Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort - Evangelische Kirchengemeinde

Predigt zu EG 193 „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“
im Kantatengottesdienst am Sonntag Sexaegsimae (31. Januar 2016) im Gemeindehaus Gerstetten
Evangelium: Lukas 8,4-15 („Das Gleichnis vom Sämann“)
Kantate: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (BWV 126)
I. „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (Chor)
II. „Sende deine Macht von oben“ (Bass-Arie)
III. „Der Menschen Gunst und Macht“ (Alt- und Tenor-Rezitativ + Choral)
Epistellesung: Hebräer 4,12-13 („Die kritische Schärfe des Wortes Gottes“)
Tageslied: EG 193,1-3 („Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“)
Liebe Gemeinde,
mit der Kantate „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (BWV 126) von Johann Sebastian Bach werden wir
sechzig Tage vor Ostern, am Sonntag Sexagesimae, in dessen Zentrum das Wirken des Wortes Gottes steht,
mitten hineingeführt in die dramatische Entstehungsgeschichte des Protestantismus.
Am 31. Oktober 1517 hatte Martin Luther mit dem Anschlag seiner 95 Thesen an die Schlosskirche zu
Wittenberg ein Zeichen gesetzt – und was für eines! Schnell verbreiteten sich Luthers Thesen und seine
reformatorischen Erkenntnisse im ganzen Reich. Im Jahr 1520 verfasste Martin Luther seine
bedeutendsten theologischen Schriften wie die „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, im Jahr 1521
entwickelte der Brettener Theologe und Reformator Philipp Melanchthon den ersten evangelischen
Katechismus, im selben Jahr verteidigte der einfache Augustinermönch Martin Luther auf dem Reichstag
zu Worms seine Lehre mutig vor Kaiser, Königen und Fürsten. Anschließend übersetzte er während seines
Zwangsaufenthalts auf der Wartburg das Neue Testament in die deutsche Sprache. Die ersten Reichsstädte
und Fürstentümer schlossen sich in den kommenden Jahren der evange-lischen Lehre an, so bei uns in
Ostwürttemberg auch die freien Reichstädte Ulm und Giengen.
Die Sache der Evangelischen fand immer mehr Anhänger. Da drohte der neuen Lehre eine doppelte
Gefahr: Der noch junge Kaiser Karl V. hatte Frankreich besiegt und konnte sich nun dem Kampf gegen die
Evangelischen widmen. Auf dem Reichstag zu Speyer erreichte im Jahr 1529 die Bedrohung der
Evangelischen ihren Höhepunkt. Jedem, der sich zur neuen Lehre hielt, wurde die Reichsacht angedroht.
Das bedeutete Lebensgefahr für alle, die sich Luthers Lehre anschlossen. Die evangelischen Fürsten
verließen den Speyerer Reichstag unter Protest. Daraufhin erhielten die Evangelischen den Ehrennamen
„Protestanten“. Zugleich mit der zunehmenden Bedrohung durch den papsttreuen Kaiser wuchs eine
andere Gefahr im Osten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Im Jahr 1528 starteten die
Türken eine Großoffensive gegen das christliche Abendland. Ein Jahr später lagen sie dann schon vor
Wien. In dieser Situation rief Martin Luther in seiner Schrift „Vom Krieg wider die Türken“ zu bewaffnetem
Widerstand auf und übersetzte die altkirchliche Litanei „da pacem domine“ ins Deutsche. So entstand das
Lied „Verleih uns Frieden gnädiglich“ (EG 421), das seit den Zeiten der Reformation von der evangelischen
Christenheit gesungen wird – in unzähligen Kirchengemeinden unseres Landes seit hunderten von Jahren
immer als Friedensbitte unmittelbar vor dem Segen – so auch am heutigen Sonntag hier in Gerstetten.
