Winfried Lintzen So modern wie verkannt? Goethes Faust-Epilog Die Sache ist eigentlich ganz einfach – etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopfen würde, bis er kotzt. Doch bevor es soweit ist, platzt Mama dazwischen, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den Kleinen da weg. Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert: soziale Intelligenz: Wie gehen wir mit Fehlern um, mit moralischem Versagen, mit menschlichen Unvollkommenheiten – exemplarisch dargestellt am Fall eines Mannes, der seine Beschränktheit nicht akzeptieren wollte, der ganz toll sein wollte und mit seinen größenwahnsinnigen egozentrischen Bestrebungen und den daraus resultierenden Verkennungen und Verblendungen katastrophales Unheil anrichtete. – Man darf sich nicht irremachen lassen: Der Epilog ist völlig unreligös gemeint! Goethe nutzte den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre Form finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog nichts darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie sondern Ideologie. - Poesie bedeutet immer: ein Entrücktwerden aus dem Alltag in eine andere Stimmung, durch sprachliche Bilder, Gleichnisse, Fantasien, durch sprachlichen „Zauber“ aus Vers, Rhythmus und Wortwahl. – Für Goethe hatten die Figuren der Religionen und ihre Geschichten offenbar ganz glaubensfrei etwas Poetisches und Fantasievolles. Und er war bewegt von der Haltung, die ihn aus den Elementen des christlichen Volksglaubens ansprach: erbarmen statt verdammen, wertschätzen statt verurteilen, integrieren statt ausstoßen. Die Elemente des Volksglaubens – Engel, Heilige, gute Geister und Muttergottes – bringt Goethe in all ihrer Beschränktheit, ihrer rührenden, unfreiwilligen Komik, auf die Bühne: auch das Erlösende ist in seiner historischen Gestalt bedingt und unzulänglich, nicht weniger als die zu Erlösenden. Indem er Elemente des Volksglaubens nutzt, knüpft Goethe gleichzeitig an das an, was für Margarete Realität ist. Das ist eine ebenso große Wertschätzung für Margarete wie für das „Volk“ – ähnlich wie Goethe in den „Wanderjahren“ aussterbende jahrhundertealte Handwerkstechniken minutiös beschrieb, in der sich die Findigkeit der vorindustriellen Kultur 1 widerspiegelte: als etwas, was von uns erzählt. – Rilke drückt diese Haltung so aus: „Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht grosstun mit herrlich Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil“ (9. Duineser Elegie). – Der Epilog preist das Menschliche, das findig und geschickt Töpfe, Seile und Madonnenfiguren hervorbringt... – Es geht darum, aus den Mythen und Märchen das herauszuhören, was darin vom Menschlichen kündet – die „unreligiösen“ und „zauberfreien“ vorbewußten Motive und Intentionen, die mit den zauberhaften mythischen Inhalten und Figuren verbunden sind – sowie das rührend Findige und Beschränkte das an seinen Formen zum Vorschein kommt [1]. - Wenn im Folgenden von „Gott“ die Rede ist, steht das für das Überindividuelle: entweder für „Natur“ oder für „Sinn“. Das Leben „auf Gott ausrichten“ bedeutet entweder: Kontemplation auf das, was mich hervorgebracht hat, das als Kraft in mir wirkt; oder: konsequent nach dem Sinn leben, den mein Leben für Andere und für die, die mich überleben, haben kann [2]. Zum Text Immer wenn Frauengeschichten gescheitert sind oder durch schuldhafte Verstrickung zu scheitern drohen, flieht Faust ins Gebirge, um zu meditieren. Gebirge fungiert leitmotivisch als Sinnbild für Entrücktheit aus den Niederungen der alltäglichen Getriebenheiten in eine Sphäre der „Öde“: der besinnungsfördernden Abwesenheit von ablenkenden Außenreizen. – Das Gebirge des Epilogs, an dem Fausts Seele „nach oben“ geführt wird, ist mit heiligen Einsiedlern bevölkert. Ihre Nähe zu Gott hat offenbar die ganze Region so mit Liebe infiziert, daß die Löwen zahm wie Miezekatzen herumschnurren. Die Aggressivität ist verwandelt, die Tage des Zorns sind vorbei. Die Eremiten: Was ist an Eremiten poetisch? Eremiten sind Aussteiger. Sie haben die Konflikte des weltlichen Lebens satt. Sie machen das Rennen nach dem Glück nicht mehr mit. Sie wollen sich nicht von sinnlichen und seelischen Lüsten in ihrem Sinnen und Trachten beeinträchtigen lassen. Die Eremiten sind ein Sinnbild für größtmögliche Emanzipation von der eigenen Natur und für Kultivierung von Reflexion. „Kultiviert“ ist Reflexion, wenn sie oft und stetig genug gepflegt wird, um gestalterischen Einfluß auf das Leben zu erlangen. In einer duftenden Sommernacht im Gras zu liegen und angesichts des Sternenhimmels einen 2 Schauder zu spüren, ist auch Reflexion, die in der Regel aber zu nichts führt. – Ein drastisches Beispiel dafür gibt es in einer Südsee-Erzählung Jack Londons: Eine Frau denkt darüber nach, wie sie eine schicke Standuhr finanzieren kann, da kommt ein Tsunami, sie wird auf eine weit entfernte Sandbank gespült, überlebt dabei nur mit Glück, baut sich aus den angespülten Trümmern ein wackeliges Floß und schafft es entgegen aller Wahrscheinlichkeit, kurz vor dem Verdursten, auf ihre Insel zurück. Und als sie sich erholt hat, denkt sie – als wär nichts gewesen – wieder nur über die Standuhr nach. – Kultivierte Reflexion dagegen zählt eins und eins zusammen: Sie lässt keine Ignoranz aufkommen gegen die einmal erlebte Relativierung der fraglosen Sicherheiten und Wertigkeiten des eingelebten Lebenswandels, sondern erforscht dieses Erlebnis immer weiter und zieht daraus Konsequenzen. – Unsere „natürlichen“ geistig-seelischen Lebensvollzüge sind bezogen auf unsere Lebensfunktionen: Triebzielerreichung, Selbstwerterleben, Statusspekulationen: „Was kann ich? Wo steh ich? Wo will ich hin? Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich mich einbringen und was gibt mir das für eine Bedeutung, für einen Status? Welche Ziele sind realistisch? Was darf ich wagen? Was will ich wagen? “ Eine traditionelle Meditationsübung besteht darin, das Kommen und Gehen solcher Gedanken und Gefühle zu beobachten und immer besser zu erleben, wie „gegeben“ sie sind, so „ungemacht“ wie Atem und Herzschlag; zu erleben, wie wenig „Ich“ da eigentlich drin ist – und wie wenig ich eigentlich „mache“, was ich hier gerade mache... Eremiten machen einen Hochleistungssport aus solcher Meditation. Doch der „Pater ecstaticus“ wirkt seltsam: Inmitten zahmer Löwen ersehnt er nichts leidenschaftlicher, als zerrissen zu werden. – Möglicherweise schaut sich Faust befremdet nach ihm um, als er mit den Engeln nach oben zieht, und die Engel sagen: „Ach der! Das ist unser Ecci. Der hebt manchmal etwas ab, aber sonst ist er ganz o.k.“. – Für Fromme sind solche Selbstquäler Sinnbild für die Stärke der Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Gott und für die Heftigkeit und Hartnäckigkeit mit der unsere natürlichen und gewachsenen Bestrebungen von Leib und Seele sich immer wieder gegen Wissen und Willen durchsetzen, uns egoistisch auf uns selbst beziehen und von Gott abhalten. Die Figur des Paters veranschaulicht die Wut, die das aufstauen kann, die Wut auf alles, was uns immer wieder ablenkt von dem, was wir für wichtig und richtig erkannt haben. Das ist genauso, als wenn ich „Tatort“ gucken will und ständig kommt jemand rein und fragt mich was. Oder wenn ich für eine Klausur lernen will und mich ständig vom Händi ablenken lasse. Da hilft dann irgendwann nur noch Schloß und Hammer. Auch das Bibelwort: „Wenn dich dein Auge stört, reiß es aus und wirf es weit von dir“ ist so zu verstehen. Die Fachleute nennen das: Stimuluskontrolle. – Die zweiten vier Verse des Paters können geradezu als Versprachlichung 3 des Gefühls gelten, das viele rückfällige Abhängige nur allzu gut kennen. Der Volksmund sagt´s nur schlichter: „Ich könnt mich in den Arsch beißen!“ – Dennoch: die Heftigkeit und Totalität der Autoaggression des Paters befremden, sie wirken unreif und hoch neurotisch. Das entspricht nicht dem Prinzip der Natur: „selbst im Großen ist es nicht Gewalt“. Ein reiferer Mann würde sagen: „Blöd, daß ich noch derart dem Nichtigen verhaftet bin. Aber ich habe Pflichten, ich kann mich nicht zerschmettern lassen, bloß um das Nichtige an mir ganz schnell zu verflüchtigen!