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Vendela Vida
Des Tauchers leere Kleider
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Vendela Vida
Des Tauchers
leere Kleider
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Monika Baark
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Die Originalausgabe unter dem Titel
The Diver’s Clothes Lie Empty
erschien 2015 bei Ecco, einem Imprint
von HarperCollins, New York.
®
MIX
Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
ISBN 978-3-351-03629-4
Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
1. Auflage 2016
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2016
Copyright © 2015 by Vendela Vida
First published in the United States in 2015 by Ecco,
an imprint of HarperCollins.
Einbandgestaltung ZERO Werbeagentur, München
Satz LVD GmbH, Berlin
Druck und Binden CPI books GmbH, Leck, Germany
Printed in Germany
www.aufbau-verlag.de
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Über diese Zivilisation kann sich nur erheben, dessen besondere Aufgabe ihn dazu ermächtigt: ein Wissenschaftler erhält
die Genehmigung, ein Geistlicher bekommt die Erlaubnis.
Aber nicht eine Frau, die nicht einmal als Garantie einen Titel
vorweisen kann. Ich war auf der Flucht, voller Ekel ergriff ich
die Flucht.
Clarice Lispector, Die Passion nach G. H.
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Als du deinen Platz findest, wirfst du einen Blick auf den
Geschäftsmann neben dir und beschließt, dass er beinahe
gutaussehend ist. Dies ist die zweite Etappe deiner Reise
von Miami nach Casablanca, und die bereits zurückgelegte Entfernung hat den Horror der letzten zwei Monate
abgedämpft. Was sollte dich davon abhalten, ein Gespräch
mit diesem Mann anzufangen, vielleicht sogar zwei Wodka
Tonic zu bestellen, mit kleinen Zitronenscheiben, die euch
die Flugbegleiterin mit einer silbernen Zange in die Plastikbecher legen würde? Er hat ungefähr dein Alter, dreiunddreißig, und scheint wie du allein zu reisen. Er hat
zwei Zeitungen auf dem Schoß, eine auf Arabisch, die andere auf Englisch. Wenn ihr euch einigermaßen versteht,
könntet ihr nach eurer Ankunft in Casablanca abends zusammen essen gehen. Ihr werdet in ein Restaurant gehen
und auf dicken bestickten Kissen sitzen und Couscous mit
den Händen essen. Danach wirst du dich an der seltsamen
Geometrie einer fremden Skyline vorbei auf den Weg zurück zu deinem Hotel begeben. Ist es nicht das, was Leute
tun, wenn sie allein und im Ausland sind?
Aber während du dich neben diesem Geschäftsmann
auf deinem Platz einrichtest, sagt er zu dir, er habe vor, auf
dem gesamten Flug nach Casablanca zu schlafen. Dann
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pustet er mit beträchtlicher und beschämend großer Anstrengung mit seinen schmalen Lippen ein Nackenkissen
auf, legt sich eine kleine Tablette auf die ausgestreckte
Zunge und dreht sich von dir weg und dem ovalen Fenster zu, dessen Blende schon zugezogen wurde.
Während sich das Flugzeug in die Luft erhebt, geht das
unvermeidliche Babygeschrei los, und du blätterst zerstreut
in deinem Reiseführer Marokko. Du liest: »Das Erste, was
man bei der Ankunft in Casablanca tun sollte, ist, Casablanca zu verlassen.« Verdammt. Du hast schon für drei
Nächte dort ein Hotelzimmer gebucht. Du solltest dich
über dich selbst ärgern, dass du den Reiseführer nicht vor
der Reservierung und Bezahlung deines Zimmers gelesen
hast, stattdessen aber richtest du deinen Ärger auf den
Reiseführer selbst, weil er dir sagt, deine ersten drei Tage
in Marokko kannst du vergessen. Du stopfst das Buch in
deinen Rucksack und holst deine Kamera hervor. Sie ist
ein paar Monate alt, und obwohl du sie schon benutzt
hast, hast du sie zusammen mit der noch ungelesenen Gebrauchsanweisung in ihrem Karton aufbewahrt. Du beschließt, dass jetzt eine gute Zeit ist, sie zu lesen und herauszufinden, wie du dir die Fotos von deiner neugeborenen
Nichte auf deinen Laptop lädst. Du schaltest die Kamera
an – es ist eine Pentax, eine professionelle Kamera, wie du
sie eigentlich gar nicht brauchst – und betrachtest ein Foto
von deiner Nichte am Tag ihrer Geburt. Du spürst, wie
dir die Tränen kommen, und du schaltest die Kamera aus.