„Verleih uns Frieden gnädiglich“ – dieses Lied hat im Laufe der Jahrhunderte eine grundlegende Wandlung
durchgemacht. Längst ist es kein antitürkisches Kampflied mehr. In den 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts wurde es zu einem der wichtigsten Lieder der Friedensbewegung und wird auch heute noch
oft gesungen, wenn Glocken zu Friedensgebeten rufen oder wenn Kriegsgefahr unsere Welt bedroht. Es
erinnert uns immer wieder daran, dass wir Menschen es nicht selbst in der Hand haben, Frieden auf Erden
zu stiften. Dass unsere menschlichen Möglichkeiten des Friedensstiftens immer des Beistandes Gottes
bedürfen, so fasste Luther treffenderweise am Ende der Friedensbitte zusammen: „Es ist doch ja kein andrer
nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.“ Mit den zwei Strophen dieses Liedes endet die
Kantate, deren erste drei Sätze bereits zwischen den Lesungstexten erklungen sind und deren Schluss wir
unmittelbar nach der Predigt noch hören werden.
Um den übrigen Teil der Kantate verstehen zu können, müssen wir aber nochmals eintauchen in die Zeit
der Reformation. Die Türkengefahr war keineswegs gebannt. Nach der Niederlage König Ferdinands, des
Bruders, von Kaiser Karl V., erstarkten die Türken im Jahr 1541 wieder. Als ein Jahr später das Gerücht von
neuen türkischen Angriffsplänen die Runde machte, verfasste Martin Luther eine „Vermahnung zum Gebet
wider den Türken“ und er dichtete das Lied, das zum berühmtesten und zugleich berüchtigtsten Lied der
Reformationszeit wurde „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“. Die Eingangsstrophe dieses Liedes lautete
damals:
Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steu’r des Papsts und Türken Mord,
die Jesum Christum, deinen Sohn, / stürzen wollen von seinem Thron.
Auch die Vertonung des Lutherliedes durch den Lübecker Kirchenmusiker Dietrich Buxtehude einige
Jahrzehnte vor Bach beginnt mit diesen denkwürdigen Anfangsworten, die heute eine schwere
diplomatische Krise mit dem Vatikanstaat sowie dem türkischen Generalkonsulat hervorrufen würden, die
ich ihnen aber dennoch nicht vorenthalten möchte. Beachtenswert ist vor allem der Schluss der Kantate,
die mit einem ausladenden und geradezu überschwänglich komponiertem „Amen!“ endet, welches den
Jubel über die gewährte Gebetserhöhung offensichtlich bereits proleptisch vorwegnimmt.
Dietrich Buxtehude: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (BuxWV 27)
„Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steu’re deiner Feinde Mord“ - „Mord“, liebe Gemeinde, ist nicht gerade
ein Wort, das man im Gesangbuch erwartet, und erst recht befremdlich klingt die zweite Zeile im soeben
gehörten originalen Wortlaut: „und steu‘r des Papsts und Türken Mord“. Luther nennt die beiden „Erzfeinde
Christi“ in einer für unsere Ohren geradezu anstößigen Konkretheit beim Namen und hat dabei eine
ebenso konkrete Bedrohung im Blick:
Diese scheinbar blutrünstig klingenden Zeilen sind einerseits Ausdruck der großen Verzweiflung, die
Martin Luther zu jener Zeit durchlitt. Andrerseits würden wir sie völlig missverstehen, wenn Luther hier
seine Hoffnung auf eine militärische Niederlage der auf Wien vorrückenden Türken hätte ausdrücken
wollen. Nicht die Angst vor einer militärischen Niederlage führte seine Feder, sondern die Sorge, dass in
dieser kritischen Situation der Weltgeschichte Gottes Wort zu Fall kommen und Christus selbst von
seinem Thron gestoßen werden könnte. Luther stellte sich die Frage: Wer ist der wahre Gott? Wer ist der
Herr der Welt Christus oder Mohammed? Die Ehre Gottes stand für Luther auf dem Spiel. Sie darf nicht
untergehen auf Erden, so war er überzeugt, sie darf nicht zerstört werden weder durch Feinde von außen
noch durch eine in sich zerrissene Christenheit. Darum die Bitte, die wir eben in der Kantate hörten: „Gib
dein’m Volk einerlei Sinn auf Erd!“ Luther sah die Christenheit seiner Zeit in Unglauben und Gleichgültigkeit
versunken – sie werden gewisse Parallelen zu unserer heutigen Zeit feststellen… Das einzige, was damals
helfen konnte, war für Luther das einfältige Gebet zu Gott. In einem seiner Tischgespräche sagte er einmal
im Jahr 1542: „Betet! Denn es besteht keine Hoffnung mehr auf die Waffen, sondern nur noch auf Gott. Wenn den
Türken jemand soll Widerstand tun, so werden’s die armen Kinderlein [sein], die beten das Vaterunser.“
So ist das Lied „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ letztlich ein einziger Gebetsschrei angesichts tödlicher
Bedrohung. Umso wichtiger ist es, dass der Kampf gegen die Feinde dann einmündet in die an Gott
gerichtete Bitte, seinem Volk Frieden zu schaffen in einem geruhsamen und stillen Leben unter dem
Schutz der Obrigkeit.