“ – Das Nichtige zu verflüchtigen, es dem verflixten Leben zu zeigen, das hat für den Pater Vorrang vor allem Bezug zu anderen Menschen. Es geht ihm zwar um die „Ewige Liebe“, aber er will ein ganz toller Virtuose der Selbstlosigkeit sein, so etwas ist nur durch kompromissloses Training hin zu kriegen. Deshalb hat er bis auf weiteres erstmal gar keine Zeit für die Liebe, für die selbstlose Tätigkeit, um die es der Liebe, die er glänzen lassen will, eigentlich geht [3]. – Man könnte glatt auf die Idee kommen, daß der Pater seine Worte der Mater Gloriosa in wachsender sexueller Erregung ins Gesicht schreit, während sie – als Domina – gerade dabei ist, ihn auszupeitschen. (Ich hoffe, damit habe ich die Aufführungspraxis gegen diese Inszenierungsidee geimpft. – Hier, auf dem Papier, bei der Sondierung von Bedeutungsgehalten, ist so ein Bild versuchsweise brauchbar. Auf der Bühne wäre es unbrauchbar, weil es fragwürdige Nebenaspekte als Hauptaspekt herausstellt, um des „Effektes“ willen.) Aber selbst, wenn es so wäre, daß der Pater in Wirklichkeit bloß mit seiner Sexualität nicht klar kommt und seine Selbstkasteiung nichts anderes wäre als eine perverse sexuelle Ersatzhandlung, selbst wenn es so wäre: dann käme es nicht auf diese Motivationslage an, sondern darauf, was daraus entsteht. Da, wo Löwen zahm sind, dürfen alle unzulänglich bleiben, ihre Unzulänglichkeit wird als „ready made“ Ereignis: etwas Einzelnes, an dem sich etwas Allgemeines abzeichnet, etwas, das uns über uns selbst belehrt, über die Kräfte, die in uns wirken, und die Bedingungen, unter denen sie sich verheddern… – Abgesehen davon griffe eine rein sexuelle Lesart zu kurz, weil nicht nur Triebhaftigkeit sondern auch Narzismus gemeint ist: der Pater will seine Triebe ebenso wie seine stolzen Selbstdefinitionen zerschmettern. – Er ist vielleicht aus Verzweiflung so extrem, weil er das in der Extremität liegende Paradox entdeckt hat: daß er ganz stolz darauf ist, fähig zu sein, seinen Stolz so kompromißlos zu zerstören… In seiner Gewaltsamkeit und Selbstbezogenheit gleicht der Pater dem Faust vom Beginn des Dramas. Seine Worte haben eine entfernte Sinnverwandtschaft mit Fausts „Flucharie“. Und falls Faust im Vorüberschweben befremdet auf den Pater blickt, erblickt er eigentlich nur einen Teil seiner selbst… – Autoaggression als Abwehr von Schuldgefühlen: darin ist der Pater aber auch Margarete verwandt, die eine Chance zur Flucht hatte, aber ihre Hinrichtung 4 freiwillig auf sich nahm! (Einem Teenager kann man allerdings zugestehen, durch so schwere Schuld überfordert zu sein und „unreife“ Formen der Schuldbewältigung vorzuziehen – zumal sie niemanden hatte, der ihr beistand: Margarete war eine Geächtete! Nachdem Faust ihre Mutter und ihren Bruder umgebracht hatte, hatte sie niemanden mehr, der sie gegen ihre Selbstvorwürfe in Schutz nahm und sie bei der Bewältigung ihrer vernichtenden Schuldgefühle unterstützte, z.B, dadurch, die Psychodynamik richtig einzuschätzen, in die sie hineingeraten mußte, nachdem Faust sie schwanger sitzen gelassen hatte, in einer Welt, in der Normverletzungen zu einer Soziodynamik führen, die nette harmlose Mitbürger in einen unbarmherzigen Piranjaschwarm verwandelt.) Der Pater Profundus ist auch noch selbstbezüglich: die Kräfte der Natur sollen die Wunden heilen, die das Leben seiner Seele geschlagen hat. Aber im Unterschied zu seinem Kollegen bezieht er die Naturgewalten nicht allein auf sich: der Blitz soll nicht nur ihn „entzünden“, sondern auch „die Athmosphäre verbessern“. – Sein „Inneres“ ist in einem Zustand, den Faust sehr gut kennen müßte: „verworren, kalt, verquält in stumpfer Sinne Schranken, scharf angeschlossenem Kettenschmerz“. Das gleicht dem „garstigen Wirrwarr netzumstrickter Qualen“, dem Faust nach Heimsuchung der Sorge nicht anheimfallen will. Aber während Faust nicht interessiert, woher das „innere“ Licht kommt, möchte der Pater von etwas äußerem „entzündet“ werden und er wendet sich an Gott. Er sucht Interaktion wo Faust sich in einsames, von sich selbst eingenommenes Schaffen flüchtete. Der Pater Seraphikus ist nicht mehr mit sich selbst beschäftigt, er kümmert sich um andere: um die seligen Knaben, blinde und unwissende Geister direkt nach der Geburt verstorbener Kinder. Der Pater ist empathisch und solidarisch: die desorientierten Knaben werden ihm sofort zu einem Anliegen. Aber er kann sie auch problemlos wieder loslassen, als sie signalisieren, daß er nicht die richtige „Kur“ für sie hat. Dadurch erweist er sich als reif, im Gegensatz zu Faust, der seinen in die Freiheit drängenden Sohn fest zu halten versuchte: „Nur mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene! Daß Sturz und Unfall dir nicht begegne, zugrund uns richte der teure Sohn!“ (Und Helena, sicher im Sinne Fausts: „O denk o denke, wem du gehörest, wie es uns kränke, wie du zerstörest das schön errungene Mein, Dein und Sein!“) – Der Pater dagegen ist fürsorglich, ohne damit einen selbstbezüglichen Zweck zu verbinden, er braucht es weder, ein ganz toller Pflegevater zu sein oder ganz tolle Pflegekinder zu haben, noch braucht er es, gebraucht zu werden. (In der Psychotherapie nennt man das: „therapeutische Abstinenz“. Sie ist nicht selbstverständlich sondern muß in der Regel in der Selbsterfahrung während der Ausbildung und berufsbegleitend durch Supervision 5 vervollkommnet und erhalten werden. - Der Pater Seraphikus hat diese Einstellung offenbar durch seinen „Reflexionssport“ erreicht.) Wir zeigen unseren Kindern unsere Welt. Und wenn sie unsere Welt furchtbar finden, müssen wir bereit sein, daß sie uns einen Strich durch die Rechnung machen; und das ist gut so, denn die Zukunft ist ihre Zukunft, nicht mehr die unsere. Die Engel: Engel sind gute Geister: Personifizierungen von Natur- Kultur- und Seelenkräften, die uns und unser Bewußtsein übersteigen, Kräfte, die von unseren Vorfahren (den „Erfindern“ der Engel) als Potentiale erfahren wurden, ins „implizite Gedächtnis“ eingingen und dort intuitive Erwartungen ausbildeten, die oft genug bestätigt wurden, um den Glauben zu ermöglichen, daß Wesen dahinterstecken, zu denen eine personale Beziehung möglich ist: Wesen, die man bitten kann, die einem wohlgesonnen sind, auf die man sich verlassen kann usw. – Ein solches Wirken von „Engeln“ erleben z.B. Musiker und Lastwagenfahrer: Viele Musiker berichten von Erlebnissen, plötzlich ein Stück so „beflügelt“ gespielt zu haben, wie sie es selbst nie für möglich gehalten hätten. - Und Lastwagenfahrer staunen manchmal darüber, wie sie aus einer schwierigen Rangiersituation, in die sie unversehens gerieten, schon wieder heraus sind, ohne einmal eine Lenkbewegung korrigiert zu haben und bevor ihnen wirklich bewußt werden konnte, daß sie, wenn genug Zeit gewesen wäre, geglaubt hätten, ihre ganze Konzentration dafür aufbringen zu müssen. Die vollendeteren Engel: Zunächst muß die Zuständigkeitsfrage geklärt werden, und nach dem sie Faust an ausgestreckten Armen mit zwei Fingern hochgehoben und mit gerümpfter Nase begutachtend hin und her gewendet haben, wird beschieden: „Nee, sowas machen wir hier nicht, das muß in die Reinigung“. Es gibt offenbar ein Problem mit den Erdenresten: Fausts Geist hat sich im Leben verunreinigt durch das „Heranraffen der Elemente“: Durch die Erfolge getriebenen Wirkens („raffen“) entstand Faust eine Illusion von der eigenen Vorzüglichkeit. Solche Illusionen sind um so stärker, je stärker der Geist ist, je mehr Erfolg er schaffen und sich darin gefallen kann, und je weniger er realisiert, welche Defizite an bewußter Gestaltung seine Lebensführung aufweist, wie sehr er Trieb und Stolz auf den Leim geht [4]. – Faust ist ein überdurchschnittlicher Mensch. Das weiß er. Und er findet das ganz toll und hält sich für total wichtig. Das ist eine Schwäche, die, wie Goethe uns vor Augen führt, fatale Folgen haben kann, die aber sehr menschlich und nachvollziehbar ist. Doch Engel, vor allem vollendetere, müssen das natürlich höchst unfein finden, sie ekeln sich wie 6 Polizisten vor einem verwahrlosten Obdachlosen und fassen ihn wahrscheinlich nur mit Handschuhen an. – Was die „ewige Liebe“ von Faust „scheiden“ soll, ist die illusionäre Bewertung seiner Überdurchschnittlichkeit. Je größer der Stolz, die Selbstliebe, je schwerer ist der Abschied davon: die desillusionierende Erkenntnis, wie wenig es auf das Ego und was es geschaffen hat, ankommt. – Die angerafften Elemente sind das, was „triebhaft“, d.h. ohne bewußte Gestaltung, realisiert wurde: das Wirkliche der Persönlichkeit, gezeichnet mit all den Beschränktheiten und Irrtümern dessen, der es verwirklichte. – Die Unvollkommenheit Fausts bestand in seinem Bestreben, der Welt seinen Stempel aufzuprägen, ohne zu fragen, ob die das will. Er hatte eine Einstellung, die vor seinem Selbstbild sicher keinen Bestand gehabt hätte, wäre sie ihm bewußt gewesen: „Ich muß meinen Potentialen Sinn geben, egal wie ich dadurch die Chancen der anderen, ihren Potentialen Sinn zu geben, beeinträchtige oder zerstöre. Hauptsache, ich habe es geschafft, meinen Potentialen Sinn zu geben!