Erika Riemann: Die Schleife in Stalins Bart Rezension von Marco Maria Emunds Wir alle kennen die pathetischen Wortgebilde, mit denen die großen Errungenschaften von Rechtstaatlichkeit und Demokratie an hohen Staatsfeiertagen gerühmt werden. Voller Zustimmung und zufriedenem Wohlwollen nickt und klatscht man in solchen Momenten gerne Beifall. Doch bald schon übernimmt erneut der graue Alltag die Regie und Werte wie Meinungsfreiheit oder Menschenwürde ziehen sich zurück in Nachrichtenmeldung aus Gebieten wie Syrien, Nordkorea oder anderen Krisengebieten. Wie kostbar und frei unser Leben in Deutschland heute ist, merkt man meist erst im Abgleich mit NegativSchablonen von anderen Orten und Zeiten. Dabei hat dieses Land genügend Unrechtsstaaten und Diktaturen erleben und erdulden müssen. Die Jahre 1945 und 1989 bilden wichtige Wegmarken auf dieser Zeitachse des politischen aber auch zwischenmenschlichen Albtraums. Die Schleife in Stalins Bart Erika Riemann Piper Verlag Dass das Gift, das ein solcher Staat in seine Bewohner einspritzt, weitaus langlebiger sein kann, als das Regime und seine Taten selbst, wird dabei oftmals zur heimlich verschlossenen Qual der Betroffenen. Ein eindrucksvolles und berührendes Beispiel für ein solches Schicksal schildert Erika Riemann in ihrem 254 Seiten starken autobiographischen Buch „Die Schleife an Stalins Bart – Ein Mädchenstreich, acht Jahre Haft und die Zeit danach“. Beruhend auf persönlichen Erlebnissen im eisernen Zeitalter des Stalinismus, beschreibt sie sehr einfühlsam, wie ein einfacher Streich der damals Vierzehnjährigen ihr gesamtes Leben abrupt veränderte. Nach den angstvollen Jahren des Zweiten Weltkrieges schien endlich ein Stück Ruhe und Frieden in das thüringische Städtchen Mühlhausen, mitten in der von den Sowjets besetzen Zone, einzukehren. Doch diese Idylle war allzu trügerisch und schnell musste die vierzehnjährige Erika erfahren, wie leicht ein Leben im heißen Spätsommer des Jahres 1945 aus den Fugen geraten konnte. Gemeinsam mit Klassenkameraden hatte sie ein Porträt Stalins mit rotem Lippenstift verziert und war für diese Tat zu acht Jahren Haft verurteilt wurden. Ihre Erlebnisse in den Zuchthäusern von Bautzen, Sachsenhausen und Hoheneck der späten 40ger und 50ger Jahre sind für uns heute kaum noch vorstellbar. So schildert die Autorin in eindrücklichen Bildern, welche Folgen es hat, dass in einem Gefängnis, das für maximal sechshundert Insassen ausgelegt ist, mehr als tausend Frauen untergebracht werden. Seite um Seite erfährt der Leser mehr, wie sehr Hunger, Schmutz und Angst einen Menschen in Besitz nehmen und beherrschen können. Wie sehr sich am Schicksal von Häftlingen die Menschlichkeit oder eben Unmenschlichkeit eines Staates verdeutlicht. Zugleich erlebt man, wie stark ein einzelner betroffener Mensch in Zeiten größter Bedrängnis und Not um seine eigene Menschlichkeit und sein Leben ringt und wie tief sich diese Erfahrungen in die Erinnerungen und Seelen der Betroffenen einfressen. Wie banal erscheint dabei die Tatsache, dass es oftmals bloßer Zufall zu sein scheint, der über Weiterleben oder Sterben entscheidet. Nach Wochen ohne richtige Waschgelegenheit setzt bei der jungen Erika die erste Monatsregel ein und ihre Bitte, sich endlich richtig säubern zu dürfen, führt dazu, sich vor einer ganzen Gruppe von gierig dreinschauenden Soldaten nackt duschen zu müssen. Demütigungen dieser und anderer Art, Schläge, Tritte, Beschimpfungen, das