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Freitag, 13. November 2015
Erfolgsautor Philipp Gurt wurde in Kinderheimen geschlagen und missbraucht
Der Albtraum
hörte erst
mit 12 auf
1972: Dieses Bild des viereinhalbjährigen
Philipp machte die Heimerzieherin. Kurz
zuvor hatte sie ihn sexuell missbraucht.
Von Flavia Schlittler
Fotos: Arno Balzarini, BLICK
S
eine Kindheit war die
Hölle. Der Vater Alkoholiker, die Mutter
verliess ihre acht Kinder nach
dem Mittagessen. «Sie gab
meiner Schwester einen Fünfliber in die Hand und sagte, sie
gehe in Chur einkaufen. Aber
sie kam nie mehr zurück», sagt
Autor Philipp Gurt (47). Die
Vormundschaftsbehörde,
längst aufmerksam geworden
1967: Das einzige existierende Familienbild. Die Mutter war
auf die Grossfamilie in Maladamals mit Philipp schwanger. Eine weitere Tochter kam eineinhalb
ders GR, die ohne Strom und
Jahre später dazu. Insgesamt hatten die Gurts acht Kinder.
sanitäre Anlagen lebte
und als «verlottert»
galt, riss die Geschwister auseinander, platzierte sie in verschiedenen Heimen.
Mit
viereinhalb
Jahren kam Philipp
ins Waisenhaus Chur.
«Die Erzieherin, welche die Rolle meiner
Ersatzmutter übernahm, kroch schon
bald in mein Bett und
befriedigte sich sexu- 1980: Mit zwölf Jahren beginnt sich der
1984: Erst mit 16 Jahren kann er das
ell an mir.»
Sechstklässler gegen den Missbrauch zu wehren. Kinderheim verlassen. Seine treuste
Der Bub wusste, Beim Lesen findet er Kraft und Freude.
Begleiterin ist Schäferhündin Leila.
dass dies nichts Gutes
ist, konnte sich aber nicht ar- Sie endeten, als er zwölf Jahre der Film wird 2016 ausgetikulieren. «Sie hat es immer alt war. «Bis dahin bestand die strahlt.
wieder getan, mich dabei so- Erzieherin darauf, mich intim
Der fünffache Vater kämpft
gar gefilmt.» Der Junge ver- zu waschen. Ich konnte mich heute gegen Kindsmissbrauch.
stummte. «Man dachte sogar, erstmals wehren.» Auch gegen Das Thema werde immer noch
ich sei Autist. Die Übergriffe die Schläge und das Einsper- tabuisiert. Erst recht, wenn es
und Schläge stahlen mir ein- ren im dunklen Keller, eine Art um Übergriffe durch Frauen
fach die Worte.»
der Strafe, die sich ebenfalls gehe. «Missbrauchte Kinder
Philipps Kinder- und Ju- durch seine Kinderjahre zog.
haben nichts falsch gemacht,
gendjahre waren eine OdysSchutz und Kraft fand er im dass es so weit gekommen ist.
see durch elf verschiedene Lesen, später im Schreiben. Sie sind nur Opfer.» Philipp
Heime und Institutionen. Die Letzte Woche kam sein achtes Gurt ist ein Mensch mit einer
sexuellen Übergriffe von ins- Buch auf den Markt, der Krimi- furchtbaren Vergangenheit –
gesamt drei Erzieherinnen nalroman «Bündnerfleisch». der es geschafft hat, trotzdem
wurden behördlich festge- «SRF Dok» zeichnet nun seinen ein gutes, zufriedenes Leben
stellt, aber nie angezeigt. Leidens- und Lebensweg nach, zu führen.
Autor Philipp Gurt im bündnerischen
Haldenstein, wo er lebt. In der Natur
fühlt er sich befreit.
NEWS
SCHWEIZ
Iraker wegen TerrorAufruf verurteilt
Bern – Die Bundesanwaltschaft
hat einen 50-jährigen Iraker zu
­einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte im Internet Propaganda für Terrorgruppen
gemacht und Anleitungen für den
Bau von Bomben verbreitet.
Brasilianerin mit einem
Kilo Kokain erwischt
Zürich – Die Kantonspolizei
Zürich hat am Mittwoch am Flughafen Kloten über ein Kilo Kokain
beschlagnahmt. Eine 42-jährige
Brasilianerin wurde verhaftet. Sie
wollte die Drogen in ihrem Reisegepäck von Brasilien über Zürich
nach Brüssel schmuggeln.