Das Flugzeug hat seine reguläre Flughöhe noch nicht
erreicht und das Zeichen mit dem Sicherheitsgurt leuchtet noch, aber das hält eine offenkundig westliche Frau
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zwei Reihen vor dir auf der anderen Seite des Ganges nicht
davon ab, aufzustehen. In ihrem mit Herbstlaub gemusterten Kleid, obwohl Frühling ist, holt sie ihren Koffer aus
dem Gepäckfach über dem Sitz. Dann setzt sie sich hin,
stellt den Koffer auf ihren Schoß, öffnet ihn, verschiebt
ein paar akribisch gepackte Kleidungsstücke, schließt den
Koffer wieder und hebt ihn zurück in die Gepäckablage.
Eine Flugbegleiterin kommt angelaufen und erinnert sie
daran, dass das Zeichen mit den Sicherheitsgurten noch
leuchtet. Die Frau im herbstlichen Kleid sitzt fünf Minuten da, bis sie sich nicht mehr beherrschen kann und wieder aufsteht, um ihren Koffer zu holen, auf den Schoß zu
stellen, aufzuklappen und die Kleidungsstücke neu zu ordnen, ehe sie den Koffer wieder im Fach über ihrem Sitzplatz verstaut.
Deine Mitreisenden – von denen die Hälfte aussieht wie
Touristen und die andere Hälfte wie heimkehrende Marokkaner – nehmen Blickkontakt mit dir und miteinander auf, Augen werden verdreht. Man ist sich einig, dass
diese Frau an einer Zwangsneurose leidet. Als die Frau im
herbstlichen Kleid ein drittes Mal aufsteht, dreht sich die
Passagierin vor ihr, die ein Buch in der Hand und eine
Brille auf der Nase hat, abrupt zu ihr herum und starrt sie
an. Sie gehört zu einer Gruppe, die seit Miami mit dir
gereist ist. Ihren Florida State University-Sweatshirts und
ihrem ungefähren Alter nach zu urteilen, haben sie vor
etwa vierzig Jahren zusammen an der FSU studiert und
sind im Rahmen eines Ehemaligentreffens auf Reisen.
Irgendwie kommt dir die Frau mit der Brille, die sich
jetzt umgedreht hat, bekannt vor, und während eures kur9
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zen Augenkontakts merkst du ihr an, dass sie sich ebenfalls fragt, woher sie dich kennt. Dein Blick fällt auf einen
der Turnschuhe der Frau, der in den Gang hineinragt
– ein sauberer, aufgeblähter weißer Reebok –, und dir ist
augenblicklich klar, wo du sie zu letzt gesehen hast. Dein
Herz fängt an zu rasen wie nach zu viel Koffein. Du wendest den Blick von ihr ab und konzentrierst dich auf deinen Vordersitz. Du klappst deinen Tisch herunter und
legst den Kopf darauf ab. Du willst nicht von dieser Frau
erkannt und ausgefragt werden.