“ – Faust will für die zukünftige Menschheit etwas ganz Tolles schaffen, statt mit ihr. Dieser Zug seines Egos hat ihn vom Wissenschaftler zum Ingenieur werden, das „Wissen“ durch das „Brauchen“ ausspielen lassen („was man nicht weiß, das eben bräuchte man“). Das „mit“ würde sein Ego kränken: In der generationenübergreifenden wissenschaftlichen Gemeinschaft ist man ja nur einer unter anderen! Und die eigene Leistung landet schließlich in der Abfolge der „Paradigmen“ auf dem Schrotthaufen der Wissenschaftsgeschichte. Nein, Faust reicht es nicht, daß sein Sohn „zu höherem Ziel“ gelangen kann, er will selbst ein unüberhöhbares Ziel schaffen. Deshalb braucht er auch keinen Sohn – und wenn, dann bestimmt nicht dafür, daß der sein eigenes Leben hat! (In dieser Hinsicht ist der Fachidiot Wagner in seiner Jugend natürlich-schlichter, „weiser“ als Faust – er verliert diese Weisheit jedoch offenbar, wenn er schließlich glaubt, Ingenieurs- und Wissensleistungen koppeln zu müssen, indem er Gehirne selber macht.) Fausts Geisteskraft ist stark, aber nicht reinlich. Derartige Möglichkeiten des „Irrens“ sind konstitutiv für intelligente Lebensformen. Es ist ein Zug ihrer Natur und deshalb genauso wenig bewertbar (und „verdammenswert“) wie alles Natürliche. – Wenn selbst die vollendeteren Engel Faust nicht helfen können und ihn nicht an noch vollendetere Geister weiterreichen, sondern im Gegenteil: an die denkbar unvollendetsten (aber auch unverbildetsten), dann heißt das soviel wie: Ego-Illusionen sind nicht behandelbar. – Wir können uns durch Solidarität, durch „Verzeihen“ und „Gnade“, gegenseitig den Teufeln entreißen, die „Verdammung“, den Ausstoß aus der Gemeinschaft, unterbinden, und die „Gefallenen“ zurück „ins Boot“ holen, aber die „Läuterung“ müssen sie selbst vollziehen – und zwar durch Ansätze einer neuen Einstellung zu den anderen Menschen, einer Einstellung, 7 die ihnen gestattet, kooperativer, sozial intelligenter und verständigungsorientierter zu handeln und neue soziale Erfahrungen zu machen, Erfahrungen, durch die die Elemente „falschen“ Stolzes nach und nach entbehrlicher werden. Erst ihre Entbehrlichkeit ermöglicht, daß sie sichtbar und bearbeitbar werden, weil sie erst jetzt, wo sie entbehrlich sind, in ihrer Falschheit eingestanden werden können. – Die natürliche egozentrische Illusionsneigung können wir nur durch generationenübergreifende Prozesse der Zivilisation abschwächen, durch neue historische Lernniveaus. Individuell minimieren können wir die Folgen unserer noch undurchschauten Ego-Illusionen jedoch, in dem wir die Ausrichtung auf die Zukunft ändern: Indem wir nicht Zukunft planen und festlegen wollen sondern indem wir unsere Erfahrungen weitergeben, und nicht allein durch Reden sondern durch die Qualität der Beziehung zur nachwachsenden Generation unser historisch erreichtes ethisches Niveau überliefern. Es geht um mehr und um gelingendere Verständigung mit unseren Kindern. Dadurch wird der paradoxe Effekt unwahrscheinlicher, daß wir durch unser Engagement genau demjenigen Schaden zufügen, für das wir uns engagieren. Wir neigen dazu, zu selbstbezogen zu sein in unserem Willen, nicht selbstbezogen zu sein. Aus all diesen Gründen soll Faust ein selbstloser Lehrer der seligen Knaben werden. So selbstlos wie der Pater Seraphikus. – So putzmunter wie die Knaben sind, ist das vielleicht schlimmer als Fegefeuer, und Faust wird irgendwann wie mancher Lehrer oder Sozialarbeiter stöhnen: „Ich bin von allem geheilt!“ Die Mär von den „seligen Knaben“ auf die Bühne zu bringen, gehört wohl zu den verrücktesten Einfällen Goethes. Es ist ein vieldeutiges Bild: (1) Die seligen Knaben leiden unter einer „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Darin erinnern sie an Homunkulus und Euphorion. Und wie die beiden, sind auch die Knaben ganz schön krekel und ansprüchlich: Sie wollen nichts Geringeres als Gott schauen. Der frühe Tod hat sie von allem abgeschnitten, mit dem sie eine Chance gehabt hätten, sich selbst einen Weg zu Gott zu bahnen, jetzt lümmeln sie sich hier herum, um per Anhalter dahin zu gelangen. (2) Sie packen den verpuppten Faust aus, wahrscheinlich sind sie neugierig, was drin ist. Jedenfalls staunen sie, wie er plötzlich wächst – und das ist ihr Werk: sie reißen seine Verpuppung herunter, seine Luxusklamotten und seine Altersmaske, und heraus kommt: ein Jüngling. – So „enthüllt“ fällt von Faust ab, was ihn ans irdische Leben, an Trieb und Stolz bindet. Mit dieser Distanz, diesem “ungetrübten“ Blick kann Faust seine Fehler und sein Scheitern analysieren („Konfrontation“ nennen es Psychotherapeuten), und daraus eine „echte“ Lehre ziehen, nicht eine „leere“, mit denen er die seligen Knaben höchstens „an der Nase herumziehen“ könnte. – Auch in diesem Sinne (als „Fehler aus denen man klug wird“) 8 wird das Unzulängliche „Ereignis“. (3) Stellt man sich die Szene inszeniert vor, sieht man, wie Kinder einen alten Mann jung pflegen. Als ob der alte Goethe seine „pädagogische Provinz“ dialektisiert und sich gefragt hätte: Wie fördert die Beziehung zu Kindern unsere persönliche Entwicklung? (In jedem Fall nur dann, wenn wir die Beziehungen zu Kindern nicht für unsere persönliche Entwicklung zu instrumentalisieren versuchen! Nur Leute wie der ungeläuterte Faust oder der Pater Ecstaticus würden meinen, unbedingt mehr Kontakt zu Kindern haben zu müssen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und ganz toll zu werden...) – Säuglinge haben ein angeborenes „Programm“, Beziehung zu stiften und zu gestalten. Sie sind nicht so hilflos, wie immer angenommen, sondern ziemlich „kompetent“ (Dornes 1993). Kinder sind sozusagen biologische Beziehungs- und Lerngeneratoren. Wir verändern uns durch das, was die Kinder in uns mobilisieren an sozialer Erkenntnis und Bereitschaft, und an Hinterfragen des Gegebenen angesichts der heranwachsenden Zukunft mit ihrem unverstellten neuen Blick. Kinder sind Desillusionierer („Des Kaisers neue Kleider“). Wie erschien uns denn die Erwachsenenwelt als wir Kinder waren? Wir bewunderten die Erwachsenen für ihre Stärke und Tapferkeit aber wunderten uns auch über ihre Beschränktheit. Sie hielten sich für Realisten. Doch meist erkannten sie das Mögliche nicht und übersahen das Wunderbare. Und wie schienen sie selbst beim Staunen über das Wunderbare vom Wunderbaren seltsam abgelenkt! Sie schienen mehr über ihr Staunen zu staunen! – Mit jedem Kind wächst eine neue und einzigartige Sicht auf die Welt heran... – („Überall reget sich Bildung und Streben“: Goethe stellt die „seligen Knaben“ so krekel und aktiv dar, dass man glauben könnte Goethes Sinn für Leben und Wachstum hätte ihm eine Intuition von Säuglingen gestattet, die Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung vorwegnimmt.) (4) Die „Ewige Liebe“ ist eine tolle Kraft: Sie „entfaltet“ Sensibelchen wie die Seligen Knaben, die nichts abkönnen, aber an Kalibern wie Faust schafft sie es, die ärgsten Verunreinigungen zu beseitigen, die selbst die Engel nicht weg kriegen. Und das Beste ist: Sie entsteht emergent durch Unzulänglichkeit: Die Knaben sind unzulänglich, weil völlig ahnungslos. Faust ist unzulänglich, weil völlig verblendet. Diese beiden Parteien werden jetzt inspiriert, eine Selbsthilfegruppe der Unzulänglichen zu gründen. Und darin entsteht als Synergie Ewige Liebe. Eingearbeitet wird Faust allerdings erst noch von Margarete. – Das ist schon irre: Faust, der große Wissenschaftler, der Topmanager, der mächtige Magier, der innovative Staatsgründer, der hoch Lebenserfahrene: er wird gehegt von den Seligen Knaben und belehrt von Margarete, einer jungen Frau, die die große Welt bestenfalls vom Fernsehen kennt (sie hat vom Himmel aus zugeschaut). – Dabei wird Fausts Potential durchaus 9 hochgeschätzt („er wird uns lehren“). Aber für das, um das es bei Fausts Weiterentwicklung geht, ist dieses Potential offenbar irrelevant. Bezüglich dessen, was für Fausts Weiterentwicklung jetzt notwendig ist, haben Kinder und junge Leute mehr drauf als tüchtige Lebenserfahrene – ja, selbst noch mehr als Engel! (5) Die Knaben finden es toll, einfach bloß da zu sein. Sie haben ein Ziel, aber gehen es ganz gelassen („cool“) an, ohne Ungeduld, sie müssen weder sich noch anderen etwas beweisen und sie sind zuversichtlich, ihr Ziel erreichen zu können und müssen nicht fieberhaft getrieben tätig sein und ihre Tätigkeit ständig im Hinblick darauf auswerten, ob sie das erreichen, von dem sie glauben, daß sie nur dann ganz toll sind, wenn sie es erreicht haben. – Sie verbinden Genuß des Augenblicks mit Streben zur Höherentwicklung. – Sie sind das Gegenkonzept zu Fausts Dichotomie von Streben und Genuß und das reine Gegenkonzept zu Mephisto, der es blöd findet, daß es überhaupt etwas gibt und nicht nichts. (6) Die Knaben sind aber auch ein Sinnbild dafür, wie die Kinder die Beziehung zu Erwachsenen wollen, brauchen und anfordern, und welchen Sinn uns Erwachsenen das gibt. Etwa so: Faust brütet im Büro über seine Landgewinnungspläne, die zwar sicherlich einen Fortschritt