Vier Autos kollidieren
auf der A14
Buchrain LU – Gestern Morgen
kam es auf der A14 zu einem
Auffahrunfall mit vier beteiligten
Fahrzeugen. Der Sachschaden
beträgt mehrere Zehntausend
Franken. Verletzt wurde niemand.
Frau gesteht Überfall
auf Tankstelle
Thun BE – Eine 38-Jährige hat
gestanden, am Sonntag die Tankstelle in Gwatt BE überfallen zu
haben. Sie hatte die Angestellten
mit einer Feuerwaffe bedroht und
das Bargeld gefordert.
600 000 Objekte
kreisen unkontrolliert
um die Erde.
Psychotherapeutin Regula Schwager
«Bei Missbrauch
Heute regnet es gehts um Macht»
Müll aus dem All
S
ogar im Weltall haben
wir Müll produziert. Es
sind Reste abgesprengter Raketen und stillgelegter
Satelliten. Rund 600 000
Schrott-Objekte mit einer
Masse von 3000 Tonnen
schweben unkontrolliert im
Orbit, mit jedem neuen Satelliten werden es mehr. Aktuell
sind 1016 Satelliten aktiv.
Mehr als die Hälfte wird für
Telefonie, TV, Radio oder Datenübertragung verwendet.
Einige dienen der Forschung,
30 Satelliten sind für das Navigationssystem GPS verantwortlich.
Für die aktiven Satelliten
und auch für uns Erdenbewohner ist der Weltraumschrott
eine grosse Bedrohung. Auch
Objekt WT1190F gehört dazu.
US-Forscher haben es vor zwei
Jahren im All entdeckt. Es soll
eine Masse von rund zwei Tonnen haben und heute Freitag,
13. November, um 7.19 Uhr die
Erdatmosphäre erreichen. Ob
WT1190F dabei verglüht oder
noch einige Teile auf die Erde
fallen, ist ungewiss. Beruhigend zu wissen, dass der Rest
vor der Küste Sri Lankas in den
Indischen Ozean plumpsen
wird.
Franca Siegfried
Welches Muster verbirgt
sich in einer Frau, die kleine Buben sexuell missbraucht?
Regula Schwager*: Frauen miss-
brauchen Kinder aus den gleichen Gründen wie Männer. Es
geht um Macht. Diese Menschen holen sich ein Machtgefühl, wenn sie einen schwächeren Menschen demütigen,
misshandeln, schwächen. Kinder sind die schwächsten Glieder in unserer Gesellschaft.
Sie können dem Ansinnen der
tätlichen Person nichts entgegensetzen, sie vertrauen ihr,
verstehen nicht, was abläuft,
sind von ihr abhängig.
Gibt es eine Zahl darüber, wie oft
das in der Schweiz passiert?
Die Dunkelziffer ist logischer-
weise sehr hoch, denn die
meisten Kinder reden nicht,
erzählen nie von ihrer Pein.
Auch als Erwachsene nicht.
Verschiedene Umfragen in
Westeuropa haben ergeben,
dass jede dritte bis fünfte Frau
und jeder sechste bis zehnte
Mann in der Kindheit sexuell
ausgebeutet wurden. Frauen
als Täterinnen treffen wir re­
lativ selten an. Im letzten Jahr
wurden in unserer Beratungsstelle Castagna bei insgesamt
1044 Fällen 42 Frauen als
Täterinnen genannt.
Philipp Gurt wurde von seinen Ersatzmüttern missbraucht, denen
er vertraute. Ist das typisch?
Ja, das ist typisch. Kinder werden in über neunzig Prozent
der Fälle von nahen Bezugspersonen sexuell ausgebeutet.
Von Menschen also, denen sie
vertrauen. Falls tätliche Per­
sonen noch keine Beziehung
zum Kind haben, bauen sie
diese auf, bis das Kind in
einem Netz von Zuneigung,
Vertrauen und Abhängigkeit
gefangen ist. Die Erwachsenen
missbrauchen die Machtposition, um ihre eigenen Interessen zu befriedigen. Dieser
Vertrauensmissbrauch wiegt
schwer und verletzt die Kinder
tiefer, als wenn ein Fremder
ihnen Gewalt antäte.
Interview: Flavia Schlittler
* Regula Schwager, Psychologin und Psychotherapeutin, Co-Leiterin der Beratungsstelle
Castagna für sexuell ausgebeutete Kinder und
Jugendliche. www.castagna-zh.ch