So modern wie verkannt? Ideen zu Goethes „Faust“

Winfried Lintzen
So modern wie verkannt? Goethes Faust-Epilog
Die Sache ist eigentlich ganz einfach – etwa so: Der große Bruder wettet mit Papa, daß der
kleine Bruder sich mit Schokoeis vollstopfen würde, bis er kotzt. Doch bevor es soweit ist,
platzt Mama dazwischen, stinksauer, zischt: „ihr seit ja wohl völlig bescheuert“, und holt den
Kleinen da weg.
Das Thema des Epilogs ist, modern formuliert: soziale Intelligenz: Wie gehen wir mit Fehlern
um, mit moralischem Versagen, mit menschlichen Unvollkommenheiten – exemplarisch
dargestellt am Fall eines Mannes, der seine Beschränktheit nicht akzeptieren wollte, der ganz
toll sein wollte und mit seinen größenwahnsinnigen egozentrischen Bestrebungen und den
daraus resultierenden Verkennungen und Verblendungen katastrophales Unheil anrichtete. –
Man darf sich nicht irremachen lassen: Der Epilog ist völlig unreligös gemeint! Goethe nutzte
den Volksglauben als die vergängliche Gestalt, in der überzeitliche Ideen historisch ihre Form
finden. So wie der Prolog nichts darüber aussagen will, ob es Gott gibt, will der Epilog nichts
darüber sagen, was wir nach dem Tod zu erwarten haben. Das wäre keine Poesie sondern
Ideologie. - Poesie bedeutet immer: ein Entrücktwerden aus dem Alltag in eine andere
Stimmung, durch sprachliche Bilder, Gleichnisse, Fantasien, durch sprachlichen „Zauber“ aus
Vers, Rhythmus und Wortwahl. – Für Goethe hatten die Figuren der Religionen und ihre
Geschichten offenbar ganz glaubensfrei etwas Poetisches und Fantasievolles. Und er war
bewegt von der Haltung, die ihn aus den Elementen des christlichen Volksglaubens ansprach:
erbarmen statt verdammen, wertschätzen statt verurteilen, integrieren statt ausstoßen. Die
Elemente des Volksglaubens – Engel, Heilige, gute Geister und Muttergottes – bringt Goethe
in all ihrer Beschränktheit, ihrer rührenden, unfreiwilligen Komik, auf die Bühne: auch das
Erlösende ist in seiner historischen Gestalt bedingt und unzulänglich, nicht weniger als die zu
Erlösenden.
Indem er Elemente des Volksglaubens nutzt, knüpft Goethe gleichzeitig an das an, was für
Margarete Realität ist. Das ist eine ebenso große Wertschätzung für Margarete wie für das
„Volk“ – ähnlich wie Goethe in den „Wanderjahren“ aussterbende jahrhundertealte
Handwerkstechniken minutiös beschrieb, in der sich die Findigkeit der vorindustriellen Kultur
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widerspiegelte: als etwas, was von uns erzählt. – Rilke drückt diese Haltung so aus: „Preise
dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht grosstun mit herrlich
Erfühltem; im Weltall, wo er fühlender fühlt, bist du ein Neuling. Drum zeig ihm das
Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet, als ein Unsriges lebt, neben der
Hand und im Blick. Sag ihm die Dinge. Er wird staunender stehn; wie du standest bei dem
Seiler in Rom, oder beim Töpfer am Nil“ (9. Duineser Elegie). – Der Epilog preist das
Menschliche, das findig und geschickt Töpfe, Seile und Madonnenfiguren hervorbringt... – Es
geht darum, aus den Mythen und Märchen das herauszuhören, was darin vom Menschlichen
kündet – die „unreligiösen“ und „zauberfreien“ vorbewußten Motive und Intentionen, die mit
den zauberhaften mythischen Inhalten und Figuren verbunden sind – sowie das rührend
Findige und Beschränkte das an seinen Formen zum Vorschein kommt [1]. - Wenn im
Folgenden von „Gott“ die Rede ist, steht das für das Überindividuelle: entweder für „Natur“
oder für „Sinn“. Das Leben „auf Gott ausrichten“ bedeutet entweder: Kontemplation auf das,
was mich hervorgebracht hat, das als Kraft in mir wirkt; oder: konsequent nach dem Sinn
leben, den mein Leben für Andere und für die, die mich überleben, haben kann [2].
Zum Text
Immer wenn Frauengeschichten gescheitert sind oder durch schuldhafte Verstrickung zu
scheitern drohen, flieht Faust ins Gebirge, um zu meditieren. Gebirge fungiert leitmotivisch
als Sinnbild für Entrücktheit aus den Niederungen der alltäglichen Getriebenheiten in eine
Sphäre der „Öde“: der besinnungsfördernden Abwesenheit von ablenkenden Außenreizen. –
Das Gebirge des Epilogs, an dem Fausts Seele „nach oben“ geführt wird, ist mit heiligen
Einsiedlern bevölkert. Ihre Nähe zu Gott hat offenbar die ganze Region so mit Liebe infiziert,
daß die Löwen zahm wie Miezekatzen herumschnurren. Die Aggressivität ist verwandelt, die
Tage des Zorns sind vorbei.
Die Eremiten: Was ist an Eremiten poetisch? Eremiten sind Aussteiger. Sie haben die
Konflikte des weltlichen Lebens satt. Sie machen das Rennen nach dem Glück nicht mehr
mit. Sie wollen sich nicht von sinnlichen und seelischen Lüsten in ihrem Sinnen und Trachten
beeinträchtigen lassen. Die Eremiten sind ein Sinnbild für größtmögliche Emanzipation von
der eigenen Natur und für Kultivierung von Reflexion. „Kultiviert“ ist Reflexion, wenn sie oft
und stetig genug gepflegt wird, um gestalterischen Einfluß auf das Leben zu erlangen. In einer
duftenden Sommernacht im Gras zu liegen und angesichts des Sternenhimmels einen
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Schauder zu spüren, ist auch Reflexion, die in der Regel aber zu nichts führt. – Ein drastisches
Beispiel dafür gibt es in einer Südsee-Erzählung Jack Londons: Eine Frau denkt darüber nach,
wie sie eine schicke Standuhr finanzieren kann, da kommt ein Tsunami, sie wird auf eine weit
entfernte Sandbank gespült, überlebt dabei nur mit Glück, baut sich aus den angespülten
Trümmern ein wackeliges Floß und schafft es entgegen aller Wahrscheinlichkeit, kurz vor
dem Verdursten, auf ihre Insel zurück. Und als sie sich erholt hat, denkt sie – als wär nichts
gewesen – wieder nur über die Standuhr nach. – Kultivierte Reflexion dagegen zählt eins und
eins zusammen: Sie lässt keine Ignoranz aufkommen gegen die einmal erlebte Relativierung
der fraglosen Sicherheiten und Wertigkeiten des eingelebten Lebenswandels, sondern
erforscht dieses Erlebnis immer weiter und zieht daraus Konsequenzen. – Unsere
„natürlichen“ geistig-seelischen Lebensvollzüge sind bezogen auf unsere Lebensfunktionen:
Triebzielerreichung, Selbstwerterleben, Statusspekulationen: „Was kann ich? Wo steh ich?
Wo will ich hin? Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich mich einbringen und was gibt mir
das für eine Bedeutung, für einen Status? Welche Ziele sind realistisch? Was darf ich wagen?
Was will ich wagen? “ Eine traditionelle Meditationsübung besteht darin, das Kommen und
Gehen solcher Gedanken und Gefühle zu beobachten und immer besser zu erleben, wie
„gegeben“ sie sind, so „ungemacht“ wie Atem und Herzschlag; zu erleben, wie wenig „Ich“
da eigentlich drin ist – und wie wenig ich eigentlich „mache“, was ich hier gerade mache...
Eremiten machen einen Hochleistungssport aus solcher Meditation.
Doch der „Pater ecstaticus“ wirkt seltsam: Inmitten zahmer Löwen ersehnt er nichts
leidenschaftlicher, als zerrissen zu werden. – Möglicherweise schaut sich Faust befremdet
nach ihm um, als er mit den Engeln nach oben zieht, und die Engel sagen: „Ach der! Das ist
unser Ecci. Der hebt manchmal etwas ab, aber sonst ist er ganz o.k.“. – Für Fromme sind
solche Selbstquäler Sinnbild für die Stärke der Sehnsucht nach der Verbundenheit mit Gott
und für die Heftigkeit und Hartnäckigkeit mit der unsere natürlichen und gewachsenen
Bestrebungen von Leib und Seele sich immer wieder gegen Wissen und Willen durchsetzen,
uns egoistisch auf uns selbst beziehen und von Gott abhalten. Die Figur des Paters
veranschaulicht die Wut, die das aufstauen kann, die Wut auf alles, was uns immer wieder
ablenkt von dem, was wir für wichtig und richtig erkannt haben. Das ist genauso, als wenn ich
„Tatort“ gucken will und ständig kommt jemand rein und fragt mich was. Oder wenn ich für
eine Klausur lernen will und mich ständig vom Händi ablenken lasse. Da hilft dann
irgendwann nur noch Schloß und Hammer. Auch das Bibelwort: „Wenn dich dein Auge stört,
reiß es aus und wirf es weit von dir“ ist so zu verstehen. Die Fachleute nennen das:
Stimuluskontrolle. – Die zweiten vier Verse des Paters können geradezu als Versprachlichung
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des Gefühls gelten, das viele rückfällige Abhängige nur allzu gut kennen. Der Volksmund
sagt´s nur schlichter: „Ich könnt mich in den Arsch beißen!“ – Dennoch: die Heftigkeit und
Totalität der Autoaggression des Paters befremden, sie wirken unreif und hoch neurotisch.