darstellen aber nicht so dringend vorangetrieben werden müssen, daß es sinnvoll wäre darüber alle Pflichten gegen die Menschen in seiner Umgebung zu ignorieren – und dann kommen die Bengels und zerren ihn raus zum Fußballspiel – sie fordern einfach an, was sie brauchen und was ihr Recht ist. – Darin liegt keine Ansprüchlichkeit sondern große Anerkennung und Wertschätzung für die Erwachsenen. Wir sollten doch froh sein, wenn die lebendige Zukunft mit uns was anfangen will, statt uns an unseren Schreibtischen hinter den Stapeln unserer leblosen papierenen Zukunftspläne zu verschanzen, von denen wir gar nicht wissen, ob unsere Kinder und Enkel das Geplante überhaupt haben wollen! – Aber wahrscheinlich werden wir den Wert des Kontaktes zu unseren Kindern erst in dem Maße erkennen, wie die jungen Leute im Netz unter sich oder mit Pc-spielen für sich bleiben und den Kontakt zu uns Erwachsenen wegen der Unbeholfenheit unseres Interesses an ihnen nur noch als langweilig erleben. (7) Es soll vielleicht nicht alles erdeutet werden. Der Dichter hat uns mit den "seligen Knaben" einfach aufgegeben, über das Leben nachzudenken angesichts eines Kindes, das bei der Geburt stirbt. Eine Meditation über Leben und Dasein ausgehend von unserer Berührtheit bei der Vorstellung einer entgangenen Existenz, einer vorenthaltenen Chance, den eigenen Potentialen Sinn zu geben, die Kräfte des Lebens zu erleben und die Fragen des Daseins zu stellen. („Den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös 10 zu sein, ist unbeschreiblich“ (Rilke, 4. Duineser Elegie).) – Auf diese Weise sind die seligen Knaben „für die Engel“ (für unsere geistige Kultur) „zum Gewinn“. Mater Gloriosa: Schwere psychische Störungen gehen nach dem Stand unseres Wissens auf eine schwer gestörte frühkindliche Interaktion zwischen Kind und Eltern zurück. Wenn wir von der Anzahl der Menschen, die unter so einem schweren Schicksal leiden müssen, absehen, können wir davon ausgehen, daß weit über 90 % aller Menschen mit einer „instinktiven“ Erwartung ausgestattet sind, verläßlich Schutz, Versorgung und Trost finden zu können bei Mamma oder etwas Mamma-Artigem. – Die christliche, von Männern dominierte Religion, hatte gegen Mamma keine Chance: Subversiv haben sich die antiken Muttergottheiten mit gefälschtem Marienausweis als illegale Einwanderer in die monotheistische Männerwelt geschummelt und dort weit mehr Bedeutung bekommen, als den Kirchenvätern lieb war. „Maria breit den Mantel aus, mach Schutz und Schirm für uns daraus, laß uns darunter sicher stehen, bis alle Stürm vorübergehen“ – auf ähnliche Weise erwarten schon die Jungen der niedrigsten Säugetiere, daß auf ihr Piepsen Mamma herbei eilt und ihr Fell über sie ausbreitet. Kein Wunder, daß gegen einen stammesgeschichtlich so archaischen „Instinkt“ die frommen Väter machtlos waren. Die Mater Gloriosa ist in der Volksfrömmigkeit der Inbegriff der mütterliche Liebe: Sie heilt Krankheiten, hilft gegen Naturkatastrophen und mildert die Strenge ihres richtenden Sohnes: Es gibt Darstellungen, wie sie beim jüngsten Gericht heimlich auf die Waagschale drückt, damit der Sünder nicht in die Hölle muß. Die Verehrung von Jungfräulichkeit wirkt für uns heute abstrus. Aber Jungfräulichkeit ist eine Chiffre für Distanz: Maria hat dadurch, daß sie nicht alles „Natürliche“ mitmacht, Distanz zu sich und anderen, sie ist nicht verstrickt in Beziehungsgeschichten, und sie ist nicht verstrickt in den natürlichen Egozentrismus. Sinn überwiegt Genuß. So kann sie unparteiisch sein und für andere da: die Mutter aller. (Das erinnert an Lars Lehmanns Geschichte „Die Revolte“ mit ihrer Vision einer Überwindung des „genozentrischen Weltbildes“.) Dr. Marianus ist die Verkörperung der Sublimationsfähigkeit: Er widmet sein Leben einer in jeder Beziehung unerreichbaren Frau. Er verkörpert eine Botschaft, die wir heute nicht gerne hören: Verzicht lohnt sich, man muß nur wissen, wie. – Für Kaufleute ist das eine Horrorbotschaft und sie tun alles dafür, sie nicht unters Volk kommen zu lassen, deshalb hat das Wort „Verzicht“ in unserer heutigen, durch Kaufleute geprägten Kultur, einen so unguten Klang, es klingt nach Altklugheit und neurotischer Selbstkasteiung. – Die Worte des Doktors an die Muttergottes können wir so umschreiben: „Laß mich schauen, 11 wie man das macht, richtig zu lieben. Und solange wir´s nicht begriffen haben, billige bitte, was wir Kerls an Liebe leisten können. Schau doch, wie sehr wir eigentlich für die Liebe gemacht sind: wie stark sie uns anstachelt und befriedet.“ – Rilke spricht das so aus: Die Frauen „haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. … Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns [Männern], uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenen, schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert?“ (Rilke 1996). Exkurs zu einer Textstelleninterpretation: Wer ist die gute Seele, die sich einmal vergessen hat? Faust oder Margarete? Wie kommen die Interpreten darauf, es sei Margarete? Wie passt das denn: sie ermordet ihr Baby und ahnt nicht, daß das falsch ist? Selbst wenn gemeint wäre, daß sie im Affekt nicht wußte, was sie tat, klänge es komisch, hier das Wort „ahnte“ zu verwenden. Die Zuschauer wären irritiert und müssten nachdenken, wie das passt: daß eine Mutter ihr Baby ermordet und keine Ahnung hat, daß das nicht gut ist. Bis die Zuschauer sich das zusammengereimt haben, haben sie die nächsten Verse verpasst. – Natürlich könnte man argumentieren: als sie ihr Kind ermordete hat sie sich vergessen und als sie sich mit Faust liebte, ahnte sie nicht, daß sie daß das falsch war. Und wegen des Versmaßes kann man das sprachlich nicht anders darstellen, daher scheint es nur so, daß das „nicht ahnte“ ein Zusatz zu „vergessen“ ist. – Gut. Aber abgesehen davon, daß ich zweifle, daß irgendein Zuschauer beim ersten Hören dieser Verse darauf kommt, tritt eine weitere Irritation ein: Hier geht’s doch um Faust! Was soll jetzt auf einmal der Sündenablaß für Margarete? Ihre Sünde ist ein halbes Jahrhundert her! – „Ja, das heißt nix, im Himmel gelten andere Zeitregeln, das kann man gar nicht miteinander vergleichen!“ – Schön. Das ist eine Zusatzannahme, die eine weitere nach sich zieht: Margarete stellt fest, daß Faust vom „neuen Tag“ geblendet ist. Ihr scheint dieser Tag also nicht neu. Das müßte dann erklärt werden. – Und was wär das für ein wenig 12 vertrauenerweckendes Verhalten: Kaum haben die andern für mich um Verzeihung gebeten, schmiege ich mich an meine Verzeiherin an und bitte um Verzeihung für meinen Freund, der noch viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hat als ich? Das Anschmiegen Margaretes wäre viel verständlicher, wenn zwischen ihr und der Mater Gloriosa schon länger ein ungetrübtes Verhältnis wäre, nicht erst seit einem Augenblick. – Und die schweben doch alle zu Faust hin, der ist doch das Ziel, warum erst noch ein Begnadigungszwischenspiel? Haben die sich gedacht: „Den Fall Margarete können wir erstmal zurückstellen und dann, auf dem Weg zu Faust, bitten wir für die gleich um Verzeihung mit!“ – Und wenn Gott Faust für das Exemplar eines guten Menschen hält (Prolog), dann darf er hier von den Büßerinnen als „gute Seele“ bezeichnet werden, das ergäbe sich allein aus der gebotenen Solidarität unter Büßern – abgesehen davon könnten die Büßerinnen das „dieser guten Seele“ auch ironisch betonen. Daß die Büßerinnen für Faust bitten und nicht für Marga, hat auch szenischen Sinn: Die Büßerinnen inclusive Margarete schweben schon eine ganze Weile mit der Muttergottes zusammen einher: Erst runter um die leichenfleddernden Teufel mit Rosen zu beschmeißen, jetzt wieder hoch. Wieso bitten sie erst hier um Gnade für eine der Schwebegefährtinnen? Ist im Tal zu dicke Luft? Daß für Margarete gebeten würde, hätte szenischen Sinn, wenn die Büßerinnen die Muttergottes hier treffen würden. Etwa so: Margarate kommt mit ihren Schuldgefühlen nicht klar, wendet sich an Profi-Büßerinnen, die wissen sich auch keinen Rat mehr und sagen schließlich: „Du mußt unbedingt Maria treffen, die kann dir weiterhelfen. Die schwebt da gerade im Gebirge rum um so´nen schmierigen Kerl zu erlösen.“ – Daß die drei Profi-Büßerinnen zusammen ihre Bitte vorbringen, muß nicht heißen, daß sie für die vierte, Margarete, bitten, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang: Welchen Aussagewert hätte es, wenn Margarete sich für Faust einsetzte? Sie ist befangen gegenüber ihrem ehemaligen Geliebten! Da denkt doch jeder: „Ist doch klar, die will ihn wiederhaben, die stecken doch buchstäblich unter einer Decke!