Schon bald nach Luthers Zeit wurden die beiden sog. Türkenlieder zu einem siebenstrophigen Lied
zusammengefasst, welches wiederum dann auch die Vorlage für Johann Sebastian Bachs Kantate „Erhalt
uns Herr, bei deinem Wort“, die fast genau 200 Jahre nach Luthers Lieddichtung entstand und am Sonntag
Sexagesimae des Jahres 1725 in Leipzig uraufgeführt wurde, bildete.
Die Strophen 1, 3, 6 und 7 dieses Liedes übernahm Bach unverändert in seine Kantate, die Strophen 2, 4
und 5 in einer umgedichteten Fassung. Das Kämpferische der beiden alten Lutherlieder hat Bach
musikalisch eindrucksvoll umgesetzt. So klingt die Arie des Tenors, die wir eben gehört haben, wie ein
eindringliches Gebet, das in seiner virtuosen Gestaltung etwas von der Aufregung widerspiegelt, welche
die Bedrohung durch Feinde bei den Gläubigen erzeugt. Und gleich nach meiner Predigt werden wir in der
Bass-Arie hören, wie in abwärts rasenden Tonleiterpassagen des Cellos der Absturz der Feinde geradezu
herbeigefleht wird.
Wenn wir nun am Sonntag Sexagesimae des Jahres 2016 die Kantate von Johannes Sebastian Bach mit der
Vertonung der beiden „Türkenlieder“ Martin Luthers hören, dann ist unsere Situation doch eine völlig
andere und doch ist sie in manchem gleich: Wir sind nicht akut bedroht durch feindliche Mächte, die mit
militärischer Gewalt evangelischen Glauben ersticken wollen – auch wenn uns das die vielen
Demonstranten in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone Montag für Montag weismachen wollen –
und dabei doch viel besser daran täten, sich sonntags auch mal in ihrer Kirche blicken zu lassen und das
christliche Abendland auf diesem Wege zu verteidigen. Auch dürfte sich die Türkengefahr zu Zeiten
Luthers von dem derzeitigen Exodus aus der Levante und aus dem Maghreb in wesentlichen Punkten
unterscheiden. Die Frage, ob Christus oder Mohammed Herr der Welt ist, dürfen und können wir nicht
anders entscheiden, als dass wir in einen Dialog mit dem Islam eintreten, bei dem wir dann allerdings das
Bekenntnis zu Jesus Christus als dem alleinigen Herrn unserer Kirche nicht verschweigen dürfen.
Und der Papst? An dieser Stelle, liebe Gemeinde, sei eindringlich eingefügt, dass wir als Luther das PredigtLied schrieb, das Zeitalter der Renaissance schreiben, und keinerlei Parallelen zum heutigen Papsttum
erlaubt sind. Damals war er für Luther der Feind Christi, das Feindbild par excellence, der Antichrist, der
nach weltlicher Macht strebt, das Evangelium den Menschen mit Hilfe einer Priesterkaste vorenthält und
die Seelen ins Verderben führt. Also die Situation des Jahres 2016 ist unvergleichlich zu jener
Bedrohungssituation, die Martin Luther erlebte und in seinen Liedern reflektierte.