Du achtest darauf, nicht noch einmal hinaus in den
Gang zu sehen, egal wie oft die Frau im herbstlichen Kleid
aufsteht und sich hinsetzt, egal wie oft die Flugbegleiterinnen den Gang hinunterkommen und die Frau daran
erinnern, dass sie sitzen bleiben muss. Du bestellst dir bei
einer dieser Flugbegleiterinnen ein Glas Wein und nimmst
eine Schlaftablette. Du weißt, dass man diese Tabletten
nicht zusammen mit Alkohol einnehmen soll, aber du hast
plötzlich Angst, den ganzen Flug in angespanntem Zustand zu verbringen und in Casablanca völlig gerädert anzukommen. Du schließt die Augen und denkst an Sex, wie
immer, wenn du nicht einschlafen kannst. Du sieht Körperteile aufblitzen und Szenarien – von denen du einige
aus Filmen kennst und einige selbst erlebt hast. Du denkst
an den Jungen, der nach Sonnencreme roch, den du mit
achtzehn in einer Hängematte am Strand geküsst hast, an
den Mann aus Dubrovnik, mit dem du mit fünfundzwanzig auf einer Irlandreise in einer Bar warst, an eine Szene
aus einem italienischen Film mit Jack Nicholson und einer
ausländischen Schauspielerin, deren Name dir nicht mehr
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einfällt. Du denkst an das Mädchen mit den grünen Augen
auf der Loft-Party, die mit ihrer Hand deine Brüste streifte.
Sie warf einen Blick zurück, aber du bist ihr nicht gefolgt.
Nichts davon hilft: Du kannst nicht schlafen. Die Kinder im Flugzeug schreien, vor allem das kleine Mädchen
gegenüber im Gang, das bei ihrer Mutter auf dem Schoß
sitzt. Sie hat mehrere Zöpfe, die mit Schleifen zusammengebunden sind. Normalerweise lösen Mädchen mit Zöpfen zärtliche Gefühle bei dir aus – sie erinnern dich an
deine eigene Kindheit, als deine Mutter jeden Morgen um
sechs in dein Zimmer kam, um dir zwei feste Zöpfe zu
flechten. Die Zopfenden band sie mit einem dicken ausgefransten Stück Schnur zusammen, meist in Rot oder
Gelb, passend zu deiner Schuluniform. Das alles geschah,
noch während du schliefst, weil sie vor sieben Uhr morgens bei der Arbeit sein musste. Selbst wenn du vom Bürsten oder den flinken Bewegungen ihrer Finger geweckt
wurdest, hast du dir nichts anmerken lassen. Du wusstest,
es würde sie grämen, wenn sie dich um deinen Schlaf gebracht hätte, also hast du die Augen zu gelassen und die
langsamen Atemzüge einer Schlummernden nachgeahmt.
Du warst mit einem Stipendium auf einer teuren Mädchenschule, und nicht viele andere Mütter waren berufstätig, insofern wollte sie jeder Mutter, die guckte (und geguckt wurde ständig), sagen: Ja, wir sind Mittelschicht, ja,
ich bin berufstätig, aber meiner Tochter hat es nicht geschadet – seht euch ihre ordentlichen festen Zöpfe an. Aus Gründen, die dir damals nicht klar waren, wurde deiner Zwillingsschwester kein Stipendium gewährt, und sie besuchte
die öffentliche Schule in der Nähe eurer Wohnung. Nicht,
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dass du sie jemals bemitleiden würdest: Sie war immer
hübscher (ihr seid zweieiige Zwillinge) und aufgeschlossener. Das Ergebnis dieser Kombination führte dazu, dass
sie viel öfter Ärger bekam. Sie trug die Haare kurz, selbst
wenn es gerade nicht in Mode war, aber meistens war es
das. Du dagegen hattest bis zur siebten Klasse Zöpfe.
Das Mädchen mit den Zöpfen, das gegenüber vom
Gang bei seiner Mutter auf dem Schoß sitzt, reißt dich
mit ihrem Gekreische immer wieder aus den kurzen Momenten des Schlafs. Dann folgen die Beruhigungsversuche der Mutter. Die Mutter ist fast noch lauter, als wollte
sie allen um sie herum versichern: Seht ihr, ich tu mein
Bestes. Du wirfst ihr einen abfälligen Blick zu, obwohl dir
klar ist, dass du genauso sein wirst, solltest du jemals
eigene Kinder haben – auch du wirst viel zu laut sein beim
Beruhigen. Eine Sache, die du an deiner Mädchenschule
beobachtet hast: Elternsein besteht zur Hälfte aus Show
für die anderen.