Das entspricht nicht dem Prinzip der Natur: „selbst im Großen ist es nicht Gewalt“. Ein
reiferer Mann würde sagen: „Blöd, daß ich noch derart dem Nichtigen verhaftet bin. Aber ich
habe Pflichten, ich kann mich nicht zerschmettern lassen, bloß um das Nichtige an mir ganz
schnell zu verflüchtigen!“ – Das Nichtige zu verflüchtigen, es dem verflixten Leben zu
zeigen, das hat für den Pater Vorrang vor allem Bezug zu anderen Menschen. Es geht ihm
zwar um die „Ewige Liebe“, aber er will ein ganz toller Virtuose der Selbstlosigkeit sein, so
etwas ist nur durch kompromissloses Training hin zu kriegen. Deshalb hat er bis auf weiteres
erstmal gar keine Zeit für die Liebe, für die selbstlose Tätigkeit, um die es der Liebe, die er
glänzen lassen will, eigentlich geht [3]. – Man könnte glatt auf die Idee kommen, daß der
Pater seine Worte der Mater Gloriosa in wachsender sexueller Erregung ins Gesicht schreit,
während sie – als Domina – gerade dabei ist, ihn auszupeitschen. (Ich hoffe, damit habe ich
die Aufführungspraxis gegen diese Inszenierungsidee geimpft. – Hier, auf dem Papier, bei der
Sondierung von Bedeutungsgehalten, ist so ein Bild versuchsweise brauchbar. Auf der Bühne
wäre es unbrauchbar, weil es fragwürdige Nebenaspekte als Hauptaspekt herausstellt, um des
„Effektes“ willen.) Aber selbst, wenn es so wäre, daß der Pater in Wirklichkeit bloß mit seiner
Sexualität nicht klar kommt und seine Selbstkasteiung nichts anderes wäre als eine perverse
sexuelle Ersatzhandlung, selbst wenn es so wäre: dann käme es nicht auf diese
Motivationslage an, sondern darauf, was daraus entsteht. Da, wo Löwen zahm sind, dürfen
alle unzulänglich bleiben, ihre Unzulänglichkeit wird als „ready made“ Ereignis: etwas
Einzelnes, an dem sich etwas Allgemeines abzeichnet, etwas, das uns über uns selbst belehrt,
über die Kräfte, die in uns wirken, und die Bedingungen, unter denen sie sich verheddern… –
Abgesehen davon griffe eine rein sexuelle Lesart zu kurz, weil nicht nur Triebhaftigkeit
sondern auch Narzismus gemeint ist: der Pater will seine Triebe ebenso wie seine stolzen
Selbstdefinitionen zerschmettern. – Er ist vielleicht aus Verzweiflung so extrem, weil er das
in der Extremität liegende Paradox entdeckt hat: daß er ganz stolz darauf ist, fähig zu sein,
seinen Stolz so kompromißlos zu zerstören…
In seiner Gewaltsamkeit und Selbstbezogenheit gleicht der Pater dem Faust vom Beginn des
Dramas. Seine Worte haben eine entfernte Sinnverwandtschaft mit Fausts „Flucharie“. Und
falls Faust im Vorüberschweben befremdet auf den Pater blickt, erblickt er eigentlich nur
einen Teil seiner selbst… – Autoaggression als Abwehr von Schuldgefühlen: darin ist der
Pater aber auch Margarete verwandt, die eine Chance zur Flucht hatte, aber ihre Hinrichtung
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freiwillig auf sich nahm! (Einem Teenager kann man allerdings zugestehen, durch so schwere
Schuld überfordert zu sein und „unreife“ Formen der Schuldbewältigung vorzuziehen – zumal
sie niemanden hatte, der ihr beistand: Margarete war eine Geächtete! Nachdem Faust ihre
Mutter und ihren Bruder umgebracht hatte, hatte sie niemanden mehr, der sie gegen ihre
Selbstvorwürfe in Schutz nahm und sie bei der Bewältigung ihrer vernichtenden
Schuldgefühle unterstützte, z.B, dadurch, die Psychodynamik richtig einzuschätzen, in die sie
hineingeraten mußte, nachdem Faust sie schwanger sitzen gelassen hatte, in einer Welt, in der
Normverletzungen zu einer Soziodynamik führen, die nette harmlose Mitbürger in einen
unbarmherzigen Piranjaschwarm verwandelt.)
Der Pater Profundus ist auch noch selbstbezüglich: die Kräfte der Natur sollen die Wunden
heilen, die das Leben seiner Seele geschlagen hat. Aber im Unterschied zu seinem Kollegen
bezieht er die Naturgewalten nicht allein auf sich: der Blitz soll nicht nur ihn „entzünden“,
sondern auch „die Athmosphäre verbessern“. – Sein „Inneres“ ist in einem Zustand, den Faust
sehr gut kennen müßte: „verworren, kalt, verquält in stumpfer Sinne Schranken, scharf
angeschlossenem Kettenschmerz“. Das gleicht dem „garstigen Wirrwarr netzumstrickter
Qualen“, dem Faust nach Heimsuchung der Sorge nicht anheimfallen will. Aber während
Faust nicht interessiert, woher das „innere“ Licht kommt, möchte der Pater von etwas
äußerem „entzündet“ werden und er wendet sich an Gott. Er sucht Interaktion wo Faust sich
in einsames, von sich selbst eingenommenes Schaffen flüchtete.
Der Pater Seraphikus ist nicht mehr mit sich selbst beschäftigt, er kümmert sich um andere:
um die seligen Knaben, blinde und unwissende Geister direkt nach der Geburt verstorbener
Kinder. Der Pater ist empathisch und solidarisch: die desorientierten Knaben werden ihm
sofort zu einem Anliegen. Aber er kann sie auch problemlos wieder loslassen, als sie
signalisieren, daß er nicht die richtige „Kur“ für sie hat. Dadurch erweist er sich als reif, im
Gegensatz zu Faust, der seinen in die Freiheit drängenden Sohn fest zu halten versuchte: „Nur
mäßig, mäßig, nicht ins Verwegene! Daß Sturz und Unfall dir nicht begegne, zugrund uns
richte der teure Sohn!“ (Und Helena, sicher im Sinne Fausts: „O denk o denke, wem du
gehörest, wie es uns kränke, wie du zerstörest das schön errungene Mein, Dein und Sein!“) –
Der Pater dagegen ist fürsorglich, ohne damit einen selbstbezüglichen Zweck zu verbinden, er
braucht es weder, ein ganz toller Pflegevater zu sein oder ganz tolle Pflegekinder zu haben,
noch braucht er es, gebraucht zu werden. (In der Psychotherapie nennt man das:
„therapeutische Abstinenz“. Sie ist nicht selbstverständlich sondern muß in der Regel in der
Selbsterfahrung während der Ausbildung und berufsbegleitend durch Supervision
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vervollkommnet und erhalten werden. - Der Pater Seraphikus hat diese Einstellung offenbar
durch seinen „Reflexionssport“ erreicht.)
Wir zeigen unseren Kindern unsere Welt. Und wenn sie unsere Welt furchtbar finden, müssen
wir bereit sein, daß sie uns einen Strich durch die Rechnung machen; und das ist gut so, denn
die Zukunft ist ihre Zukunft, nicht mehr die unsere.
Die Engel: Engel sind gute Geister: Personifizierungen von Natur- Kultur- und Seelenkräften,
die uns und unser Bewußtsein übersteigen, Kräfte, die von unseren Vorfahren (den
„Erfindern“ der Engel) als Potentiale erfahren wurden, ins „implizite Gedächtnis“ eingingen
und dort intuitive Erwartungen ausbildeten, die oft genug bestätigt wurden, um den Glauben
zu ermöglichen, daß Wesen dahinterstecken, zu denen eine personale Beziehung möglich ist:
Wesen, die man bitten kann, die einem wohlgesonnen sind, auf die man sich verlassen kann
usw. – Ein solches Wirken von „Engeln“ erleben z.B. Musiker und Lastwagenfahrer: Viele
Musiker berichten von Erlebnissen, plötzlich ein Stück so „beflügelt“ gespielt zu haben, wie
sie es selbst nie für möglich gehalten hätten. - Und Lastwagenfahrer staunen manchmal
darüber, wie sie aus einer schwierigen Rangiersituation, in die sie unversehens gerieten, schon
wieder heraus sind, ohne einmal eine Lenkbewegung korrigiert zu haben und bevor ihnen
wirklich bewußt werden konnte, daß sie, wenn genug Zeit gewesen wäre, geglaubt hätten, ihre
ganze Konzentration dafür aufbringen zu müssen.
Die vollendeteren Engel: Zunächst muß die Zuständigkeitsfrage geklärt werden, und nach
dem sie Faust an ausgestreckten Armen mit zwei Fingern hochgehoben und mit gerümpfter
Nase begutachtend hin und her gewendet haben, wird beschieden: „Nee, sowas machen wir
hier nicht, das muß in die Reinigung“. Es gibt offenbar ein Problem mit den Erdenresten:
Fausts Geist hat sich im Leben verunreinigt durch das „Heranraffen der Elemente“: Durch die
Erfolge getriebenen Wirkens („raffen“) entstand Faust eine Illusion von der eigenen
Vorzüglichkeit. Solche Illusionen sind um so stärker, je stärker der Geist ist, je mehr Erfolg er
schaffen und sich darin gefallen kann, und je weniger er realisiert, welche Defizite an
bewußter Gestaltung seine Lebensführung aufweist, wie sehr er Trieb und Stolz auf den Leim
geht [4]. – Faust ist ein überdurchschnittlicher Mensch. Das weiß er. Und er findet das ganz
toll und hält sich für total wichtig. Das ist eine Schwäche, die, wie Goethe uns vor Augen
führt, fatale Folgen haben kann, die aber sehr menschlich und nachvollziehbar ist. Doch
Engel, vor allem vollendetere, müssen das natürlich höchst unfein finden, sie ekeln sich wie
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Polizisten vor einem verwahrlosten Obdachlosen und fassen ihn wahrscheinlich nur mit
Handschuhen an. – Was die „ewige Liebe“ von Faust „scheiden“ soll, ist die illusionäre
Bewertung seiner Überdurchschnittlichkeit. Je größer der Stolz, die Selbstliebe, je schwerer
ist der Abschied davon: die desillusionierende Erkenntnis, wie wenig es auf das Ego und was
es geschaffen hat, ankommt. – Die angerafften Elemente sind das, was „triebhaft“, d.h. ohne
bewußte Gestaltung, realisiert wurde: das Wirkliche der Persönlichkeit, gezeichnet mit all den
Beschränktheiten und Irrtümern dessen, der es verwirklichte. – Die Unvollkommenheit Fausts
bestand in seinem Bestreben, der Welt seinen Stempel aufzuprägen, ohne zu fragen, ob die
das will. Er hatte eine Einstellung, die vor seinem Selbstbild sicher keinen Bestand gehabt
hätte, wäre sie ihm bewußt gewesen: „Ich muß meinen Potentialen Sinn geben, egal wie ich
dadurch die Chancen der anderen, ihren Potentialen Sinn zu geben, beeinträchtige oder
zerstöre. Hauptsache, ich habe es geschafft, meinen Potentialen Sinn zu geben!“ – Faust
will für die zukünftige Menschheit etwas ganz Tolles schaffen, statt mit ihr. Dieser Zug seines
Egos hat ihn vom Wissenschaftler zum Ingenieur werden, das „Wissen“ durch das
„Brauchen“ ausspielen lassen („was man nicht weiß, das eben bräuchte man“). Das „mit“
würde sein Ego kränken: In der generationenübergreifenden wissenschaftlichen Gemeinschaft
ist man ja nur einer unter anderen! Und die eigene Leistung landet schließlich in der Abfolge
der „Paradigmen“ auf dem Schrotthaufen der Wissenschaftsgeschichte. Nein, Faust reicht es
nicht, daß sein Sohn „zu höherem Ziel“ gelangen kann, er will selbst ein unüberhöhbares Ziel
schaffen. Deshalb braucht er auch keinen Sohn – und wenn, dann bestimmt nicht dafür, daß
der sein eigenes Leben hat! (In dieser Hinsicht ist der Fachidiot Wagner in seiner Jugend
natürlich-schlichter, „weiser“ als Faust – er verliert diese Weisheit jedoch offenbar, wenn er
schließlich glaubt, Ingenieurs- und Wissensleistungen koppeln zu müssen, indem er Gehirne
selber macht.)