“ – Die Alt-Büßerinnen haben dagegen kein persönliches Interesse an dem Kerl. Der kann ihnen völlig egal sein. Doch sie haben ein ganzes Wochenende Stinkrosen gebastelt und ihre Begnadigungsperformance ausgearbeitet und sind jetzt stundenlang im kalten Gebirge rumgeschwebt, um die Teufel zu beschmeißen und ihr Gnadengesuch loszuwerden. Die hätten es sich vor dem Fernsehschirm des Himmels wirklich bequemer machen und all die Fortsetzungsserien der menschlichen Kommödie weiterschauen können. Allein aus Solidarität haben sie sich für den armen Sünder engagiert. Ihre Bitte hat einen ganz anderen Aussagewert als die Margaretes! Hinzu kommt: Sie sind Meisterinnen im Büßen, Margarete ist Azubine. Sie sind Prommi-Büßerinnen, Margarete eine no-name-Büßerin. Würde Margarete mitbitten, könnte die Muttergottes 13 denken: „Was will die überhaupt, die weiß doch noch gar nicht, was Buße wirklich ist, wie will die einschätzen, was es bedeutet, so´n Kerl wie Faust, mit so ner riesen Bußlast ins Boot zu holen! Noch von nix ne Ahnung haben und gleich glauben, mit bitten zu können mit den Meisterinnen! Da könnte ja jede kommen!“ – Meine Annahmen haben gegenüber den anderen Annahmen eine szenische Entsprechung: Die drei Büßerinnen exponieren sich als PrommiBüßerinnen. Sie heben sich so stark ab, daß die Zuschauer sich nicht fragen müssen: „Warum bittet die eine nicht mit?“ – Daß Margarete die gute Seele ist, darauf sind die Philologen wahrscheinlich gekommen, weil der Dr.Marianus die Mater Gloriosa für die Büßerinnen wegen einer „Schwachheit“ um Gnade bittet, die sehr an Margaretes Verführbarkeit erinnert: Blick, Gruß und „der Rede Zauberfluß“. – Gut. Aber dem steht entgegen, daß nicht einsichtig ist, weshalb die bis jetzt auf Margaretes Begnadigung gewartet haben sollten – zumal sie ja – im Gegensatz zu Faust – bereits Verantwortung übernommen hat und längst als „Gerettet“ klassifiziert worden ist. – Oder soll das heißen: Wen Gott gerettet hat, dem hat die Muttergottes noch lange nicht verziehen? Was für eine nachtragende Tante wäre sie dann! – Zudem hat die Anspielung des Eremiten hier auch noch einen anderen möglichen Sinn: Indem er aus seiner Sicht noch einmal die Große Mutter um Verständnis für Margarete bittet, lädt er – für alle Fälle – Margaretes Gnaden-Guthabenkonto auf: Je mehr das Verständnis für Margaretes Fehltritt als menschlich-allzumenschlich bekräftigt wird, desto gebebereiter wird Mamma für Margaretes Wünsche. Das kann Margarete für Faust gut brauchen, mit dem sich der Doktor hier offenbar identifiziert (als Kerl und Kollege). Schließlich: was soll dagegen sprechen, daß die Büßerinnen Faust meinen? Die sind so nah dran, daß sie den armen Sünder am Ohr unter die Augen der Gottesmutter ziehen können. Zudem soll die Gottesmutter ihm nur ja nicht mehr Verzeihung gewähren, als angemessen. – „Angemessen“: Das Wort sticht heraus, wegen seines aggressiven Gehaltes: Ein Maß begrenzt. Würde sich das auf Margarete beziehen, klänge es nach schwelendem Zickenkrieg: „Die darf dann aber auch nicht mehr kriegen als wir!“ Die Interpretation, daß die Büßerinnen sich für Margarete einsetzen, ist schon immer über das „angemessen“ gestolpert: Zu soviel Mitgefühl, wie Margarete auslöst, passt solche Knauserigkeit nicht. Das ließ die Philologen einen Schreibfehler vermuten: daß es „un-“ statt „an-gemessen“ heißen sollte. Ein weitere Zusatzannahme. Und eine blöde: Es entgeht die Pointe, daß im Himmel zwar Gnade vor Recht ergeht, aber nicht grenzenlos! Die Löwen sind zahm aber nicht zahnlos. Die haben professionelle Sozialarbeiterinnen dort, keine unprofessionellen! Und falls Goethe wirklich Margarete gemeint haben sollte, ist er selbst schuld: warum hat er 14 das nicht hingeschrieben? Das wäre einfach eine Panne, einen simplen Sachverhalt so unzureichend auszudrücken, daß Generationen von Gelehrten scharfsinnig spekulieren müssen und keine eindeutige Lösung finden [5]. Fausts Erlösung: Faust ist nicht irgendein Streber. Sondern er strebt nach persönlicher Entwicklung, nach Desillusionierung. („Kannst Du mich schmeichelnd je belügen, daß ich mir selbst gefallen mag...“) Dem widerspricht nicht, daß er sich ständig in Illusionen verrennt. Er ist bereit zur Desillusionierung, aber diese Bereitschaft allein desillusioniert nicht. – Was interessiert schon, wovon Goethe persönlich überzeugt war? Ob er glaubte, daß nur Streber erlöst werden können, kann uns ganz gleichgültig sein. Und wen die unvollendeten Engel erlösen können und wen nicht, das braucht uns auch nicht zu interessieren. Psychopathen, die sich immer für großartig halten und nicht das geringste Interesse daran haben, sich strebend zu bemühen, und die ohne mit der Wimper zu zucken einen Pakt mit dem Teufel eingehen würden, weil sie wähnen, auch dem am Ende noch überlegen zu sein, oder weil sie gar keine Fähigkeit haben, Zukunft zu antizipieren – solche Leute können sicher nur von erfahrenen Meister-Engeln erlöst werden. Bei jemandem wie Faust, der schon soviel mitbringt, ists einfach, da kann man die Azubis und Gesellen ran lassen. (Die Anfängerengel könnten stolz jubeln: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“ ) Entscheidend ist: Die Mater Gloriosa durchkreuzt die Zockereien der Herrn, weil sie weiß, was relevant ist: „Wie entgleitet schnell der Fuß schiefem, glatten Boden!“ Wir tun immer leicht so, als seien die Böden der andern nicht schiefer als unsere eigenen. Aber wie schief der Boden wirklich ist, auf den das Schicksal einen Fuß setzt, kann kein anderer Fuß ermessen. Der Philosoph L.Wittgenstein fand ein anderes Gleichnis dazu: „Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält“ (zitiert nach Mc Guinness 1992). Möglicherweise ist die moralische Güte bei allen Menschen gleich, nur die Gewichte und Gegengewichte im Spiel der Kräfte, Zug und Gegenzug, Trieb und Sinn, sind unterschiedlich ausgeprägt. – Wir werden wahrscheinlich nie wissen, ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Da wir es nicht ausschließen können, dürfen wir es annehmen. Aber wenn es ihn gibt, ist sein Hebel bei vielen Lasten absolut zu klein – und die meisten anderen Lasten kann er nur stemmen, wenn er an einem Punkt angesetzt wird, wo die Hebelgesetze ihm günstig sind – und so einen Punkt muß man erst mal finden oder durch Abbau und Umverteilung der Gewichte schaffen... (Das ist z.B. eine Aufgabe der Suchttherapie.) Jedenfalls: Wir können 15 nie wissen, ob jemand nicht besser gewollt oder nicht besser gekonnt hat. Moralische Urteile sind nicht möglich [6]. – Diese Erkenntnis ist relativ neu. Das alte Testament kennt sie noch nicht. Das neue schon. Vorher gab es sie schon in Griechenland (Theorie vom Verlust der sittlichen Einsicht) und Indien (Buddha). Der Gott des alten Testaments ist noch zornig und hält Rache, verbrämt als Strafe, für eine Tugend, sofern die Regel „Auge um Auge“ gewahrt wird [7]. 1500 Jahre sind für den Teufel keine lange Zeit. Deshalb kann er sich noch so echauffieren über den modernen Quatsch: über das neue zivilisatorische Lernniveau, das nicht mehr moralisch wertet und dem Teufel nichts mehr gönnt: „Herkömmliche Gewohnheit, altes Recht, man kann auf gar nichts mehr vertrauen!“ Dr. Marianus II: Auf dem Hintergrund der katastrophalen Horrorkollektivismen des 20. Jahrhunderts mutet das Schlußgebet des Dr. Marianus mit seiner Forderung nach Unterordnung, Selbstanklage („Reue“) und Dienstfertigkeit gruselig an. Doch im Kontext des vorhergehenden Geschehens der tätigen Liebe gesehen, in entreligiösifizierter Sprache ausgedrückt und in konsequent „moderne“ Lesart gebracht, sagt der Doktor etwa: "Hilfreich ist Zusammenhalt (der ist das „Rettende“). Wer du auch bist: einer Gemeinschaft, in der wahrer Zusammenhalt herrscht, bist du nicht egal (der „Retterblick“ ruht auf dir). Das Leben auf den Zusammenhalt aller Menschen ausrichten (zum Retterblick „aufblicken“) bedeutet: sich für den Zusammenhalt zu engagieren (Dienst erbieten) und den Zusammenhalt als etwas anzuerkennen, das mir in meiner persönlichen Beschränktheit überlegen ist und dem gegenüber ich eine gewisse Unterordnungsbereitschaft pflege (zu dem man „aufblickt“). Erforderlich für den Erfolg des Engagements ist Selbstkritik mit Veränderungsbereitschaft (Reue) und Zurückhaltung mit der rücksichtsvollen Bereitschaft, eigene Ansprüche herunterzuschrauben („Zartheit“). In der idealen Gemeinschaft stellen die Einzelnen Sinn über Trieb (Jungfräulichkeit), sind fürsorglich für einander engagiert (Mütterlichkeit), anpassungsbereit (der Königin untertänig) und erleben den Zusammenhalt als einen der höchsten Werte (Göttin)". – Wir sind von Natur aus gut (der „gute Mensch“, die „gute Seele“), aber das reicht nicht, um die Potentiale, die im Zusammenhalt schlummern, zu entfalten. Dazu braucht es eines „besseren Sinns“, eines Sinns, der durch Kultivierung über seine Natürlichkeit hinaus wächst. - Gott hat Unrecht und der Teufel irrt