hört, fordern die Skiunfall-Forscher jetzt massive Verbesserungen. Beispielsweise werde gefordert, dass die Bindung auch beim Rückwärtssturz auslöse. Zudem habe man erkannt, dass die Einflüsse von abgenützten und verschmutzten oder vereisten Skischuh-Sohlen sich negativ auf die Auslösewerte auswirkten – trotz reibungsmindernden Maßnahmen (AFD), insbesondere beim Torsionssturz und bei kombinierten Belastungen. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass wir während zwei Jahrzehnten Bindungen angeboten haben, welche völlig Sohlen-unabhängig funktionierten und allseitig (sphärisch) auslösten. Das zuletzt se rienmäßig produzierte Modell „Gertsch G90“ wies eine verspannungsfrei gelagerte Auslöseplatte mit Drehpunkt in verlängerter Beinachse, eine separat einstellbare Rückwärtsauslösung sowie ein optimales Kraft-Weg-Ver halten (Auslöse- und RückstellCharakteristik) auf. Konklusion: Die Bindungs-Industrie sollte sich auf Systeme zurückbesinnen, welche es in der Vergangenheit schon gab und die wesentlich mehr Sicherheit boten als die heute angebotenen Produkte. Eine deutliche Verschärfung der ISO-Normen würde eine Entwicklung in diese Richtung be schleunigen. Wir begannen, das System zu hinterfragen Vor mehreren Jahren gelangten wir zur Überzeugung, dass eine signifikante Senkung der Skiunfallzahlen nicht allein durch Verbesserungen der Skibindung erreicht werden kann. Wir begannen, das ganze System Ski/Bindung/Schuh und die Komplexität des Skisports schlechthin zu hinterfragen. Die Erkenntnisse dieser Studien, die von der Berner Fachhochschule Burgdorf (Prof. Bircher) wissenschaftlich begleitet wurden, führten zur Entwicklung eines Synchron-Ski-Systems, welches unter dem Produktnamen „Snowrails“ an der ISPO 2011 erstmals international vorgestellt wird. Das Hauptziel dieses neuartigen Skisystems besteht darin, die Ansprüche an die Sensomotorik der Skifahrer deutlich zu senken mit dem Ziel, die Sturzhäufigkeit zu reduzieren. Denn jeder Sturz ist potenziell ein Unfall. Praktisch bedeutet dies, dass die häufigsten Fahrfehler – wie Kreuzen und Auseinanderdriften der Ski als Folge von Kantenfehlern – nicht mehr möglich sind. Zudem sollen extreme Kurvenkräfte, die für das Knie besonders gefährlich sind, abgebaut werden. Konklusion: Neben der Verbesserung der Sicherheitsbindungen gibt es alternative Lösungen, die zu einer deutlichen Senkung der Skiunfallzahlen beitragen können. Ulo Gertsch Konklusion: Die Institutionen, welche sich mit der Skiunfall-Verhütung (*) Im ersten und bisher einzigen, umfassenden Skibindungstest der Stiftung Warentest (Berlin, 1969) erhielt die Gertsch-Plattenbindung von 25 Fabrikaten als einzige die Note „gut bis zufriedenstellend“, gefolgt von der Lusser-Bindung mit „zufriedenstellend“. Die große Mehrzahl der geprüften Produkte war „ungenügend“. Nr. 1/17.1.2011
© Copyright 2024 ExpyDoc