Den Flüchtlingsbooten entgegen - Königin-Charlotte

Den Flüchtlingsbooten entgegen
Stuttgarter Zeitung - Stadtausgabe, 04.02.2016, S. 46 / Filder-Zeitung | Stadtausgabe
Den Flüchtlingsbooten entgegen
Möhringen Schülerinnen des KCG befragen einen Seenotretter zu seiner Arbeit auf dem Mittelmeer. Sandra
Hintermayr
Möhringen Das Thema 'Menschen auf der Flucht' beschäftigt die Schüler der Jahrgangsstufe 1 des
Königin-Charlotte-Gymnasiums das ganze Jahr. Es ist Thema ihres Seminarkurses. Im Rahmen dessen haben bereits
mehrere Flüchtlinge die Schule besucht und von ihren Erlebnissen auf dem Weg nach Deutschland berichtet, am
vergangenen Freitag war Klaus Stramm von der privaten Seenotretter-Initiative Sea-Watch zu Gast. 'Die Schüler haben alles
selbst organisiert', sagt die Lehrerin Julia Wachter, die den Seminarkurs zusammen mit ihrem Kollegen Dominik Braun leitet.
Die Schülerinnen Julia Lansche und Lena Günther befragten Klaus Stramm zur Tätigkeit von Sea-Watch und zu seinen
Erlebnissen mit den Seenotrettern. 'Wie sind Sie zu Sea-Watch gekommen?', wollte Lena Günther von dem Vorruheständler
aus Metzingen wissen. 'Ich bin Anfang 2015 zufällig auf Sea-Watch gestoßen. Ich segle seit Jahren, deswegen dachte ich ?du
musst raus aufs Meer und dort helfen?', antwortete Stramm.
Im August war er als Unteroffizier mit den Seenotrettern unterwegs. Er ist bei einem der sieben Einsätze, die Sea-Watch im
Jahr 2015 auf dem Mittelmeer gefahren hat, dabei gewesen. Zwölf Tage ununterbrochen auf See, immer Ausschau haltend
nach Flüchtlingsbooten. 'Die Boote sind teilweise in bedenklichem Zustand, da stehen 120 Menschen auf einer Fläche von
zwei mal zehn, zwölf Metern', sagte der 63-Jährige. 'Sie müssen stehen, denn zum Sitzen ist kein Platz.' Einige der Menschen
seien bereits mehrere Tage auf See gewesen, 'orientierungslos, mit ausgefallenem Bootsmotor der Strömung ausgesetzt, bei
40 Grad Hitze, ohne Schatten, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Toilette', erzählte Stramm. 'Die Leute stehen tagelang in
ihrem eigenen Urin, vermischt mit Meerwasser und Benzin.'
'Wenn wir nur einen Menschen retten können, ist unsere Mission erfüllt', sagt Klaus Stramm von Sea-Watch. Sandra
Hintermayr
In einem Boot hätten sie, nachdem alle Flüchtlinge auf ein Rettungsboot der italienischen Küstenwache übergeben wurden,
zwei Leichen entdeckt. Ein junger Mann und eine schwangere Frau. Das nehme einen natürlich mit, so Stramm. 'Aber wenn
wir auch nur einen Menschen retten können, ist unsere Mission erfüllt.' Während der Einsätze zwischen der libyschen Küste
und Lampedusa haben die Aktivisten von Sea-Watch hunderte Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Inzwischen hat
Sea-Watch ein zweites Einsatzgebiet: die Ägäis vor der griechischen Insel Lesbos.
Weil Sea-Watch selbst nicht über Boote verfügt, die groß genug sind, die Menschen aufzunehmen, kooperiert die Organisation
mit anderen vor Ort; mit Ärzte ohne Grenzen ebenso wie mit der italienischen Küstenwache, die die Flüchtlinge einsammelt
und an Land bringt.
Die Arbeit von Sea-Watch besteht darin, die Flüchtlingsboote zu lokalisieren, Kontakt zu den Menschen aufzunehmen und
wenn nötig erste ärztliche Hilfe zu leisten. 'Die größte Herausforderung ist es, die Leute ruhig zu halten, bis die rettenden
Boote eingetroffen sind', sagte Stramm. Das könne je nach Standort auch mal Stunden dauern. In dieser Zeit verteilen die
Seenotretter Schwimmwesten und Trinkwasser an die Flüchtlinge.
Den Vorwurf, durch das Einsammeln der Flüchtlinge auf See würden noch mehr Menschen den Weg übers Mittelmeer
antreten, wies Stramm entschieden zurück. 'Die Menschen sind schon geflüchtet, bevor es die Seenotretter gab', sagte der
Metzinger. Er sieht es als seine humanitäre Pflicht an, den Menschen zu helfen.
'Gibt es ein Erlebnis, das Sie besonders geprägt hat?', fragte Julia Lansche den Seenotretter. 'Vor unserer Abfahrt in
Lampedusa kam eine italienische Dame an unseren Steg und betete für uns. Als wir wieder kamen, war sie wieder da und
dankte uns für unseren Einsatz. Das berührt mich noch heute', so Stramm. Er möchte in diesem Jahr auf jeden Fall wieder in
See stehen, um Menschen zu retten. Denn, so sagte er: 'Wenn niemand auf dem Mittelmeer nach Flüchtlingsbooten in Seenot
Ausschau hält, gibt es nur noch mehr Tote.'
Quelle:
Stuttgarter Zeitung - Stadtausgabe, 04.02.2016, S. 46
Ressort:
Filder-Zeitung
Ausgabe:
Stadtausgabe
Dokumentnummer:
C968922F869BFAC7179B215072392C0F
Seite 1 von 2
Den Flüchtlingsbooten entgegen
Dauerhafte Adresse des Dokuments: https://www.genios.de/document/STZ__C968922F869BFAC7179B215072392C0F
Alle Rechte vorbehalten: (c) Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft mbH
© GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH
Seite 2 von 2