Als das Flugzeug den Sinkflug auf Casablanca beginnt,
ordnest du die Sachen in deinem Rucksack. Du musst
unbedingt von Bord gehen, ohne in die Nähe der FSU -Frau
in den aufgeblähten weißen Reeboks zu kommen. Der Geschäftsmann neben dir wacht auf und blinzelt fünfmal
hastig. Er lächelt dich an und du lächelst matt zurück,
denn du beneidest ihn um seinen Schlaf. Als das Flugzeug
landet, schwankt es nach rechts und links und findet dann
erst zu einer geraden Linie. Deine Mitreisenden applaudieren wild. Die Tür zum Cockpit ist geschlossen, sie klatschen also nicht für die Piloten. Sie klatschen, weil ihr Leben weitergeht, weil sie nicht brennend auf der Flugbahn
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liegen, weil sie nicht über dem Atlantik in Stücke gerissen
wurden. Der verstreute Applaus scheint dir eine allzu gedämpfte Feier des Lebens, also verzichtest du aufs Klatschen.
Jetzt, als alle stehen und darauf warten, von Bord gehen
zu dürfen, sind die Schreie der Kinder lauter geworden,
und die Eltern haben das Beruhigen aufgegeben. Als die
Türen des Flugzeugs aufgehen, gibt es einen merklichen
kollektiven Schub nach vorn. Alle, die noch nicht gestanden haben, stehen auf. Während du deine Sachen zusammensuchst – deinen blauen Koffer und den unscheinbaren schwarzen Stoffrucksack, der keine Aufmerksamkeit
hervorruft, beides erst gestern eigens für die Reise erstanden –, versucht sich jemand aus der Reihe hinter dir vorzudrängeln. Es ist immer dasselbe Spiel auf Flugreisen: Die
Mitreisenden applaudieren, weil sie nicht tot sind, und
dann drängeln sie sich vor, um vier Sekunden früher aussteigen zu können.
Anders als die Frauen vom Ehemaligentreffen hast du
kein Gepäck, auf das du warten musst, du kannst also
direkt an ihnen vorbei und durch den Zoll gehen. Du
sollst abgeholt werden, der Fahrer werde ein Schild haben,
hieß es. Du siehst ihn sofort, einen dünnen Mann in
schwarzen Jeans mit einem Stück vergilbtem Papier, darauf gekritzelt dein Name. Er hat deinen Namen auf die
französische Art geschrieben; das war klar. Auf deiner
Mädchenschule hast du französisch gelernt, weil eine
Pariser Erbin die Schule gestiftet hat. Jetzt, als du die Sprache deiner Jugend sprichst, stellst du fest, dass du dich an
Wörter erinnerst, von denen du gar nicht wusstest, dass
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du sie kennst, und dass du Fehler machst, die dir sofort
auffallen. Du fragst den Fahrer, wie lange die Fahrt zum
Hotel dauern werde (dreißig Minuten), wie das Wetter
gewesen sei (regnerisch), und danach gibt es wenig zu reden. Er fragt, woher du kommst, und du sagst ihm, Florida, und er sagt, er sei mal in Idaho gewesen, Verwandte
besuchen. Du lächelst und sagst, es sei schön dort. »C’est
beau là«, sagst du. Er stimmt dir zu. Du warst noch nie in
Idaho.
Draußen vor dem Fenster des Minibusses ist der Himmel weiß, das Gras grün. Die Fahrt geht vorbei an leeren
Grundstücken, an Plakaten mit Handywerbung und
Autowerbung, dann tauchen plötzlich in der Ferne die
hohen cremefarbenen Bauten von Casablanca auf. Du
siehst junge Männer beim Trampen und der Fahrer erzählt, sie seien unterwegs zur Schule und zur Uni. »Gibt
es keinen Bus?«, fragst du. »Doch«, sagt er, aber sie hätten
keine Lust, auf den Bus zu warten.