selbst da, wo er Recht hat. Nur die Muttergottes weiß, wie es sich richtig verhält, die Mädchen sind mal wieder klüger: Der gute Mensch glaubt bloß, sich des rechten Weges dunkel bewußt zu sein, und gerät dadurch auf die schlimmsten Abwege. Der Gute Wille kann die bösartigsten Formen annehmen: selbst die Terroristen folgen nur ihren Gewissensentscheidungen. Augustinus hat Recht, nicht Pelagius (Schöne-Kommentar 228): wir sind durch den 16 Sündenfall so verdorben, daß wir allein, aus eigener Kraft, ohne „Gott“, den rechten Weg nicht finden können. Wir brauchen die rechte Ausrichtung auf die Gemeinschaft („Gott“): wir brauchen einander zur „Kurskorrektur“ [8]. Im Gebet des Kollegen ist Faust am Ziel: das Gute gesteht ein, daß es nicht hinreicht, und disqualifiziert das Bessere nicht länger als Trug und Wahn. Der Chorus Mysticus stimmt einen Lobgesang an, auf das, was er hier beobachtet hat. Seine Zeilen sind nicht Kommentar sondern Ausdruck: Ausdruck des Staunens und der Freude: Ewig-Weibliches und Ewig-Männliches: Ewig weiblich und ewig männlich sind allein die Probleme, die aus den unterschiedlichen körperlichen Chancen entstehen. – Wie wir es auch immer sonst noch verstehen wollen: wir können es auf eine Weise verstehen, die Frauen und Männer nicht auf Rollen festlegt – denn Rollenfestlegungen wären selbst in dem Fall, daß es tatsächlich biologisch konstituierte Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern geben sollte, ein „naturalistischer Fehlschluß“ [9]. – Es lassen sich immer entgegensetzbare Einstellungen finden, egal ob und wie wir sie symbolisch als „Männlich“ und „Weiblich“ kategorisieren : Das Forsche und das Fürsorgliche; das Aktive und das Rezeptive; das Technische und das Soziale; das Zielstrebige und das Umsichtige; das Erfolgsorientierte und das Verständigungsorientierte; das: „Man muß die Welt doch voran bringen!“ und das: „Es müssen doch alle satt werden!“ Ob eine Einstellung besser ist als die andere, sagt der Dichter nicht. Nur daß die eine uns hinan zieht, die andere nach vorne. In einem mehrdimensionalen Raum ist die eine nichts ohne die andere. Das auszusprechen ist Blasphemie in einer Kultur, die geprägt ist von einem "selektiven Muster von Rationalisierung" (Habermas), die individuell zurechenbare technische Potenz infantil glorifiziert: „Guck mal Mammi, das hab ich ganz allein gemacht!“ - Das "ewig Weibliche" steht für die Einstellung, die Faust mangelt: für soziale Intelligenz und kommunikative Rationalität - unabhängig davon, wie diese Vermögen in einer Kultur mit dem Männlichen oder Weiblichen assoziiert sind. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“: Normalerweise brauchen wir nicht mehr zu wissen, als zum Leben nötig. Deshalb erkennen wir auch nicht mehr von der Wirklichkeit, als wir an Wirkung brauchen. Das, was darüber hinausgeht, bleibt uns verborgen. Bestenfalls lassen sich gigantische Maschinen bauen, wie das CERN, die Phänomene erzeugen, aus denen wir zu erschließen versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber: „was sie uns nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben!“ Egal wie weit wir im Zerlegen kommen: Struktur und Dynamik können wir immer nur fallibel und 17 modellhaft, also „vergänglich“ und „unzulänglich“ erschließen. (Aber die Art, wie wir es erschließen, könnten wir ins Museum stellen als „ready made“: zur poetischen, „anmutigen“ Anschauung der Findigkeit des Menschen. Auch so würde das Vergänglich-Unzulängliche „Ereignis“.) – „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ können wir daher als eine poetische Aufforderung verstehen, uns vom Konkreten, von der Erscheinung, anmuten zu lassen und über die vermutbare Größe des Daseins, die sich im Konkreten zu offenbaren scheint, zu staunen. (Die Gefahr ist allerdings: dieses Staunen religiös zu überhöhen: Aus dem Staunen mit Ideen und Begriffen zurückzukehren und sie für den objektiven Gehalt des Staunens zu verkaufen. Das führt bestenfalls zu neuen Mythen, schlimmstenfalls zu neuen Dogmen.) – Am Konkreten zeichnen sich die Potentiale des Daseins gleichnishaft ab. Auf welches Konkrete bezieht sich der Chor hier? Auf Fausts Leben und Erlösung. Selbst seine Fehler sind Erkenntnisgewinn, sie offenbaren etwas von den wirkenden Kräften, mit denen wir Menschen es im Leben zu tun kriegen (und mit denen zu tun zu kriegen wir fähig sind). Und sie offenbaren etwas von der „Güte“ des Menschen: Fausts wollte es immerhin dem Teufel beweisen, und er wollte Margarete retten und den Menschen die Freiheit bringen. – Und in der Erlösung Fausts zeigt sich die Macht des Menschen im Erkennen und Überwinden. – So offenbart etwas Vergänglich-Menschliches etwas vom Ewig-Männlich und -Weiblichen. „Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“: Eine mit Normalität ausgefüllte Woche ist nicht ereignisreich. Die Alltagsgegenstände sind zwar sichtbar, aber erst, wenn einer sich plötzlich verändert hat - z.B wenn der alte Kaktus nochmal blüht - wird er "Ereignis". – Also offenbar springt hier, bei Fausts Erlösung, am Unzulänglichen etwas ins Auge, was sonst übersehen wird. Anderswo ist das Unzulängliche kein Ereignis, hier schon. Was normalerweise nicht der Aufmerksamkeit wert ist: hier zieht es sie auf sich. Wodurch? Hier wird verziehen. Hier wird auf die Stärken geschaut. Hier werden Unvollkommenheiten eingestanden. Hier werden Fehler nicht bewertet sondern erforscht. Hier waltet Gnade. Hier übt man Abstinenzen: Man braucht niemanden (Pater Seraphikus), man will niemand bestimmtes sein, bzw. ist bereit, sich alle Identitäten zerschmettern zu lassen (Pater Ecxtaticus), man agiert keine Emotionen aus (Margarete wird nicht zur Furie). Hier gibt es keine „Normalität“ oder „Alltäglichkeit“ in dem Sinne, daß man zwischen Relevantem und Irrelevantem unterscheiden muß, um im Handlungsdruck des Lebens Vorteile zu ergattern und „heranzuraffen“. Hier hat man sich von diesem Handlungsdruck so weit wie es geht emanzipiert. Hier gibt es kein „gut“ und „schlecht“. Darin besteht der „bessere Sinn". Dadurch gerät das Unzulängliche, Durchschnittlich-Normale und im Alltag Ausgeblendete in ein anderes Licht, es wird nicht mehr funktional bewertet, sondern in seinem Eigenwert 18 betrachtet, ähnlich wie John Cage, der die Emanzipation des Geräuschs in die Musik einführte, auf die Frage eines Reporters, ob das Quietschen der Tür auch Kunst sei, antwortete: „If you celebrate it, it´s Art“; ähnlich wie von Zen-Meistern erzählt wird, daß Alltags-„Ereignisse“ sie zur Erleuchtung brachten: das Klackern eines beim Fegen aufgewirbelten Steinchens. „Das Unbeschreibliche, hier ist es getan“. – Das Vergängliche ist das Beschreibliche, in dem das Unbeschreibliche gleichnishaft präsent ist. Hier wird etwas von diesem Unbeschreiblichen getan, konkretisiert. Das gelingt offenbar sehr selten, sonst würde der Chorus hier nicht so staunen. (Vielleicht standen die Choretiden, bevor sie in Jubel ausbrachen, mit offenen Mündern da, wie die Fans von einer Regionalmannschaft, die sich mit einem entscheidenden Tor kurz vor Schluß völlig unerwartbar in die zweite Liga spielt.) In dieser „Tat“, diesem Konkretisierten: in der tätigen Liebe zwischen den Menschen, muß das Göttlich-Unbeschreibliche also ganz besonders „anwesend“ sein, zum Ausdruck kommen und mehr als nur gleichnishaft erlebbar werden: in der Bereitschaft, sich über sich selbst zu desillusionieren – in der Bereitschaft, aus der Schuld sich eine Pflicht zu machen (Buße) – im Verzeihen – in der Art und Weise wie man sich gegenseitig uneigennützig zur Hand geht (Kooperation) und schließlich in der Solidarität: im Zusammenhalten gegen ein gnadenloses Schicksal, das jedem Paar Füße anders schiefe Böden unterschiebt. Anmerkungen „[1] "Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, uns Menschen unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden“ (Goethe nach Eibl 2000, S. 332). – Goethe schätzte offenbar den „Eigenwert“ von solchen „Fabeln“. – Diese Haltung hat Ähnlichkeit mit der modernen Ästhetik des „object trouvé“ und des „ready-made“: So wie Picasso einen Stierschädel aus Fahrradteilen montiert, montiert Goethe seine Intentionen zu sozialer Intelligenz mit Kirchenfiguren. Damit erzeugt er gleichzeitig eine „Selbstähnlichkeit“ zwischen Form und Inhalt: Wie bei einer Fahrradskulptur aus Radspeichen. 