Fausts Geisteskraft ist stark, aber nicht reinlich. Derartige Möglichkeiten des „Irrens“ sind
konstitutiv für intelligente Lebensformen. Es ist ein Zug ihrer Natur und deshalb genauso
wenig bewertbar (und „verdammenswert“) wie alles Natürliche. – Wenn selbst die
vollendeteren Engel Faust nicht helfen können und ihn nicht an noch vollendetere Geister
weiterreichen, sondern im Gegenteil: an die denkbar unvollendetsten (aber auch
unverbildetsten), dann heißt das soviel wie: Ego-Illusionen sind nicht behandelbar. – Wir
können uns durch Solidarität, durch „Verzeihen“ und „Gnade“, gegenseitig den Teufeln
entreißen, die „Verdammung“, den Ausstoß aus der Gemeinschaft, unterbinden, und die
„Gefallenen“ zurück „ins Boot“ holen, aber die „Läuterung“ müssen sie selbst vollziehen –
und zwar durch Ansätze einer neuen Einstellung zu den anderen Menschen, einer Einstellung,
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die ihnen gestattet, kooperativer, sozial intelligenter und verständigungsorientierter zu
handeln und neue soziale Erfahrungen zu machen, Erfahrungen, durch die die Elemente
„falschen“ Stolzes nach und nach entbehrlicher werden. Erst ihre Entbehrlichkeit ermöglicht,
daß sie sichtbar und bearbeitbar werden, weil sie erst jetzt, wo sie entbehrlich sind, in ihrer
Falschheit eingestanden werden können. – Die natürliche egozentrische Illusionsneigung
können wir nur durch generationenübergreifende Prozesse der Zivilisation abschwächen,
durch neue historische Lernniveaus. Individuell minimieren können wir die Folgen unserer
noch undurchschauten Ego-Illusionen jedoch, in dem wir die Ausrichtung auf die Zukunft
ändern: Indem wir nicht Zukunft planen und festlegen wollen sondern indem wir unsere
Erfahrungen weitergeben, und nicht allein durch Reden sondern durch die Qualität der
Beziehung zur nachwachsenden Generation unser historisch erreichtes ethisches Niveau
überliefern. Es geht um mehr und um gelingendere Verständigung mit unseren Kindern.
Dadurch wird der paradoxe Effekt unwahrscheinlicher, daß wir durch unser Engagement
genau demjenigen Schaden zufügen, für das wir uns engagieren. Wir neigen dazu, zu
selbstbezogen zu sein in unserem Willen, nicht selbstbezogen zu sein. Aus all diesen Gründen soll Faust ein selbstloser Lehrer der seligen Knaben werden. So
selbstlos wie der Pater Seraphikus. – So putzmunter wie die Knaben sind, ist das vielleicht
schlimmer als Fegefeuer, und Faust wird irgendwann wie mancher Lehrer oder Sozialarbeiter
stöhnen: „Ich bin von allem geheilt!“
Die Mär von den „seligen Knaben“ auf die Bühne zu bringen, gehört wohl zu den
verrücktesten Einfällen Goethes. Es ist ein vieldeutiges Bild:
(1) Die seligen Knaben leiden unter einer „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. Darin
erinnern sie an Homunkulus und Euphorion. Und wie die beiden, sind auch die Knaben ganz
schön krekel und ansprüchlich: Sie wollen nichts Geringeres als Gott schauen. Der frühe Tod
hat sie von allem abgeschnitten, mit dem sie eine Chance gehabt hätten, sich selbst einen Weg
zu Gott zu bahnen, jetzt lümmeln sie sich hier herum, um per Anhalter dahin zu gelangen.
(2) Sie packen den verpuppten Faust aus, wahrscheinlich sind sie neugierig, was drin ist.
Jedenfalls staunen sie, wie er plötzlich wächst – und das ist ihr Werk: sie reißen seine
Verpuppung herunter, seine Luxusklamotten und seine Altersmaske, und heraus kommt: ein
Jüngling. – So „enthüllt“ fällt von Faust ab, was ihn ans irdische Leben, an Trieb und Stolz
bindet. Mit dieser Distanz, diesem “ungetrübten“ Blick kann Faust seine Fehler und sein
Scheitern analysieren („Konfrontation“ nennen es Psychotherapeuten), und daraus eine
„echte“ Lehre ziehen, nicht eine „leere“, mit denen er die seligen Knaben höchstens „an der
Nase herumziehen“ könnte. – Auch in diesem Sinne (als „Fehler aus denen man klug wird“)
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wird das Unzulängliche „Ereignis“.
(3) Stellt man sich die Szene inszeniert vor, sieht man, wie Kinder einen alten Mann jung
pflegen. Als ob der alte Goethe seine „pädagogische Provinz“ dialektisiert und sich gefragt
hätte: Wie fördert die Beziehung zu Kindern unsere persönliche Entwicklung? (In jedem Fall
nur dann, wenn wir die Beziehungen zu Kindern nicht für unsere persönliche Entwicklung zu
instrumentalisieren versuchen! Nur Leute wie der ungeläuterte Faust oder der Pater Ecstaticus
würden meinen, unbedingt mehr Kontakt zu Kindern haben zu müssen, um ihre
Persönlichkeit zu entwickeln und ganz toll zu werden...) – Säuglinge haben ein angeborenes
„Programm“, Beziehung zu stiften und zu gestalten. Sie sind nicht so hilflos, wie immer
angenommen, sondern ziemlich „kompetent“ (Dornes 1993). Kinder sind sozusagen
biologische Beziehungs- und Lerngeneratoren. Wir verändern uns durch das, was die Kinder
in uns mobilisieren an sozialer Erkenntnis und Bereitschaft, und an Hinterfragen des
Gegebenen angesichts der heranwachsenden Zukunft mit ihrem unverstellten neuen Blick.
Kinder sind Desillusionierer („Des Kaisers neue Kleider“). Wie erschien uns denn die
Erwachsenenwelt als wir Kinder waren? Wir bewunderten die Erwachsenen für ihre Stärke
und Tapferkeit aber wunderten uns auch über ihre Beschränktheit. Sie hielten sich für
Realisten. Doch meist erkannten sie das Mögliche nicht und übersahen das Wunderbare. Und
wie schienen sie selbst beim Staunen über das Wunderbare vom Wunderbaren seltsam
abgelenkt! Sie schienen mehr über ihr Staunen zu staunen! – Mit jedem Kind wächst eine
neue und einzigartige Sicht auf die Welt heran... – („Überall reget sich Bildung und Streben“:
Goethe stellt die „seligen Knaben“ so krekel und aktiv dar, dass man glauben könnte Goethes
Sinn für Leben und Wachstum hätte ihm eine Intuition von Säuglingen gestattet, die
Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung vorwegnimmt.)
(4) Die „Ewige Liebe“ ist eine tolle Kraft: Sie „entfaltet“ Sensibelchen wie die Seligen
Knaben, die nichts abkönnen, aber an Kalibern wie Faust schafft sie es, die ärgsten
Verunreinigungen zu beseitigen, die selbst die Engel nicht weg kriegen. Und das Beste ist: Sie
entsteht emergent durch Unzulänglichkeit: Die Knaben sind unzulänglich, weil völlig
ahnungslos. Faust ist unzulänglich, weil völlig verblendet. Diese beiden Parteien werden jetzt
inspiriert, eine Selbsthilfegruppe der Unzulänglichen zu gründen. Und darin entsteht als
Synergie Ewige Liebe. Eingearbeitet wird Faust allerdings erst noch von Margarete. – Das ist
schon irre: Faust, der große Wissenschaftler, der Topmanager, der mächtige Magier, der
innovative Staatsgründer, der hoch Lebenserfahrene: er wird gehegt von den Seligen Knaben
und belehrt von Margarete, einer jungen Frau, die die große Welt bestenfalls vom Fernsehen
kennt (sie hat vom Himmel aus zugeschaut). – Dabei wird Fausts Potential durchaus
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hochgeschätzt („er wird uns lehren“). Aber für das, um das es bei Fausts Weiterentwicklung
geht, ist dieses Potential offenbar irrelevant. Bezüglich dessen, was für Fausts
Weiterentwicklung jetzt notwendig ist, haben Kinder und junge Leute mehr drauf als tüchtige
Lebenserfahrene – ja, selbst noch mehr als Engel!
(5) Die Knaben finden es toll, einfach bloß da zu sein. Sie haben ein Ziel, aber gehen es ganz
gelassen („cool“) an, ohne Ungeduld, sie müssen weder sich noch anderen etwas beweisen
und sie sind zuversichtlich, ihr Ziel erreichen zu können und müssen nicht fieberhaft
getrieben tätig sein und ihre Tätigkeit ständig im Hinblick darauf auswerten, ob sie das
erreichen, von dem sie glauben, daß sie nur dann ganz toll sind, wenn sie es erreicht haben. –
Sie verbinden Genuß des Augenblicks mit Streben zur Höherentwicklung. – Sie sind das
Gegenkonzept zu Fausts Dichotomie von Streben und Genuß und das reine Gegenkonzept zu
Mephisto, der es blöd findet, daß es überhaupt etwas gibt und nicht nichts.