Eingesperrtsein in kleine Zellen ohne Licht, frische Luft und ausreichend Nahrung, werden für die Häftling zum Alltag. Sie vermischen sich zu einem Klumpen von Tagen, Wochen und Monaten. Manchmal ist es nur die Hautfarbe und Bräunung der Bewacher, die darüber Auskunft gibt, welche Jahreszeit gerade in der Welt vorüberzieht, die vollkommen unberührt vom Inneren der Zellen zu existieren scheint. Und dann steht plötzlich der Satz vor den Augen des Lesers: „Gut und Böse sind nur leere Worte. Das Einzige, was zählt, ist, diesen Tag zu überleben. Und letztendlich ist vielleicht sogar das egal.“ Ein solcher Satz, einmal gelesen, wirkt nach. Doch Erika Riemann übersteht die acht Jahre in der Gefängnishölle und erlangt ihre Freiheit wieder – zumindest kann sie das Gefängnis im Jahre 1954 verlassen und siedelt zu ihrer Familie in die Bundesrepublik über. Dass sie jedoch auch nach der Haftentlassung weiter eine Gefangene bleibt, schildert die Autorin im zweiten Teil ihres Buches. Hier berichtet sie von ihren Lebensversuchen nach der Schreckenszeit im Zuchthaus. Der Leser erfährt, wie sie in der neu gewonnen Freiheit im Hamburg der Wirtschaftswunderjahre umher taumelt, wie sie kleinere und größere Krisen erlebt, an einen viel zu leichtlebigen und untreuen Mann gerät und um jeden Schritt auf den Weg zurück in die ersehnte Lebensnormalität ringt. Viel zu schnell muss sie, die nun Zweiundzwanzigjährige, Verantwortung für sich, ihre Geschwister, die eigene Mutter und schließlich ihren kleinen Sohn übernehmen. Ein Leben, ein Schicksal, wie es von unzähligen jungen Frauen nach dem Krieg erlebt und gelebt wurde. Selbst noch durchzogen von den Traumaerfahrungen des Krieges oder der Gefangenschaft, galt es, das neue Leben, das plötzlich und unaufhörlich in das alte brach, so gut wie möglich zu bewältigen. Erst als sie Eberhard kennenlernt, findet sie ein Stück der Ruhe und Geborgenheit, die ihr hilft, wieder mit ruhiger Hand ihr eigenes Schicksal zu fassen und schließlich ihre Erlebnisse und Erinnerungen niederzuschreiben. Die bleierne Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber Regimen und Mächtigen, die ihre Ideologie über die Grundlagen von Gesellschaften stellen, erlebt man als Leser in Erika Riemanns Schilderungen mit und spürt an sich selbst, wie anfängliche Wut über ein solches Verhalten zur Erkenntnis reift, dass wir immer wieder solchen Bedrohungen ausgesetzt sind und es einen jeden aktiv fordert, dem entgegenzuwirken. Daher ist ihr Buch mehr als der Schreckensbericht über die grausamen und langjährigen Folgen eines dummen Kinderstreiches. Es ist zugleich auch ein Plädoyer für eine Gesellschaft, die ihr Recht auf Freiheit der Meinung, Gleichheit vor dem Gesetz und Anspruch auf Respekt der Würde eines jeden Menschen bewusst annehmen, an kommende Generationen weiterreichen und wo nötig auch aktiv verteidigen muss. Heute ist es nicht mehr der Bart Stalins, der einem Menschen seine Kindheit und seine Freiheit stielt, aber die Porträts von Unrecht und Willkür sind nicht fort, sie tragen in unseren Tagen womöglich nur andere Züge. Nach der Lektüre des Buches von Erika Riemann ist man als Leser erleichtert, selbst in anderen Zeiten zu leben und zugleich erscheint es als ein praktisches Geschichts- und Erinnerungsbuch, dass einem über feierliche Sonntagsreden hinaus bewusst macht, dass wir gerade durch die Erinnerung den Wert der Demokratie erfahren können.
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