19 [2] Viel Spaß im Leben zu haben ist schön und gut. Aber zu wissen, daß man etwas beigetragen hat zur Bewahrung oder Entwicklung der Zivilisation, kann ne´Menge Spaß aufwiegen, so sehr, daß sich ein mühseliges und schmerzensreiches Leben unter Umständen besser anfühlen kann, als ein Spaßiges. Doch glücklicherweise schließen sich Spaß und Sinn nur selten gegenseitig aus. Ein Gedankenexperiment zum Gewicht von Spaß und Sinn: Es müßte komisch sein, zu sterben, und zu erkennen: „Mein Leben hatte eigentlich nur für mich Bedeutung. Ich habe nichts bewahrt und nichts entwickelt und es wird keiner groß an mich denken und erst recht nicht lange und geschweige denn mit dem Gefühl, daß er mir irgendetwas verdankt oder mein Dasein sein Leben ein wenig bereichert hat, so daß er durch dieses Quentchen Zuwachs, wie gering es auch immer sei, anderen mehr geben kann, als er es könnte, wäre ich nicht gewesen...“ [3] Das ist bei religiösen Perfektionisten offenbar kein unbekanntes Phänomen: „Was hast du gesagt? Es gilt dir nichts, deine Seele für die endlose Ewigkeit zu verderben, nur um in diesem flüchtigen Leben einem anderen zu helfen!“ (N. Leskow). – Für Thomas von Aquin kam es auf die Liebe an, nicht auf Askese, Askese war nur eine mögliche Methode der Liebe. – Und Luther sah in der Askese die Gefahr, den falschen Schein zu erwecken, „als ob die eigentliche Sünde vom Fleische, vom leiblichen Sein herkomme - statt aus dem ungläubigen Herzen“; und daß „das augenfällige oder gar sensationelle asketische Leben nur allzuleicht zum Ausdruck geistlicher Eitelkeit und Selbstgefälligkeit“ werden könne. (Refereriert aus dem Artikel „Askese“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, S. 646.). Weitere Askesekritik findet man bei M. Buber (Vorwort zu den „Erzählungen der Chassidim“) weitere „Eremitenpoesie“ bei Hermann Hesse („Der Beichtvater“ und „Indischer Lebenslauf“ aus dem „Glasperlenspiel“). [4] Ein weiser Rabbi hatte sich bei der Einschätzung des Zeitpunkts der Erlösung der Menschheit vertan und rechtfertigte sich so: „Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan oder können sie tun. Von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen“. 20 Buber, Martin, „Hindernis“, aus: Die Erzählungen des Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.400, [5] Mit Annahmen und Zusatzannahmen kann fast alles begründet werden, es kommt dadurch ein Moment der Willkür in die Interpretation. Warum ist Verzeihen noch nötig, wenn Margarete schon gerettet ist? Antwort: Das „Gerettet“ bezieht sich nur auf den Kindsmord. Der voreheliche Beischlaf ist noch ein offener Posten auf dem Schuldkonto. (Damit könnte man dann auch argumentieren: daß „vergessen“ und „nicht ahnen“ zwei völlig verschiedene Dinge seien, die sich nicht gegenseitig kommentieren können.) Oder: Da Margarete kein Verzeihen mehr braucht, weil sie gerettet ist, aber die gute Seele doch Margarete sein soll, könnte es ja sein, daß die Büßerinnen Maria darum bitten, daß sie Margarete ihre Fähigkeit zu Verzeihen ausleiht, um Faust zu verzeihen. (Die Beispiele sind aus: Arens 1989 und Trunz 1949.) – Oder: Eibl (1999) meint, Faust wolle den Teufel mit der Wette überlisten, denn ein so vollendeter Augenblick, der den Wunsch nach Ewigkeit erwecke, sei Menschen gar nicht möglich, der Teufel habe also von vornherein verloren. Eibl bezieht sich dabei auf eine andere Stelle im Werk Goethes, wo Goethe „Augenblick“ als punktuelles Erlebnis der Vollkommenheit versteht. Auch hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man nicht durch solche Bezüge auf andere Schriften eines Dichters alles Mögliche in eine Stelle hineininterpretieren kann. Denn es braucht auch hier wieder Zusatzannahmen: „Wie ich beharre bin ich Knecht“, sagt Faust einen Augenblick später. Eibl erklärt nicht, wieso das „Beharren“ und der Wunsch nach „Verweilen“ sich hier auf unterschiedliche Dinge beziehen sollten. Er könnte natürlich annehmen: Faust wolle den Teufel vorsätzlich in die Irre führen indem er den Anschein erwecke, es gehe im darum, nicht bestechlich durch Bequemlichkeit zu sein... – All das sind Beispiele für die „Unzulänglichkeit“ aller Wissenschaften: Jede Erklärung schafft an einer anderen Stelle „Anomalien“ (Kuhn 1973). Die Erklärungskraft der Erklärung fungiert dann als Erlaubnis, die Anomalien ignorieren zu dürfen.– Die Naturwissenschaften haben es besser: Bei ihnen findet die Denkwillkür ihre Grenze daran, ob Erklärungen dazu führen, unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. (Zu den Begriffen Denkwillkür, Denkwiderstand, Denkstil: Fleck 1980). – In der Philologie würde es darum gehen, zusätzliche „Denkwiderstände“ zu beschaffen. Z.B. könnte man Goethe ja zutrauen, „rezeptionspraktisch“ gedacht und das „Drehbuch“ so geschrieben zu haben, daß der Zuschauer auch ohne mit Professorenwissen um vier Ecken herum gedacht zu haben, verstehen kann, worum es geht. Dann kämen nur die naheliegenderen Deutungsmöglichkeiten 21 in Frage. – Ein anderer „Denkwiderstand“ könnte, wie oben dargestellt, der szenische Sinn sein. - Es gibt in der Interpretationsliteratur Passagen, die – ähnlich wie in der psychoanalytischen Literatur – so lächerlich abstrus wirken, daß es unfair wäre, sie außerhalb ihres Zusammenhangs zu zitieren. Im Kontext eines Denkstils haben sie jedoch Folgerichtigkeit und Berechtigung. (Beispiele bei Trunz.) Ein anderes Problem, allerdings nicht nur der Philologen, ist die validierungsignorante Konkretisierungsfaulheit. Ein Beispiel bei Eibl (2000, S. 57): "Wie können Ich und Gesellschaft miteinander versöhnt werden? Sie können es nicht. Das durch Exklusion begründete Subjekt muss sich selbst ungemein wichtig nehmen und hat als Entsprechung nicht die Gesellschaft sondern die Welt als das Ganze (da es Gesellschaft nicht als Ganzes erleben kann)." - Mit „Exklusion“ meint Eibl: Das Individuum gehört verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu und in jedem muß es sich nach anderen Normen richten: Der fürsorgliche Familienvater muß als Manager Familienväter entlassen und andere Familien dadurch in Armut stürzen. - Was ist an dem Problem wirklich neu? Hatte ein antiker Kaufmann, der Mitarbeiter entließ, das nicht? - Und was soll das heißen: das Subjekt hat eine "Entsprechung"? Und wie kann man Gesellschaft oder Welt als Entsprechung haben? Und was soll das heißen: etwas als Ganzes empfinden? Und Gesellschaft so nicht mehr empfinden können, nur noch die "Totalität"? - Wenn er weiß, wovon er spricht, warum benennt er es nicht kurz und bündig? Ich fürchte, er glaubt nur, daß er weiß, wovon er spricht, und er kratzt diesen Glauben lieber gar nicht erst an – denn konkreter zu benennen, was er meint, würde bedeuten: schauen, ob wirklich drin ist, was es verspricht... (Ein Beispiel für validierende Konkretisierung ist mein Aufsatz: „Verwaltung des Wohls“, in dem ich J.Habermas These von der Kolonialisierung der Lebenswelt untersuche.) Ich müßte eigentlich einen Aufsatz schreiben: "Wittgenstein als Erzieher", aber mir fehlt die Zeit. [6] Unresozialisierbare Schwerverbrecher sind ein Prüfstein für die Solidarität einer Gesellschaft. Es sind Menschen, in denen die menschlichen Widersprüche extrem ausgeprägt sind: der Widerspruch zwischen dem Wunsch, etwas für sich selbst zu erreichen und dem, nicht ausgestoßen und verlassen zu werden. Sie wollen als Mensch unter Menschen existieren aber sie sind so extrem ich-bezogen daß sie dem, was eine Beziehung erfordert, derart systematisch zuwider handeln, daß sie nicht gemeinschaftsfähig sind. Sie sind berechnend, nutzen aus, instrumentalisieren, lassen anderen nicht ihr eigenes Leben, manipulieren, verletzen, 22 zerstören, morden. Es geht nicht darum, ihnen den freien Willen abzusprechen. Sondern darum: daß bei ihnen ganz andere Kräfte am Werk sind als bei uns, gegen die die Freiheit des Willen – so es sie gibt – gegenhalten muß. – Wir „normalen“ Bürger würden es doch gar nicht schaffen, richtig böse zu sein! Wir können uns doch nicht etwas darauf zugute halten, gut zu sein, wenn wir gar nicht anders können! Das ist billig und wurde von Wilhelm Busch mit Spott abgestraft: Das Gute - dieser Satz steht fest Ist stets das Böse, was man läßt! Ei, ja! - Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!