(6) Die Knaben sind aber auch ein Sinnbild dafür, wie die Kinder die Beziehung zu
Erwachsenen wollen, brauchen und anfordern, und welchen Sinn uns Erwachsenen das gibt.
Etwa so: Faust brütet im Büro über seine Landgewinnungspläne, die zwar sicherlich einen
Fortschritt darstellen aber nicht so dringend vorangetrieben werden müssen, daß es sinnvoll
wäre darüber alle Pflichten gegen die Menschen in seiner Umgebung zu ignorieren – und
dann kommen die Bengels und zerren ihn raus zum Fußballspiel – sie fordern einfach an, was
sie brauchen und was ihr Recht ist. – Darin liegt keine Ansprüchlichkeit sondern große
Anerkennung und Wertschätzung für die Erwachsenen. Wir sollten doch froh sein, wenn die
lebendige Zukunft mit uns was anfangen will, statt uns an unseren Schreibtischen hinter den
Stapeln unserer leblosen papierenen Zukunftspläne zu verschanzen, von denen wir gar nicht
wissen, ob unsere Kinder und Enkel das Geplante überhaupt haben wollen! – Aber
wahrscheinlich werden wir den Wert des Kontaktes zu unseren Kindern erst in dem Maße
erkennen, wie die jungen Leute im Netz unter sich oder mit Pc-spielen für sich bleiben und
den Kontakt zu uns Erwachsenen wegen der Unbeholfenheit unseres Interesses an ihnen nur
noch als langweilig erleben.
(7) Es soll vielleicht nicht alles erdeutet werden. Der Dichter hat uns mit den "seligen
Knaben" einfach aufgegeben, über das Leben nachzudenken angesichts eines Kindes, das bei
der Geburt stirbt. Eine Meditation über Leben und Dasein ausgehend von unserer Berührtheit
bei der Vorstellung einer entgangenen Existenz, einer vorenthaltenen Chance, den eigenen
Potentialen Sinn zu geben, die Kräfte des Lebens zu erleben und die Fragen des Daseins zu
stellen. („Den Tod, den ganzen Tod noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös
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zu sein, ist unbeschreiblich“ (Rilke, 4. Duineser Elegie).) – Auf diese Weise sind die seligen
Knaben „für die Engel“ (für unsere geistige Kultur) „zum Gewinn“.
Mater Gloriosa: Schwere psychische Störungen gehen nach dem Stand unseres Wissens auf
eine schwer gestörte frühkindliche Interaktion zwischen Kind und Eltern zurück. Wenn wir
von der Anzahl der Menschen, die unter so einem schweren Schicksal leiden müssen,
absehen, können wir davon ausgehen, daß weit über 90 % aller Menschen mit einer
„instinktiven“ Erwartung ausgestattet sind, verläßlich Schutz, Versorgung und Trost finden zu
können bei Mamma oder etwas Mamma-Artigem. – Die christliche, von Männern dominierte
Religion, hatte gegen Mamma keine Chance: Subversiv haben sich die antiken
Muttergottheiten mit gefälschtem Marienausweis als illegale Einwanderer in die
monotheistische Männerwelt geschummelt und dort weit mehr Bedeutung bekommen, als den
Kirchenvätern lieb war. „Maria breit den Mantel aus, mach Schutz und Schirm für uns daraus,
laß uns darunter sicher stehen, bis alle Stürm vorübergehen“ – auf ähnliche Weise erwarten
schon die Jungen der niedrigsten Säugetiere, daß auf ihr Piepsen Mamma herbei eilt und ihr
Fell über sie ausbreitet. Kein Wunder, daß gegen einen stammesgeschichtlich so archaischen
„Instinkt“ die frommen Väter machtlos waren.
Die Mater Gloriosa ist in der Volksfrömmigkeit der Inbegriff der mütterliche Liebe: Sie heilt
Krankheiten, hilft gegen Naturkatastrophen und mildert die Strenge ihres richtenden Sohnes:
Es gibt Darstellungen, wie sie beim jüngsten Gericht heimlich auf die Waagschale drückt,
damit der Sünder nicht in die Hölle muß.
Die Verehrung von Jungfräulichkeit wirkt für uns heute abstrus. Aber Jungfräulichkeit ist eine
Chiffre für Distanz: Maria hat dadurch, daß sie nicht alles „Natürliche“ mitmacht, Distanz zu
sich und anderen, sie ist nicht verstrickt in Beziehungsgeschichten, und sie ist nicht verstrickt
in den natürlichen Egozentrismus. Sinn überwiegt Genuß. So kann sie unparteiisch sein und
für andere da: die Mutter aller. (Das erinnert an Lars Lehmanns Geschichte „Die Revolte“ mit
ihrer Vision einer Überwindung des „genozentrischen Weltbildes“.)
Dr. Marianus ist die Verkörperung der Sublimationsfähigkeit: Er widmet sein Leben einer in
jeder Beziehung unerreichbaren Frau. Er verkörpert eine Botschaft, die wir heute nicht gerne
hören: Verzicht lohnt sich, man muß nur wissen, wie. – Für Kaufleute ist das eine
Horrorbotschaft und sie tun alles dafür, sie nicht unters Volk kommen zu lassen, deshalb hat
das Wort „Verzicht“ in unserer heutigen, durch Kaufleute geprägten Kultur, einen so unguten
Klang, es klingt nach Altklugheit und neurotischer Selbstkasteiung. –
Die Worte des Doktors an die Muttergottes können wir so umschreiben: „Laß mich schauen,
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wie man das macht, richtig zu lieben. Und solange wir´s nicht begriffen haben, billige bitte,
was wir Kerls an Liebe leisten können. Schau doch, wie sehr wir eigentlich für die Liebe
gemacht sind: wie stark sie uns anstachelt und befriedet.“ – Rilke spricht das so aus: Die
Frauen „haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen
Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat
ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit
seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt
Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. … Aber nun, da so vieles anders
wird, ist es nicht an uns [Männern], uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein
wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach
und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen
geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und freut und
nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenen,
schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen
im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir
ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?
Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert?“ (Rilke 1996).
Exkurs zu einer Textstelleninterpretation: Wer ist die gute Seele, die sich einmal vergessen
hat? Faust oder Margarete? Wie kommen die Interpreten darauf, es sei Margarete? Wie passt
das denn: sie ermordet ihr Baby und ahnt nicht, daß das falsch ist? Selbst wenn gemeint wäre,
daß sie im Affekt nicht wußte, was sie tat, klänge es komisch, hier das Wort „ahnte“ zu
verwenden. Die Zuschauer wären irritiert und müssten nachdenken, wie das passt: daß eine
Mutter ihr Baby ermordet und keine Ahnung hat, daß das nicht gut ist. Bis die Zuschauer sich
das zusammengereimt haben, haben sie die nächsten Verse verpasst. – Natürlich könnte man
argumentieren: als sie ihr Kind ermordete hat sie sich vergessen und als sie sich mit Faust
liebte, ahnte sie nicht, daß sie daß das falsch war. Und wegen des Versmaßes kann man das
sprachlich nicht anders darstellen, daher scheint es nur so, daß das „nicht ahnte“ ein Zusatz zu
„vergessen“ ist. – Gut. Aber abgesehen davon, daß ich zweifle, daß irgendein Zuschauer beim
ersten Hören dieser Verse darauf kommt, tritt eine weitere Irritation ein: Hier geht’s doch um
Faust! Was soll jetzt auf einmal der Sündenablaß für Margarete? Ihre Sünde ist ein halbes
Jahrhundert her! – „Ja, das heißt nix, im Himmel gelten andere Zeitregeln, das kann man gar
nicht miteinander vergleichen!“ – Schön. Das ist eine Zusatzannahme, die eine weitere nach
sich zieht: Margarete stellt fest, daß Faust vom „neuen Tag“ geblendet ist. Ihr scheint dieser
Tag also nicht neu. Das müßte dann erklärt werden. – Und was wär das für ein wenig
12
vertrauenerweckendes Verhalten: Kaum haben die andern für mich um Verzeihung gebeten,
schmiege ich mich an meine Verzeiherin an und bitte um Verzeihung für meinen Freund, der
noch viel schlimmere Dinge auf dem Kerbholz hat als ich? Das Anschmiegen Margaretes
wäre viel verständlicher, wenn zwischen ihr und der Mater Gloriosa schon länger ein
ungetrübtes Verhältnis wäre, nicht erst seit einem Augenblick. – Und die schweben doch alle
zu Faust hin, der ist doch das Ziel, warum erst noch ein Begnadigungszwischenspiel? Haben
die sich gedacht: „Den Fall Margarete können wir erstmal zurückstellen und dann, auf dem
Weg zu Faust, bitten wir für die gleich um Verzeihung mit!“ – Und wenn Gott Faust für das
Exemplar eines guten Menschen hält (Prolog), dann darf er hier von den Büßerinnen als „gute
Seele“ bezeichnet werden, das ergäbe sich allein aus der gebotenen Solidarität unter Büßern –
abgesehen davon könnten die Büßerinnen das „dieser guten Seele“ auch ironisch betonen.