Der Verkehr in Casablanca ist schlimm, und der Fahrer
sagt, das sei normal. Du wünschst, du hättest besser aufgepasst, als er sich vorstellte, denn jetzt ist es zu spät, ihn
noch einmal nach seinem Namen zu fragen. An einer Ampel knallt ein Motorradfahrer mit tarnfarbenem Koffer
seitlich gegen das Auto. Er wollte sich weiter nach vorne
fädeln. Obwohl ihr euch mitten auf der Straße befindet,
hält der Fahrer an und steigt aus dem Auto, und die beiden streiten sich. Sie schreien sich an, und der Fahrer gestikuliert auf dramatische Weise, dann steigt er zurück ins
Auto, und die Fahrt geht ruckelnd weiter.
Die Straßen wirken jetzt chaotisch auf dich – so viele
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Lastwagen und so viel Smog und Gelegenheiten für
Motorräder, euch in die Seite zu knallen. Die Häuser
ringsum sind hässlich. Sie waren mal weiß, aber jetzt haben sie eine Rußschicht. Beim Blick aus dem Fenster gibt
es nichts zu sehen als Autos. Du kannst es kaum erwarten,
dein Hotelzimmer zu beziehen.
Der Weg führt an einem Regency Hotel der gehobenen
Klasse vorbei und an einem teuer aussehenden Sofitel,
und als der Fahrer sagt, dein Hotel sei nicht mehr weit,
freust du dich, weil du denkst, dein Hotel werde mit diesen hohen gläsernen Gebäuden mithalten können. Das
Golden Tulip, so hatte es geheißen, biete allen Komfort,
und du hast dich auf dem Hinflug und auf der ganzen
Fahrt schon auf diesen Komfort gefreut, doch der Anblick
ist enttäuschend. Das Golden Tulip hat ein glänzendes
schwarzes Portal mit zwei langen Bannern, von denen
eines das Restaurant anpreist und das andere den Pool. Es
sieht aus wie ein typisches Touristenhotel, eines von der
Sorte, in denen große Reisegruppen zwei Tage wohnen,
bevor es weitergeht in die nächste Stadt. Der Fahrer hält
vor dem Hotel, und du siehst und hörst amerikanische
und britische Touristen aus dem Haupteingang treten. Du
bist ernüchtert, aber was hast du erwartet? Dass hier Einheimische absteigen? Es ist nun mal ein Hotel.
Der Fahrer öffnet die Seitentür des Minibusses und holt
von hinten deinen Koffer. Du gibt ihm ein Trinkgeld
in US -Dollar, anderes Geld hast du nicht. Du hast am
Flughafen von Miami dreihundert Dollar abgehoben, weil
du durch deine Reisen nach Kuba und Argentinien weißt,
wie wichtig es sein kann, amerikanisches Geld in der
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Tasche zu haben. Du gibst dem Fahrer zwanzig Dollar
Trinkgeld. Später wirst du dich fragen, ob das dein erster
Fehler war.
Beim Betreten des Hotels musst du durch eine Sicherheitsschleuse – ähnlich wie am Flughafen –, lässt den
Rucksack aber auf und deinen Koffer nicht los. Pagen bieten dir an, dein Gepäck zu nehmen, und du sagst, du
kämst zurecht. Oder besser: Du lächelst und sagst: »Nein,
nein, schon gut. Schon gut.«
Entlang der Seitenwand der Lobby steht eine lange
schwarze Bank, aber davon abgesehen gibt es keine Sitzgelegenheit – keine bequem aussehenden Sofas oder Sessel. Diese Lobby ist nicht zum Verweilen gedacht. Du
gehst an die Rezeption und wartest hinter einem anderen
Pärchen. Es ist wenig los in der Lobby, deshalb verstehst
du nicht, warum die Empfangsmitarbeiter, beide in blaugrauen Anzügen, so durch den Wind sind.
Du stehst vor der Rezeption, und rechterhand bemerkst
du einen Geldautomaten und nimmst dir vor, nachher
dort marokkanisches Geld abzuheben. Als das Pärchen vor
dir aus dem Weg ist, trittst du an den Empfangstisch. Du
sagst den Empfangsmitarbeitern, du hättest ein Zimmer
reserviert. Einer der beiden Männer sagt, dein Zimmer sei
noch nicht fertig, und du wendest ein, dass man dir bei
der Reservierung zugesichert habe, vorzeitig einchecken
zu können. Einer der Männer geht ins Hinterzimmer –
ob er die Sache überprüft oder dich meidet, ist unklar. Der
andere sieht in seinen Computer. »Das Zimmer wird gerade gereinigt. Es ist in fünf Minuten fertig.«
»Fünf echte Minuten?«, fragst du. Zeit ist nicht das, was
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du darunter verstehst, sondern was das Land darunter versteht.