Und dennoch ist nicht zu bestreiten, dass evangelischer bzw. christlicher Glaube gefährdet ist. Besondere
Glaubenskraft zeichnet die meisten unserer Kirchen ganz gewiss nicht aus. Auch gibt die Christenheit kein
eindrucksvolles Bild besonderer Geschlossenheit ab. In der Zeit, die ich mittlerweile hier in Gerstetten
wirken darf, gab es allein im Hauptort Gerstetten gleich zwei Gemeindeneugründungen, die offensichtlich
im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit sind und sich im Rückzug auf den „Heiligen Rest“ durch
Leben und Wirken von der restlichen Christenheit bewusst abschotten und unterscheiden möchten. Im
dritten Jahrtausend nach Christus droht die Hauptgefahr für unsere Kirche von Innen.
Auch ist es nicht leicht, heute die äußeren Feinde des Christentums klar zu identifizieren: Sie kommen oft
daher im Gewand der Gleichgültig- und Beliebigkeit, manchmal auch im Gewand eines zunehmend
aggressiver werdenden Atheismus1. Mancher Feind christlichen Glaubens hüllt sich auch gern in das
moderne Gewand einer puren Weltlichkeit, einem Anhängen an all die materiellen und ideellen Besitztümer, die uns wohlstandsverwöhnte Mitteleuropäer allzu oft verleiten, auf Gott gänzlich verzichten zu
können. In einer solchen Situation hat die Bitte „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ eine besondere
Aktualität. Wir dürfen als Kirche nicht meinen, Rettung angesichts des Bedeutungsschwunds christlichen
Glaubens bestünde in jenem falschen Frieden mit der Welt, der durch hemmungslose Anpassung an
jeweilige Moden des Zeitgeistes gelänge.
Nein: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort!“ Das gilt auch heute. Aus nichts anderem kann christlicher
Glaube seine Kraft schöpfen als aus dem Hören auf das Wort, das wir uns eben nicht selbst sagen und
zusprechen können. Nichts braucht unsere Welt mehr, als dass sie herausgerissen wird aus ihrem ewigen
Selbstgespräch, aus ihrem ständigen Kreisen um sich selbst. Woraus soll denn Lebenszuversicht
erwachsen, wenn nicht aus dem befreienden Wort Gottes: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem
Namen gerufen, du bist mein“? (Jes 43,1)
Denn, so der Schweizer Theologe Karl Barth, „der Mensch als Mensch schreit nach Gott, nicht nach einer
Wahrheit, sondern nach der Wahrheit, nicht nach etwas Gutem, sondern nach dem Guten, nicht nach Antworten,
sondern nach der Antwort [...] Nicht nach Lösungen schreit er, sondern nach Erlösung.“2 Das menschliche Leben ist
ein einziger Schrei nach Gott, ist getragen und getrieben von der Sehnsucht nach dieser Einheit mit dem,
der uns alle einmal ins Leben rief, und dessen Wort allein uns den Weg weist hin zu einem Leben in
ewigem Frieden und ewiger Glückseligkeit.
Woher soll denn Orientierung erwachsen, wenn nicht aus dem Wort Gottes, das er in Jesus Christus zu uns
spricht: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“? (Mt 5,9) Woher soll denn
begründete Hoffnung erwachsen, wenn nicht aus dem Wort Gottes: „Siehe, ich mache alles neu“? (Apk 21,5)
Neu daran zu erinnern, in welcher Weise das Wort Gottes unserem Leben Halt, Orientierung und Zukunft
gibt, dazu war die Reformation der Kirche notwendig. Uns erneut daran zu erinnern, hören wir Bachs
wunderbare Musik nach Worten Martin Luthers: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort.“ Amen.
Kantate: „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (BWV 126)
IV. „Stürze zu Boden schwülstige Stolze!“ (Bass-Arie)
V. „So wird dein Wort und Wahrheit offenbar“ (Tenor-Rezitativ)
VI. „Verleih uns Frieden gnädiglich“ (Choral)
1
Welcher seinerseits eines im anglo-amerikanischen Raum zunehmenden Fundamentalismus im freikirchlichen Milieu geschuldet ist und
lediglich als eine Reaktion auf denselben verstanden werden kann.
2
BARTH, Karl, „Wir sollen als Theologen von Gott reden“, in: DERS., Das Wort Gottes und die Theologie (1924), Theologischer Verlag Zürich, 158f.