Daß die Büßerinnen für Faust bitten und nicht für Marga, hat auch szenischen Sinn: Die
Büßerinnen inclusive Margarete schweben schon eine ganze Weile mit der
Muttergottes zusammen einher: Erst runter um die leichenfleddernden Teufel mit Rosen zu
beschmeißen, jetzt wieder hoch. Wieso bitten sie erst hier um Gnade für eine der
Schwebegefährtinnen? Ist im Tal zu dicke Luft? Daß für Margarete gebeten würde, hätte
szenischen Sinn, wenn die Büßerinnen die Muttergottes hier treffen würden. Etwa so:
Margarate kommt mit ihren Schuldgefühlen nicht klar, wendet sich an Profi-Büßerinnen, die
wissen sich auch keinen Rat mehr und sagen schließlich: „Du mußt unbedingt Maria treffen,
die kann dir weiterhelfen. Die schwebt da gerade im Gebirge rum um so´nen schmierigen
Kerl zu erlösen.“ – Daß die drei Profi-Büßerinnen zusammen ihre Bitte vorbringen, muß nicht
heißen, daß sie für die vierte, Margarete, bitten, sondern ergibt sich aus dem Zusammenhang:
Welchen Aussagewert hätte es, wenn Margarete sich für Faust einsetzte? Sie ist befangen
gegenüber ihrem ehemaligen Geliebten! Da denkt doch jeder: „Ist doch klar, die will ihn
wiederhaben, die stecken doch buchstäblich unter einer Decke!“ – Die Alt-Büßerinnen haben
dagegen kein persönliches Interesse an dem Kerl. Der kann ihnen völlig egal sein. Doch sie
haben ein ganzes Wochenende Stinkrosen gebastelt und ihre Begnadigungsperformance
ausgearbeitet und sind jetzt stundenlang im kalten Gebirge rumgeschwebt, um die Teufel zu
beschmeißen und ihr Gnadengesuch loszuwerden. Die hätten es sich vor dem Fernsehschirm
des Himmels wirklich bequemer machen und all die Fortsetzungsserien der menschlichen
Kommödie weiterschauen können. Allein aus Solidarität haben sie sich für den armen Sünder
engagiert. Ihre Bitte hat einen ganz anderen Aussagewert als die Margaretes! Hinzu kommt:
Sie sind Meisterinnen im Büßen, Margarete ist Azubine. Sie sind Prommi-Büßerinnen,
Margarete eine no-name-Büßerin. Würde Margarete mitbitten, könnte die Muttergottes
13
denken: „Was will die überhaupt, die weiß doch noch gar nicht, was Buße wirklich ist, wie
will die einschätzen, was es bedeutet, so´n Kerl wie Faust, mit so ner riesen Bußlast ins Boot
zu holen! Noch von nix ne Ahnung haben und gleich glauben, mit bitten zu können mit den
Meisterinnen! Da könnte ja jede kommen!“ – Meine Annahmen haben gegenüber den anderen
Annahmen eine szenische Entsprechung: Die drei Büßerinnen exponieren sich als PrommiBüßerinnen. Sie heben sich so stark ab, daß die Zuschauer sich nicht fragen müssen: „Warum
bittet die eine nicht mit?“ –
Daß Margarete die gute Seele ist, darauf sind die Philologen wahrscheinlich gekommen, weil
der Dr.Marianus die Mater Gloriosa für die Büßerinnen wegen einer „Schwachheit“ um
Gnade bittet, die sehr an Margaretes Verführbarkeit erinnert: Blick, Gruß und „der Rede
Zauberfluß“. – Gut. Aber dem steht entgegen, daß nicht einsichtig ist, weshalb die bis jetzt auf
Margaretes Begnadigung gewartet haben sollten – zumal sie ja – im Gegensatz zu Faust –
bereits Verantwortung übernommen hat und längst als „Gerettet“ klassifiziert worden ist. –
Oder soll das heißen: Wen Gott gerettet hat, dem hat die Muttergottes noch lange nicht
verziehen? Was für eine nachtragende Tante wäre sie dann! – Zudem hat die Anspielung des
Eremiten hier auch noch einen anderen möglichen Sinn: Indem er aus seiner Sicht noch
einmal die Große Mutter um Verständnis für Margarete bittet, lädt er – für alle Fälle –
Margaretes Gnaden-Guthabenkonto auf: Je mehr das Verständnis für Margaretes Fehltritt als
menschlich-allzumenschlich bekräftigt wird, desto gebebereiter wird Mamma für Margaretes
Wünsche. Das kann Margarete für Faust gut brauchen, mit dem sich der Doktor hier offenbar
identifiziert (als Kerl und Kollege).
Schließlich: was soll dagegen sprechen, daß die Büßerinnen Faust meinen? Die sind so nah
dran, daß sie den armen Sünder am Ohr unter die Augen der Gottesmutter ziehen können.
Zudem soll die Gottesmutter ihm nur ja nicht mehr Verzeihung gewähren, als angemessen. –
„Angemessen“: Das Wort sticht heraus, wegen seines aggressiven Gehaltes: Ein Maß
begrenzt. Würde sich das auf Margarete beziehen, klänge es nach schwelendem Zickenkrieg:
„Die darf dann aber auch nicht mehr kriegen als wir!“ Die Interpretation, daß die Büßerinnen
sich für Margarete einsetzen, ist schon immer über das „angemessen“ gestolpert: Zu soviel
Mitgefühl, wie Margarete auslöst, passt solche Knauserigkeit nicht. Das ließ die Philologen
einen Schreibfehler vermuten: daß es „un-“ statt „an-gemessen“ heißen sollte. Ein weitere
Zusatzannahme. Und eine blöde: Es entgeht die Pointe, daß im Himmel zwar Gnade vor
Recht ergeht, aber nicht grenzenlos! Die Löwen sind zahm aber nicht zahnlos. Die haben
professionelle Sozialarbeiterinnen dort, keine unprofessionellen!
Und falls Goethe wirklich Margarete gemeint haben sollte, ist er selbst schuld: warum hat er
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das nicht hingeschrieben? Das wäre einfach eine Panne, einen simplen Sachverhalt so
unzureichend auszudrücken, daß Generationen von Gelehrten scharfsinnig spekulieren
müssen und keine eindeutige Lösung finden [5].
Fausts Erlösung: Faust ist nicht irgendein Streber. Sondern er strebt nach persönlicher
Entwicklung, nach Desillusionierung. („Kannst Du mich schmeichelnd je belügen, daß ich
mir selbst gefallen mag...“) Dem widerspricht nicht, daß er sich ständig in Illusionen verrennt.
Er ist bereit zur Desillusionierung, aber diese Bereitschaft allein desillusioniert nicht. –
Was interessiert schon, wovon Goethe persönlich überzeugt war? Ob er glaubte, daß nur
Streber erlöst werden können, kann uns ganz gleichgültig sein. Und wen die unvollendeten
Engel erlösen können und wen nicht, das braucht uns auch nicht zu interessieren.
Psychopathen, die sich immer für großartig halten und nicht das geringste Interesse daran
haben, sich strebend zu bemühen, und die ohne mit der Wimper zu zucken einen Pakt mit
dem Teufel eingehen würden, weil sie wähnen, auch dem am Ende noch überlegen zu sein,
oder weil sie gar keine Fähigkeit haben, Zukunft zu antizipieren – solche Leute können sicher
nur von erfahrenen Meister-Engeln erlöst werden. Bei jemandem wie Faust, der schon soviel
mitbringt, ists einfach, da kann man die Azubis und Gesellen ran lassen. (Die Anfängerengel
könnten stolz jubeln: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen!“ )
Entscheidend ist: Die Mater Gloriosa durchkreuzt die Zockereien der Herrn, weil sie weiß,
was relevant ist: „Wie entgleitet schnell der Fuß schiefem, glatten Boden!“ Wir tun immer
leicht so, als seien die Böden der andern nicht schiefer als unsere eigenen. Aber wie schief der
Boden wirklich ist, auf den das Schicksal einen Fuß setzt, kann kein anderer Fuß ermessen.
Der Philosoph L.Wittgenstein fand ein anderes Gleichnis dazu: „Du erinnerst mich an einen
Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen
eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß
dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält“ (zitiert nach Mc Guinness
1992).
Möglicherweise ist die moralische Güte bei allen Menschen gleich, nur die Gewichte und
Gegengewichte im Spiel der Kräfte, Zug und Gegenzug, Trieb und Sinn, sind unterschiedlich
ausgeprägt. – Wir werden wahrscheinlich nie wissen, ob es einen freien Willen gibt oder
nicht. Da wir es nicht ausschließen können, dürfen wir es annehmen. Aber wenn es ihn gibt,
ist sein Hebel bei vielen Lasten absolut zu klein – und die meisten anderen Lasten kann er nur
stemmen, wenn er an einem Punkt angesetzt wird, wo die Hebelgesetze ihm günstig sind –
und so einen Punkt muß man erst mal finden oder durch Abbau und Umverteilung der
Gewichte schaffen... (Das ist z.B. eine Aufgabe der Suchttherapie.) Jedenfalls: Wir können
15
nie wissen, ob jemand nicht besser gewollt oder nicht besser gekonnt hat. Moralische Urteile
sind nicht möglich [6]. – Diese Erkenntnis ist relativ neu. Das alte Testament kennt sie noch
nicht. Das neue schon. Vorher gab es sie schon in Griechenland (Theorie vom Verlust der
sittlichen Einsicht) und Indien (Buddha). Der Gott des alten Testaments ist noch zornig und
hält Rache, verbrämt als Strafe, für eine Tugend, sofern die Regel „Auge um Auge“ gewahrt
wird [7]. 1500 Jahre sind für den Teufel keine lange Zeit. Deshalb kann er sich noch so
echauffieren über den modernen Quatsch: über das neue zivilisatorische Lernniveau, das nicht
mehr moralisch wertet und dem Teufel nichts mehr gönnt: „Herkömmliche Gewohnheit, altes
Recht, man kann auf gar nichts mehr vertrauen!“
Dr. Marianus II: Auf dem Hintergrund der katastrophalen Horrorkollektivismen des 20.
Jahrhunderts mutet das Schlußgebet des Dr. Marianus mit seiner Forderung nach
Unterordnung, Selbstanklage („Reue“) und Dienstfertigkeit gruselig an. Doch im Kontext des
vorhergehenden Geschehens der tätigen Liebe gesehen, in entreligiösifizierter Sprache
ausgedrückt und in konsequent „moderne“ Lesart gebracht, sagt der Doktor etwa:
"Hilfreich ist Zusammenhalt (der ist das „Rettende“). Wer du auch bist: einer Gemeinschaft,
in der wahrer Zusammenhalt herrscht, bist du nicht egal (der „Retterblick“ ruht auf dir). Das
Leben auf den Zusammenhalt aller Menschen ausrichten (zum Retterblick „aufblicken“)
bedeutet: sich für den Zusammenhalt zu engagieren (Dienst erbieten) und den Zusammenhalt
als etwas anzuerkennen, das mir in meiner persönlichen Beschränktheit überlegen ist und dem
gegenüber ich eine gewisse Unterordnungsbereitschaft pflege (zu dem man „aufblickt“).