»Fünf amerikanische Minuten«, sagt der Mann hinter
dem Empfangstisch.
Er schiebt dir einen Zettel hin. Dort sollst du deine
Reisepassnummer eintragen. Der Mann verschwindet im
Hinterzimmer. Du vermutest, dass er noch mal wegen deines Zimmers nachfragt.
Du starrst auf das Anmeldeformular. Du holst deinen
Pass aus dem Rucksack. Dein neuer blauer Koffer steht
vor dir, und du stellst den Rucksack darauf ab und beugst
dich über den Koffer und fängst an, das Formular auszufüllen. Name, Geburtsort, Reisepassnummer, Nationalität. Als du fertig bist, ruft du dem Empfangsmitarbeiter
zu: »Ich wär dann so weit mit dem Formular.«
Er kommt zurück zur Rezeption, zeigt dir einen Computerausdruck einer Namensliste und fragt: »Welcher
Name?« Dein Name befindet sich in der unteren Hälfte
der Liste, von der du annimmst, dass es sich um eine Liste
der eintreffenden Gäste handelt, und dann streicht er
deinen Namen so gründlich durch, so gewaltsam, dass er
spurlos verschwindet. Du erhältst einen Schlüssel zu dem
Zimmer, das jetzt zur Vefügung steht, und du packst den
Griff deines Koffers, der immer noch vor dir steht.
Aber wo ist dein Rucksack?
Du schaust auf den Boden. Nichts.
Du tastest an deinen Rücken. Du drehst dich um, als
könntest du über deine Schulter hinweg ein Stück von deinem Rucksack sehen. Du sagst zu dem Mann an der Rezeption, dein Rucksack sei nicht mehr da. Du siehst auf
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den unteren Rand des Empfangstisches, der nicht bis zum
Boden reicht. Du denkst, er könnte versehentlich unter
den Empfangstisch gerutscht sein. Der Empfangsmitarbeiter sieht auf den Boden auf seiner Seite des Tisches.
Nichts.
Panik steigt in dir auf – du bist in Marokko und dein
Rucksack ist weg. Du denkst an alles, was im Rucksack
ist – Laptop, Portemonnaie mit Kreditkarten und dem gesamten Bargeld, das du in Miami abgehoben hattest. Eine
drei Monate alte Kamera. Das Buch aus der Bibliothek.
Deine Kosmetiksachen. Ein kleines Paar Korallenohrringe. Die Inventarliste des abhandengekommenen Inhalts
wird immer länger, und du vergisst zu atmen.
Du versuchst dem wenig hilfsbereiten Empfangsmitarbeiter zu erklären, was los ist. Er weist darauf hin, dass einer der Pagen den Rucksack ins falsche Zimmer gebracht
haben könnte. Er sagt etwas zu den jungen adretten marokkanischen Pagen. Die Pagen weisen darauf hin, dass du
ihn im Minibus vergessen haben könntest; sie sagen, der
Wagen stehe noch draußen vor der Tür. Du glaubst eigentlich nicht, dass du ihn im Bus vergessen hast, denn du hast
an der Rezeption deinen Pass ja aus dem Rucksack genommen, oder? Vielleicht hattest du den Pass schon in der
Hand. Du bist so erschöpft, dass du gar nichts mehr sicher
sagen kannst. Jede Geschichte scheint plausibler zu sein
als deine eigene.
Du folgst einem der Pagen aus dem Hotel. Passanten
gehen an dir vorbei – die Stadt ist voller Menschen –, aber
du nimmst keines der Gesichter wahr. Dort, eine Farbe,
Rot. Dort ein gelber Hidschab. Als du zum Bus kommst,
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