« Das ist die moralische Perversion des Spießers, denn das Böse ist das Gute das man läßt. Daß wir einen Menschen nicht ermorden können: ist das wirklich unser Verdienst? Was haben wir denn konkret dafür getan, daß wir so beziehungsfähig sind, daß unser Egoismus enge Grenzen hat? Wir tun ja gerade so, als müsse man das in der Schule üben wie das Einmaleins und wir hätten immer brav unsere Hausaufgaben gemacht, während die Verbrecher bloß am Fernsehen abgehangen hätten. Wären wir auch so brave Bürger, wenn die Gegengewichte unseres hinreichend gut entwickelten sozialen Sinns weg wären? - Schwerverbrecher sind gesunde Menschen mit erheblichen Einschränkungen in ihrer Beziehungsfähigkeit, Einschränkungen, die dazu führen, daß sie für andere Menschen gefährlich werden. Aber sie sind keine bösen Menschen. Böse Menschen gibt es nicht. - Erst wenn wir das ganz wertfrei sehen, kann sich abzeichnen, was wir uns gegen sie erlauben dürfen und ihnen dabei schuldig sind. Wir müssen uns gegen sie schützen. Aber wir müssen es so tun, daß wir ihre Würde und ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur so minimal einschränken, wie unser legitimes Schutzbedürfnis es erlaubt. Eine Sicherheitsverwahrung darf keine Strafe sein. Das geht uns gegen den Strich, weil viele dieser Verbrecher sich einen Dreck um die freie Entfaltung unserer Persönlichkeit scheren würden. Aber das darf keine Rolle spielen. Wie relativ die Gefährlichkeit von Menschen ist, sieht man an Faust: Faust tötet fahrlässig Margaretes Mutter, ihren Bruder schlägt er im Duell tot, Margarete läßt er schwanger im Stich, obwohl er weiß, daß sie dann aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. Nach dieser privaten Katastrophe manipuliert er die Finanzmärkte, stürzt damit ein Land in einen Bürgerkrieg, mischt in diesem Krieg mit, um als Kriegsgewinnler ganz groß raus zu kommen, 23 wird durch Verstrickung in Piraterie reich und siedelt Einheimische so effektiv um, daß sie ums Leben kommen. - Faust ist durchaus beziehungsfähig. Er ist keine dissoziale Persönlichkeit. Was heißt das? Er könnte nicht kaltblütig ermorden oder einer Rentnerin auf den Kopf hauen um ihr die Handtasche wegzunehmen. Er könnte nicht eine Frau entführen, in einem Keller einsperren, als Sexsklavin monatelang mißbrauchen und hinterher umbringen. Das könnte Faust alles nicht. - Auch Eichmann oder Himmler hätten das wahrscheinlich nicht gekonnt. (Beispielhaft beschrieben im Roman von Robert Merle über den Kommandanten von Auschwitz: „Der Tod ist mein Beruf“.) Die Parameter menschlicher Bösartigkeit variieren unabhängig von einander. Wir sind schon einen Schritt weiter als die meisten anderen Kulturen der Welt, die noch eine Unterscheidung von Binnen- und Außenmoral kennen: im eigenen Clan gilt eine andere Moral als außerhalb. Aber unsere Beziehungsfähigkeit hat mit der Universalisierung unserer Moral nicht mitgehalten: Wir können unsere Freiheit noch am Hindukusch verteidigen: „Nichts schöneres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten, dann geht man Abends froh nach Haus und segnet Fried- und Friedenszeiten“. (Vom Thema moralfreie Erlösung handelt auch D. Seefelds Geschichte: „Subversion im Himmel“. - Über Erkenntnisse der Hirnforschung zur Beeinträchtigung von Schwerkriminellen und Trainingsmöglichkeiten: Interview mit Niels Birnbaumer im Spiegel 24/2014 S.118). [7] Obwohl es im Judentum auch andere Töne gibt: „Es darf uns nicht darum gehen, Gerechte zu finden, sondern für die Sünder Gnade zu erflehen. Abraham suchte Gerechte und so mißlang sein Unterfangen. Mose aber betete: “Vergib doch der Verfehlung dieses Volkes“. Buber, Martin. Die Erzählungen des Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.622 [8] Wir brauchen keinen Glauben aber wir brauchen das Überindividuelle, um Individuum sein zu können. Allein wären wir nicht einmal zur Sprache fähig. Wittgenstein verneinte die Möglichkeit einer „privaten“ Sprache, einer Sprache, die man alleine erfindet und nur für sich selbst haben kann. Denn er fragte sich, wie man sich alleine daran erinnern könne, was man einmal mit einem Wort gemeint habe – man könne ja nie wissen, ob man sich richtig erinnere, 24 denn eine Erinnerung könne eine andere nicht korrigieren: „Es wäre, als kaufte man sich zwei Exemplare einer Zeitung, um zu kontrollieren, ob sie auch die Wahrheit spricht.“ Diese Intuition für Gemeinschaftlichkeit hat sich durch die Kollektivismen des letzten Jahrhunderts nicht weniger diskreditiert, als der Glaube des Faust-Prolog-Gottes an den Orientierungssinn des von ihm erschaffenen „guten Menschen“, des „gelungenen“ Individuums. Kennzeichen von Kollektivismen ist ein demagogischer Taschenspielertrick: die Erfindung eines Feindes, einer Bedrohung. Im Angesicht der Bedrohung nicht bedingungslos für die Gemeinschaft sein zu wollen wird dann definiert als Sabotage. – Ein Zusammenhalt, der nur mit einem Feind, einer äußeren Bedrohung funktioniert, ist bereits korrumpiert: Er braucht Denkverbote: jeder, der an der in der Gemeinschaft herrschenden Auffassung von der Bedrohlichkeit der Bedrohung zweifelt, ist schon ein Saboteur. - Ein weiteres Indiz für archaische, irrationale Gemeinschaftsbildung ist, den Mitgliedern kein eigenes Leben zu zu gestehen: die Hingabe an „den Führer“ muß bedingungslos sein. Wer abweicht, riskiert Ächtung. - Frag- und bedingungsloser Zusammenhalt gegen einen Feind, der Erbarmungslosigkeit verdient, ermöglicht institutionalisiertes Mobbing. Auschwitz zeigt, bis zu welchem Punkt institutionalisiertes Mobbing kulminieren kann. – Möglicherweise hat es noch nie ein wirklich ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Kollektiv gegeben. Immer scheint der Lauf der Dinge mal der einen, mal der anderen Seite zu viel Gewicht zu verleihen. Es wird eine Entwicklungsaufgabe der Zivilisation sein, eine ausgewogene Dialektik von Einzelnen und Gemeinschaft zu schaffen. Allerdings: Gesellschaft kann man nicht planen. Man muß demokratisch ausprobieren und ändern. Jeder Plan beruht auf der Beschränktheit der Planer und wird zum Prokrustesbett, das alles abhackt, was in den tollen Plan nicht paßt. Ein Plan enthält die Weisheit einiger Weniger, die Geschichte braucht die Weisheit aller. [9] „Naturalistischer Fehlschluß“: Von Hume so genannte Einsicht, daß aus dem Sein (den Naturgegebenheiten) kein Sollen (keine Moral) ableitbar ist. Selbst wenn herauskäme, daß männliche Hirne besser zum Jagen, weibliche besser zur Kinderhege geeignet sind, heißt das gar nichts. Die Blagen müssen nicht immer optimal verwöhnt werden und es muß auch nicht jeden Tag Braten geben. Unsere natürliche Ausstattung verpflichtet uns zu nix. - Abgesehen davon werden wir wahrscheinlich niemals rausfinden, welches Hirn für was besser geeignet ist, dazu ist das Gehirn zu kompliziert. Außerdem gelten alle Unterschiede wahrscheinlich nur 25 statistisch: Der Abstand zwischen Männlich und Weiblich wird kaum irgendwo so groß sein, daß alle Frauen dieses und alle Männer jenes besser können. Das Einzige was sicher ist: kraft unserer ausgeprägteren Muskeln eignen wir Kerls uns besser zum Steineschleppen. Interessant ist, in der Literaturgeschichte zu verfolgen, welche Dichter ein Gespür für die Tragik der Frauen hatten, daß sie sozialisationsbedingt ihre Potentiale nicht entfalten durften oder konnten. Goethes Margaretentragödie ist in diese Reihe zu stellen. Gut ausgeprägt findet man es bei Maupassant, Tolstoi, Tschechow, Rilke – und bei Nietzsche! Man hält Nietzsche immer für einen Frauenverächter. Aber wer genau liest, stellt fest, daß das Gegenteil zutrifft und er einfach nur erschüttert darüber war, was die damals herrschende Kultur aus den Frauen machte: lächerliche hysterische Hennen, die sich bestenfalls mit Intriganz ein wenig entschädigen konnten für das vorenthaltene Leben. Literatur Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989. Eibl, Karl: Zur Wette im Faust. In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999). S. 271 -280 ( http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/faust_eibl.pdf ) ders.: Das monumentale Ich, Frankfurt a.M. 2000. Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. 1993 Fleck, Ludwig: Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M. 1980 Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973 Leskow, Nicolei, Der Gaukler Pamphalon. In: Der Weg aus dem Dunkel, Meistererzählungen, Diederichs Leipzig 1952, S. 332. McGuinness, Alec: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M. 1992, S.433 Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge, in: kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a.M. 1996, S.548ff Trunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949 Copyright: Der Text ist urheberrechtlich geschützt. - Kopieren für den privaten Gebrauch ist gern gesehen. - Alles, was über das Zitieren hinaus geht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung. - Auch mit Nennung des Autorennamens darf dieser Text nicht ohne Lizenz „herausgegeben“ werden! copyright-kontakt: www.goethesfaust.com 26 An die Worte und ihre Häscher So schick ich euch den still und leise Liebe Worte auf die Reise. Es freut mich, wenn ihr nützlich seid, Und jemand sich an euch erfreut. Doch wenn euch jemand einfach stielt, Fremden Namens mit euch dealt, Dann seit nicht sauer, denket eher, Mit fremden Federn fliegt sichs schwer. Ein Tipp für den Gedankendieb: Folg mal dem Sinn und nicht dem Trieb. Und was ist schon daran so schwer, Anzugeben, wo ists her? Ein rechtes Wort am rechten Ort Bringt immer Lob und zwar sofort. Und wenn es auch nicht Deines ist, So rühmt man wie Du kundig bist. 27
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