Erforderlich für den Erfolg des Engagements ist Selbstkritik mit Veränderungsbereitschaft
(Reue) und Zurückhaltung mit der rücksichtsvollen Bereitschaft, eigene Ansprüche
herunterzuschrauben („Zartheit“). In der idealen Gemeinschaft stellen die Einzelnen Sinn über
Trieb (Jungfräulichkeit), sind fürsorglich für einander engagiert (Mütterlichkeit),
anpassungsbereit (der Königin untertänig) und erleben den Zusammenhalt als einen der
höchsten Werte (Göttin)". – Wir sind von Natur aus gut (der „gute Mensch“, die „gute
Seele“), aber das reicht nicht, um die Potentiale, die im Zusammenhalt schlummern, zu
entfalten. Dazu braucht es eines „besseren Sinns“, eines Sinns, der durch Kultivierung über
seine Natürlichkeit hinaus wächst. - Gott hat Unrecht und der Teufel irrt selbst da, wo er
Recht hat. Nur die Muttergottes weiß, wie es sich richtig verhält, die Mädchen sind mal
wieder klüger: Der gute Mensch glaubt bloß, sich des rechten Weges dunkel bewußt zu sein,
und gerät dadurch auf die schlimmsten Abwege. Der Gute Wille kann die bösartigsten
Formen annehmen: selbst die Terroristen folgen nur ihren Gewissensentscheidungen.
Augustinus hat Recht, nicht Pelagius (Schöne-Kommentar 228): wir sind durch den
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Sündenfall so verdorben, daß wir allein, aus eigener Kraft, ohne „Gott“, den rechten Weg
nicht finden können. Wir brauchen die rechte Ausrichtung auf die Gemeinschaft („Gott“): wir
brauchen einander zur „Kurskorrektur“ [8]. Im Gebet des Kollegen ist Faust am Ziel: das Gute gesteht ein, daß es nicht hinreicht, und
disqualifiziert das Bessere nicht länger als Trug und Wahn.
Der Chorus Mysticus stimmt einen Lobgesang an, auf das, was er hier beobachtet hat. Seine
Zeilen sind nicht Kommentar sondern Ausdruck: Ausdruck des Staunens und der Freude:
Ewig-Weibliches und Ewig-Männliches: Ewig weiblich und ewig männlich sind allein die
Probleme, die aus den unterschiedlichen körperlichen Chancen entstehen. – Wie wir es auch
immer sonst noch verstehen wollen: wir können es auf eine Weise verstehen, die Frauen und
Männer nicht auf Rollen festlegt – denn Rollenfestlegungen wären selbst in dem Fall, daß es
tatsächlich biologisch konstituierte Wesensunterschiede zwischen den Geschlechtern geben
sollte, ein „naturalistischer Fehlschluß“ [9]. – Es lassen sich immer entgegensetzbare
Einstellungen finden, egal ob und wie wir sie symbolisch als „Männlich“ und „Weiblich“
kategorisieren : Das Forsche und das Fürsorgliche; das Aktive und das Rezeptive; das
Technische und das Soziale; das Zielstrebige und das Umsichtige; das Erfolgsorientierte und
das Verständigungsorientierte; das: „Man muß die Welt doch voran bringen!“ und das: „Es
müssen doch alle satt werden!“ Ob eine Einstellung besser ist als die andere, sagt der Dichter
nicht. Nur daß die eine uns hinan zieht, die andere nach vorne. In einem mehrdimensionalen
Raum ist die eine nichts ohne die andere. Das auszusprechen ist Blasphemie in einer Kultur,
die geprägt ist von einem "selektiven Muster von Rationalisierung" (Habermas), die
individuell zurechenbare technische Potenz infantil glorifiziert: „Guck mal Mammi, das hab
ich ganz allein gemacht!“ - Das "ewig Weibliche" steht für die Einstellung, die Faust mangelt:
für soziale Intelligenz und kommunikative Rationalität - unabhängig davon, wie diese
Vermögen in einer Kultur mit dem Männlichen oder Weiblichen assoziiert sind.
„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“: Normalerweise brauchen wir nicht mehr zu
wissen, als zum Leben nötig. Deshalb erkennen wir auch nicht mehr von der Wirklichkeit, als
wir an Wirkung brauchen. Das, was darüber hinausgeht, bleibt uns verborgen. Bestenfalls
lassen sich gigantische Maschinen bauen, wie das CERN, die Phänomene erzeugen, aus denen
wir zu erschließen versuchen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber: „was sie uns
nicht offenbaren mag, das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben!“ Egal wie
weit wir im Zerlegen kommen: Struktur und Dynamik können wir immer nur fallibel und
17
modellhaft, also „vergänglich“ und „unzulänglich“ erschließen. (Aber die Art, wie wir es
erschließen, könnten wir ins Museum stellen als „ready made“: zur poetischen, „anmutigen“
Anschauung der Findigkeit des Menschen. Auch so würde das Vergänglich-Unzulängliche
„Ereignis“.) – „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ können wir daher als eine poetische
Aufforderung verstehen, uns vom Konkreten, von der Erscheinung, anmuten zu lassen und
über die vermutbare Größe des Daseins, die sich im Konkreten zu offenbaren scheint, zu
staunen. (Die Gefahr ist allerdings: dieses Staunen religiös zu überhöhen: Aus dem Staunen
mit Ideen und Begriffen zurückzukehren und sie für den objektiven Gehalt des Staunens zu
verkaufen. Das führt bestenfalls zu neuen Mythen, schlimmstenfalls zu neuen Dogmen.) –
Am Konkreten zeichnen sich die Potentiale des Daseins gleichnishaft ab. Auf welches
Konkrete bezieht sich der Chor hier? Auf Fausts Leben und Erlösung. Selbst seine Fehler sind
Erkenntnisgewinn, sie offenbaren etwas von den wirkenden Kräften, mit denen wir Menschen
es im Leben zu tun kriegen (und mit denen zu tun zu kriegen wir fähig sind). Und sie
offenbaren etwas von der „Güte“ des Menschen: Fausts wollte es immerhin dem Teufel
beweisen, und er wollte Margarete retten und den Menschen die Freiheit bringen. – Und in
der Erlösung Fausts zeigt sich die Macht des Menschen im Erkennen und Überwinden. – So
offenbart etwas Vergänglich-Menschliches etwas vom Ewig-Männlich und -Weiblichen.
„Das Unzulängliche, hier wird es Ereignis“: Eine mit Normalität ausgefüllte Woche ist
nicht ereignisreich. Die Alltagsgegenstände sind zwar sichtbar, aber erst, wenn einer sich
plötzlich verändert hat - z.B wenn der alte Kaktus nochmal blüht - wird er "Ereignis". – Also
offenbar springt hier, bei Fausts Erlösung, am Unzulänglichen etwas ins Auge, was sonst
übersehen wird. Anderswo ist das Unzulängliche kein Ereignis, hier schon. Was
normalerweise nicht der Aufmerksamkeit wert ist: hier zieht es sie auf sich. Wodurch?
Hier wird verziehen. Hier wird auf die Stärken geschaut. Hier werden Unvollkommenheiten
eingestanden. Hier werden Fehler nicht bewertet sondern erforscht. Hier waltet Gnade. Hier
übt man Abstinenzen: Man braucht niemanden (Pater Seraphikus), man will niemand
bestimmtes sein, bzw. ist bereit, sich alle Identitäten zerschmettern zu lassen (Pater
Ecxtaticus), man agiert keine Emotionen aus (Margarete wird nicht zur Furie). Hier gibt es
keine „Normalität“ oder „Alltäglichkeit“ in dem Sinne, daß man zwischen Relevantem und
Irrelevantem unterscheiden muß, um im Handlungsdruck des Lebens Vorteile zu ergattern
und „heranzuraffen“. Hier hat man sich von diesem Handlungsdruck so weit wie es geht
emanzipiert. Hier gibt es kein „gut“ und „schlecht“. Darin besteht der „bessere Sinn".
Dadurch gerät das Unzulängliche, Durchschnittlich-Normale und im Alltag Ausgeblendete in
ein anderes Licht, es wird nicht mehr funktional bewertet, sondern in seinem Eigenwert
18
betrachtet, ähnlich wie John Cage, der die Emanzipation des Geräuschs in die Musik
einführte, auf die Frage eines Reporters, ob das Quietschen der Tür auch Kunst sei,
antwortete: „If you celebrate it, it´s Art“; ähnlich wie von Zen-Meistern erzählt wird, daß
Alltags-„Ereignisse“ sie zur Erleuchtung brachten: das Klackern eines beim Fegen
aufgewirbelten Steinchens.
„Das Unbeschreibliche, hier ist es getan“. – Das Vergängliche ist das Beschreibliche, in
dem das Unbeschreibliche gleichnishaft präsent ist. Hier wird etwas von diesem
Unbeschreiblichen getan, konkretisiert. Das gelingt offenbar sehr selten, sonst würde der
Chorus hier nicht so staunen. (Vielleicht standen die Choretiden, bevor sie in Jubel
ausbrachen, mit offenen Mündern da, wie die Fans von einer Regionalmannschaft, die sich
mit einem entscheidenden Tor kurz vor Schluß völlig unerwartbar in die zweite Liga spielt.)
In dieser „Tat“, diesem Konkretisierten: in der tätigen Liebe zwischen den Menschen, muß
das Göttlich-Unbeschreibliche also ganz besonders „anwesend“ sein, zum Ausdruck kommen
und mehr als nur gleichnishaft erlebbar werden: in der Bereitschaft, sich über sich selbst zu
desillusionieren – in der Bereitschaft, aus der Schuld sich eine Pflicht zu machen (Buße) – im
Verzeihen – in der Art und Weise wie man sich gegenseitig uneigennützig zur Hand geht
(Kooperation) und schließlich in der Solidarität: im Zusammenhalten gegen ein gnadenloses
Schicksal, das jedem Paar Füße anders schiefe Böden unterschiebt.
Anmerkungen
„[1]
"Die Geschichte aller Religionen und Philosophien lehrt uns, daß diese große, uns Menschen
unentbehrliche Wahrheit von verschiedenen Nationen in verschiedenen Zeiten auf mancherlei
Weise, ja in seltsamen Fabeln und Bildern der Beschränktheit gemäß überliefert worden“
(Goethe nach Eibl 2000, S. 332). – Goethe schätzte offenbar den „Eigenwert“ von solchen
„Fabeln“. – Diese Haltung hat Ähnlichkeit mit der modernen Ästhetik des „object trouvé“ und
des „ready-made“: So wie Picasso einen Stierschädel aus Fahrradteilen montiert, montiert
Goethe seine Intentionen zu sozialer Intelligenz mit Kirchenfiguren. Damit erzeugt er
gleichzeitig eine „Selbstähnlichkeit“ zwischen Form und Inhalt: Wie bei einer
Fahrradskulptur aus Radspeichen.
19
[2]
Viel Spaß im Leben zu haben ist schön und gut. Aber zu wissen, daß man etwas beigetragen
hat zur Bewahrung oder Entwicklung der Zivilisation, kann ne´Menge Spaß aufwiegen, so
sehr, daß sich ein mühseliges und schmerzensreiches Leben unter Umständen besser anfühlen
kann, als ein Spaßiges. Doch glücklicherweise schließen sich Spaß und Sinn nur selten
gegenseitig aus. Ein Gedankenexperiment zum Gewicht von Spaß und Sinn: Es müßte
komisch sein, zu sterben, und zu erkennen: „Mein Leben hatte eigentlich nur für mich
Bedeutung. Ich habe nichts bewahrt und nichts entwickelt und es wird keiner groß an mich
denken und erst recht nicht lange und geschweige denn mit dem Gefühl, daß er mir
irgendetwas verdankt oder mein Dasein sein Leben ein wenig bereichert hat, so daß er durch
dieses Quentchen Zuwachs, wie gering es auch immer sei, anderen mehr geben kann, als er es
könnte, wäre ich nicht gewesen...“
[3]
Das ist bei religiösen Perfektionisten offenbar kein unbekanntes Phänomen: „Was hast du
gesagt? Es gilt dir nichts, deine Seele für die endlose Ewigkeit zu verderben, nur um in
diesem flüchtigen Leben einem anderen zu helfen!“ (N. Leskow). – Für Thomas von Aquin
kam es auf die Liebe an, nicht auf Askese, Askese war nur eine mögliche Methode der Liebe.
– Und Luther sah in der Askese die Gefahr, den falschen Schein zu erwecken, „als ob die
eigentliche Sünde vom Fleische, vom leiblichen Sein herkomme - statt aus dem ungläubigen
Herzen“; und daß „das augenfällige oder gar sensationelle asketische Leben nur allzuleicht
zum Ausdruck geistlicher Eitelkeit und Selbstgefälligkeit“ werden könne. (Refereriert aus
dem Artikel „Askese“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, S. 646.). Weitere
Askesekritik findet man bei M. Buber (Vorwort zu den „Erzählungen der Chassidim“) weitere „Eremitenpoesie“ bei Hermann Hesse („Der Beichtvater“ und „Indischer Lebenslauf“
aus dem „Glasperlenspiel“).
[4]
Ein weiser Rabbi hatte sich bei der Einschätzung des Zeitpunkts der Erlösung der Menschheit
vertan und rechtfertigte sich so: „Die gemeinen Leute haben die vollkommene Umkehr getan
oder können sie tun. Von ihrer Seite ist kein Hindernis. Das Hemmende sind die gehobenen
Menschen. Sie vermögen nicht zur Demut und so auch nicht zur Umkehr zu gelangen“.
20
Buber, Martin, „Hindernis“, aus: Die Erzählungen des Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich
2014, S.400,
[5]
Mit Annahmen und Zusatzannahmen kann fast alles begründet werden, es kommt dadurch ein
Moment der Willkür in die Interpretation. Warum ist Verzeihen noch nötig, wenn Margarete
schon gerettet ist? Antwort: Das „Gerettet“ bezieht sich nur auf den Kindsmord. Der
voreheliche Beischlaf ist noch ein offener Posten auf dem Schuldkonto. (Damit könnte man
dann auch argumentieren: daß „vergessen“ und „nicht ahnen“ zwei völlig verschiedene Dinge
seien, die sich nicht gegenseitig kommentieren können.) Oder: Da Margarete kein Verzeihen
mehr braucht, weil sie gerettet ist, aber die gute Seele doch Margarete sein soll, könnte es ja
sein, daß die Büßerinnen Maria darum bitten, daß sie Margarete ihre Fähigkeit zu Verzeihen
ausleiht, um Faust zu verzeihen. (Die Beispiele sind aus: Arens 1989 und Trunz 1949.) –
Oder: Eibl (1999) meint, Faust wolle den Teufel mit der Wette überlisten, denn ein so
vollendeter Augenblick, der den Wunsch nach Ewigkeit erwecke, sei Menschen gar nicht
möglich, der Teufel habe also von vornherein verloren. Eibl bezieht sich dabei auf eine andere
Stelle im Werk Goethes, wo Goethe „Augenblick“ als punktuelles Erlebnis der
Vollkommenheit versteht. Auch hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man nicht durch
solche Bezüge auf andere Schriften eines Dichters alles Mögliche in eine Stelle
hineininterpretieren kann. Denn es braucht auch hier wieder Zusatzannahmen: „Wie ich
beharre bin ich Knecht“, sagt Faust einen Augenblick später. Eibl erklärt nicht, wieso das
„Beharren“ und der Wunsch nach „Verweilen“ sich hier auf unterschiedliche Dinge beziehen
sollten. Er könnte natürlich annehmen: Faust wolle den Teufel vorsätzlich in die Irre führen
indem er den Anschein erwecke, es gehe im darum, nicht bestechlich durch Bequemlichkeit
zu sein... – All das sind Beispiele für die „Unzulänglichkeit“ aller Wissenschaften: Jede
Erklärung schafft an einer anderen Stelle „Anomalien“ (Kuhn 1973). Die Erklärungskraft der
Erklärung fungiert dann als Erlaubnis, die Anomalien ignorieren zu dürfen.– Die
Naturwissenschaften haben es besser: Bei ihnen findet die Denkwillkür ihre Grenze daran, ob
Erklärungen dazu führen, unsere Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. (Zu den Begriffen
Denkwillkür, Denkwiderstand, Denkstil: Fleck 1980). – In der Philologie würde es darum
gehen, zusätzliche „Denkwiderstände“ zu beschaffen. Z.B. könnte man Goethe ja zutrauen,
„rezeptionspraktisch“ gedacht und das „Drehbuch“ so geschrieben zu haben, daß der
Zuschauer auch ohne mit Professorenwissen um vier Ecken herum gedacht zu haben,
verstehen kann, worum es geht. Dann kämen nur die naheliegenderen Deutungsmöglichkeiten
21
in Frage. – Ein anderer „Denkwiderstand“ könnte, wie oben dargestellt, der szenische Sinn
sein. - Es gibt in der Interpretationsliteratur Passagen, die – ähnlich wie in der
psychoanalytischen Literatur – so lächerlich abstrus wirken, daß es unfair wäre, sie außerhalb
ihres Zusammenhangs zu zitieren. Im Kontext eines Denkstils haben sie jedoch
Folgerichtigkeit und Berechtigung. (Beispiele bei Trunz.)
Ein anderes Problem, allerdings nicht nur der Philologen, ist die validierungsignorante
Konkretisierungsfaulheit. Ein Beispiel bei Eibl (2000, S. 57): "Wie können Ich und
Gesellschaft miteinander versöhnt werden? Sie können es nicht. Das durch Exklusion
begründete Subjekt muss sich selbst ungemein wichtig nehmen und hat als Entsprechung
nicht die Gesellschaft sondern die Welt als das Ganze (da es Gesellschaft nicht als Ganzes
erleben kann)." - Mit „Exklusion“ meint Eibl: Das Individuum gehört verschiedenen
gesellschaftlichen Funktionsbereichen zu und in jedem muß es sich nach anderen Normen
richten: Der fürsorgliche Familienvater muß als Manager Familienväter entlassen und andere
Familien dadurch in Armut stürzen. - Was ist an dem Problem wirklich neu? Hatte ein antiker
Kaufmann, der Mitarbeiter entließ, das nicht? - Und was soll das heißen: das Subjekt hat eine
"Entsprechung"? Und wie kann man Gesellschaft oder Welt als Entsprechung haben? Und
was soll das heißen: etwas als Ganzes empfinden? Und Gesellschaft so nicht mehr empfinden
können, nur noch die "Totalität"? - Wenn er weiß, wovon er spricht, warum benennt er es
nicht kurz und bündig? Ich fürchte, er glaubt nur, daß er weiß, wovon er spricht, und er kratzt
diesen Glauben lieber gar nicht erst an – denn konkreter zu benennen, was er meint, würde
bedeuten: schauen, ob wirklich drin ist, was es verspricht... (Ein Beispiel für validierende
Konkretisierung ist mein Aufsatz: „Verwaltung des Wohls“, in dem ich J.Habermas These
von der Kolonialisierung der Lebenswelt untersuche.)
Ich müßte eigentlich einen Aufsatz schreiben: "Wittgenstein als Erzieher", aber mir fehlt die
Zeit.
[6]
Unresozialisierbare Schwerverbrecher sind ein Prüfstein für die Solidarität einer Gesellschaft.
Es sind Menschen, in denen die menschlichen Widersprüche extrem ausgeprägt sind: der
Widerspruch zwischen dem Wunsch, etwas für sich selbst zu erreichen und dem, nicht
ausgestoßen und verlassen zu werden. Sie wollen als Mensch unter Menschen existieren aber
sie sind so extrem ich-bezogen daß sie dem, was eine Beziehung erfordert, derart systematisch
zuwider handeln, daß sie nicht gemeinschaftsfähig sind. Sie sind berechnend, nutzen aus,
instrumentalisieren, lassen anderen nicht ihr eigenes Leben, manipulieren, verletzen,
22
zerstören, morden.
Es geht nicht darum, ihnen den freien Willen abzusprechen. Sondern darum: daß bei ihnen
ganz andere Kräfte am Werk sind als bei uns, gegen die die Freiheit des Willen – so es sie
gibt – gegenhalten muß. – Wir „normalen“ Bürger würden es doch gar nicht schaffen, richtig
böse zu sein! Wir können uns doch nicht etwas darauf zugute halten, gut zu sein, wenn wir
gar nicht anders können! Das ist billig und wurde von Wilhelm Busch mit Spott abgestraft:
Das Gute - dieser Satz steht fest Ist stets das Böse, was man läßt!
Ei, ja! - Da bin ich wirklich froh!
Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!«
Das ist die moralische Perversion des Spießers, denn das Böse ist das Gute das man läßt. Daß wir einen Menschen nicht ermorden können: ist das wirklich unser Verdienst? Was
haben wir denn konkret dafür getan, daß wir so beziehungsfähig sind, daß unser Egoismus
enge Grenzen hat? Wir tun ja gerade so, als müsse man das in der Schule üben wie das
Einmaleins und wir hätten immer brav unsere Hausaufgaben gemacht, während die
Verbrecher bloß am Fernsehen abgehangen hätten.
Wären wir auch so brave Bürger, wenn die Gegengewichte unseres hinreichend gut
entwickelten sozialen Sinns weg wären? - Schwerverbrecher sind gesunde Menschen mit
erheblichen Einschränkungen in ihrer Beziehungsfähigkeit, Einschränkungen, die dazu
führen, daß sie für andere Menschen gefährlich werden. Aber sie sind keine bösen Menschen.
Böse Menschen gibt es nicht. - Erst wenn wir das ganz wertfrei sehen, kann sich abzeichnen,
was wir uns gegen sie erlauben dürfen und ihnen dabei schuldig sind. Wir müssen uns gegen
sie schützen. Aber wir müssen es so tun, daß wir ihre Würde und ihr Recht auf freie
Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur so minimal einschränken, wie unser legitimes
Schutzbedürfnis es erlaubt. Eine Sicherheitsverwahrung darf keine Strafe sein. Das geht uns
gegen den Strich, weil viele dieser Verbrecher sich einen Dreck um die freie Entfaltung
unserer Persönlichkeit scheren würden. Aber das darf keine Rolle spielen.
Wie relativ die Gefährlichkeit von Menschen ist, sieht man an Faust: Faust tötet fahrlässig
Margaretes Mutter, ihren Bruder schlägt er im Duell tot, Margarete läßt er schwanger im
Stich, obwohl er weiß, daß sie dann aus der Gemeinschaft ausgestoßen wird. Nach dieser
privaten Katastrophe manipuliert er die Finanzmärkte, stürzt damit ein Land in einen
Bürgerkrieg, mischt in diesem Krieg mit, um als Kriegsgewinnler ganz groß raus zu kommen,
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wird durch Verstrickung in Piraterie reich und siedelt Einheimische so effektiv um, daß sie
ums Leben kommen. - Faust ist durchaus beziehungsfähig. Er ist keine dissoziale
Persönlichkeit. Was heißt das? Er könnte nicht kaltblütig ermorden oder einer Rentnerin auf
den Kopf hauen um ihr die Handtasche wegzunehmen. Er könnte nicht eine Frau entführen, in
einem Keller einsperren, als Sexsklavin monatelang mißbrauchen und hinterher umbringen.
Das könnte Faust alles nicht. - Auch Eichmann oder Himmler hätten das wahrscheinlich nicht
gekonnt. (Beispielhaft beschrieben im Roman von Robert Merle über den Kommandanten
von Auschwitz: „Der Tod ist mein Beruf“.)
Die Parameter menschlicher Bösartigkeit variieren unabhängig von einander. Wir sind schon
einen Schritt weiter als die meisten anderen Kulturen der Welt, die noch eine Unterscheidung
von Binnen- und Außenmoral kennen: im eigenen Clan gilt eine andere Moral als außerhalb.
Aber unsere Beziehungsfähigkeit hat mit der Universalisierung unserer Moral nicht
mitgehalten: Wir können unsere Freiheit noch am Hindukusch verteidigen: „Nichts schöneres
weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn
hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein
Gläschen aus und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten, dann geht man Abends froh
nach Haus und segnet Fried- und Friedenszeiten“.
(Vom Thema moralfreie Erlösung handelt auch D. Seefelds Geschichte: „Subversion im
Himmel“. - Über Erkenntnisse der Hirnforschung zur Beeinträchtigung von
Schwerkriminellen und Trainingsmöglichkeiten: Interview mit Niels Birnbaumer im Spiegel
24/2014 S.118).
[7]
Obwohl es im Judentum auch andere Töne gibt: „Es darf uns nicht darum gehen, Gerechte zu
finden, sondern für die Sünder Gnade zu erflehen. Abraham suchte Gerechte und so mißlang
sein Unterfangen. Mose aber betete: “Vergib doch der Verfehlung dieses Volkes“. Buber,
Martin. Die Erzählungen des Chassidim (1949), Neuauflage, Zürich 2014, S.622
[8]
Wir brauchen keinen Glauben aber wir brauchen das Überindividuelle, um Individuum sein
zu können. Allein wären wir nicht einmal zur Sprache fähig. Wittgenstein verneinte die
Möglichkeit einer „privaten“ Sprache, einer Sprache, die man alleine erfindet und nur für sich
selbst haben kann. Denn er fragte sich, wie man sich alleine daran erinnern könne, was man
einmal mit einem Wort gemeint habe – man könne ja nie wissen, ob man sich richtig erinnere,
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denn eine Erinnerung könne eine andere nicht korrigieren: „Es wäre, als kaufte man sich zwei
Exemplare einer Zeitung, um zu kontrollieren, ob sie auch die Wahrheit spricht.“
Diese Intuition für Gemeinschaftlichkeit hat sich durch die Kollektivismen des letzten
Jahrhunderts nicht weniger diskreditiert, als der Glaube des Faust-Prolog-Gottes an den
Orientierungssinn des von ihm erschaffenen „guten Menschen“, des „gelungenen“
Individuums. Kennzeichen von Kollektivismen ist ein demagogischer Taschenspielertrick: die
Erfindung eines Feindes, einer Bedrohung. Im Angesicht der Bedrohung nicht bedingungslos
für die Gemeinschaft sein zu wollen wird dann definiert als Sabotage. – Ein Zusammenhalt,
der nur mit einem Feind, einer äußeren Bedrohung funktioniert, ist bereits korrumpiert: Er
braucht Denkverbote: jeder, der an der in der Gemeinschaft herrschenden Auffassung von der
Bedrohlichkeit der Bedrohung zweifelt, ist schon ein Saboteur. - Ein weiteres Indiz für
archaische, irrationale Gemeinschaftsbildung ist, den Mitgliedern kein eigenes Leben zu zu
gestehen: die Hingabe an „den Führer“ muß bedingungslos sein. Wer abweicht, riskiert
Ächtung. - Frag- und bedingungsloser Zusammenhalt gegen einen Feind, der
Erbarmungslosigkeit verdient, ermöglicht institutionalisiertes Mobbing. Auschwitz zeigt, bis
zu welchem Punkt institutionalisiertes Mobbing kulminieren kann. – Möglicherweise hat es
noch nie ein wirklich ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Kollektiv gegeben.
Immer scheint der Lauf der Dinge mal der einen, mal der anderen Seite zu viel Gewicht zu
verleihen. Es wird eine Entwicklungsaufgabe der Zivilisation sein, eine ausgewogene
Dialektik von Einzelnen und Gemeinschaft zu schaffen. Allerdings: Gesellschaft kann man
nicht planen. Man muß demokratisch ausprobieren und ändern. Jeder Plan beruht auf der
Beschränktheit der Planer und wird zum Prokrustesbett, das alles abhackt, was in den tollen
Plan nicht paßt. Ein Plan enthält die Weisheit einiger Weniger, die Geschichte braucht die
Weisheit aller.
[9]
„Naturalistischer Fehlschluß“: Von Hume so genannte Einsicht, daß aus dem Sein (den
Naturgegebenheiten) kein Sollen (keine Moral) ableitbar ist. Selbst wenn herauskäme, daß
männliche Hirne besser zum Jagen, weibliche besser zur Kinderhege geeignet sind, heißt das
gar nichts. Die Blagen müssen nicht immer optimal verwöhnt werden und es muß auch nicht
jeden Tag Braten geben. Unsere natürliche Ausstattung verpflichtet uns zu nix. - Abgesehen
davon werden wir wahrscheinlich niemals rausfinden, welches Hirn für was besser geeignet
ist, dazu ist das Gehirn zu kompliziert. Außerdem gelten alle Unterschiede wahrscheinlich nur
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statistisch: Der Abstand zwischen Männlich und Weiblich wird kaum irgendwo so groß sein,
daß alle Frauen dieses und alle Männer jenes besser können. Das Einzige was sicher ist: kraft
unserer ausgeprägteren Muskeln eignen wir Kerls uns besser zum Steineschleppen. Interessant ist, in der Literaturgeschichte zu verfolgen, welche Dichter ein Gespür für die
Tragik der Frauen hatten, daß sie sozialisationsbedingt ihre Potentiale nicht entfalten durften
oder konnten. Goethes Margaretentragödie ist in diese Reihe zu stellen. Gut ausgeprägt findet
man es bei Maupassant, Tolstoi, Tschechow, Rilke – und bei Nietzsche! Man hält Nietzsche
immer für einen Frauenverächter. Aber wer genau liest, stellt fest, daß das Gegenteil zutrifft
und er einfach nur erschüttert darüber war, was die damals herrschende Kultur aus den Frauen
machte: lächerliche hysterische Hennen, die sich bestenfalls mit Intriganz ein wenig
entschädigen konnten für das vorenthaltene Leben.
Literatur
Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust II. Heidelberg 1989.
Eibl, Karl: Zur Wette im Faust. In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999). S. 271 -280
( http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/faust_eibl.pdf )
ders.: Das monumentale Ich, Frankfurt a.M. 2000.
Dornes, Martin: Der kompetente Säugling. Frankfurt a.M. 1993
Fleck, Ludwig: Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M. 1980
Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1973
Leskow, Nicolei, Der Gaukler Pamphalon. In: Der Weg aus dem Dunkel, Meistererzählungen,
Diederichs Leipzig 1952, S. 332.
McGuinness, Alec: Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M. 1992, S.433
Rilke, Rainer Maria: Malte Laurids Brigge, in: kommentierte Ausgabe in vier Bänden,
Frankfurt a.M. 1996, S.548ff
Trunz, Erich, Kommentar zu Goethes Faust, in: Goethe, Hamburger Ausgabe Bd. 3, 1949
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An die Worte und ihre Häscher
So schick ich euch den still und leise
Liebe Worte auf die Reise.
Es freut mich, wenn ihr nützlich seid,
Und jemand sich an euch erfreut.
Doch wenn euch jemand einfach stielt,
Fremden Namens mit euch dealt,
Dann seit nicht sauer, denket eher,
Mit fremden Federn fliegt sichs schwer.
Ein Tipp für den Gedankendieb:
Folg mal dem Sinn und nicht dem Trieb.
Und was ist schon daran so schwer,
Anzugeben, wo ists her?
Ein rechtes Wort am rechten Ort
Bringt immer Lob und zwar sofort.
Und wenn es auch nicht Deines ist,
So rühmt man wie Du kundig bist.
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