Kein Ort, nirgends Kein Ort, nirgends

ReiseJournal
DAS REISE-MAGAZIN DER RHEIN MAIN PRESSE | SAMSTAG, 12. SEPTEMBER 2015
Spektakulär ist die
Passage durch das Hells
Gate, das Höllentor.
Fotos: Marc Vorsatz
Ort
Kein
,
nirgends
KANADA Eine Kanutour
auf dem South Nahanni River
führt durch eine der spektakulärsten
und einsamsten Landstriche des Landes
Was für Bergsteiger
der Everest, ist für Kanuten
der Nahanni
g
flugzeu
Wasser
Mit dem die Kanuten in
werden nis gebracht.
die Wild
Zu Füßen der Funeral Range,
der Gebirgskette der Begräbnisse,
zwischen dem vierten und dritten
Canyon schlagen wir unser Zeltlager auf. Im Handumdrehen haben Jenn und Rob die Küche gezimmert: Zwei Kanus kopfüber
im rechten Winkel, eine Zeltplane als Dach, das war’s. Und
schon brutzeln sie saftige Steaks,
Bohnen, Speck und Folienkartoffeln. An den ersten Tagen gibt es
sogar noch einen knackigen Salat dazu. Für Jenn als überzeugte
Vegetarierin mit Glutenallergie
wird extra gekocht. Und als ob
dies alles noch nicht genug des
Guten wäre, backen die beiden
einen leckeren Kuchen in einem
altmodischen Backwunder, das
sie an Ober- und Unterseite mit
glühender Holzkohle befeuern.
Angekommen
im Wilden Westen
Während wir am Lagerfeuer auf
unseren herrlich duftenden Walnusskuchen warten, singt Rob im
Kreis zur Gitarre. Handgemachte
Songs aus fast vergessenen Tagen: Bad Moon Rising von Creedence Clearwater Revival, Songs
von Johnny Cash und immer wieder Bruce Springsteen. „I’m On
Fire“ sollte unser Nahanni Song
werden. Schon beim zweiten Zuhören summen wir mit. Oh, oh,
oh, I’m on fire… Endlich sind wir
angekommen im Wilden Westen.
In seiner nördlichsten Ecke, die
größer ist als jedes Land in Europa und sich dem menschlichen
Einfluss bis heute erfolgreich zu
entziehen vermochte.
Vor den Virginia Falls im Hintergrund werden die Kanus startklar gemacht.
(c).
Auch morgens geht es eher sterblichen Überreste seiner Brüstimmungsvoll zu. Kein Stress. der – beide enthauptet.
Wer mag, nimmt ein erfrischenViele Abenteurer sollten dieses
des Bad, versucht sein Glück grausige Schicksal teilen. Der
beim Fischen, beobachtet ein schwedische Goldsucher Martin
paar Waldkaribus auf der Anhö- Jorgenson zum Beispiel. Gefunhe oder macht einfach – nix – den 1917, ohne Kopf. Bis in die
außer, auf die frisch gebackenen
Baguettes zu warten.
Eine moderate Strömung trägt − Anzeige −
uns gemütlich flussabwärts. Wir
paddeln hindurch zu Füßen der
Headless Range, der Gebirgskette der Kopflosen, vorbei an
einem Saum aus bunten Blüten
und hinein in den gewaltigen
dritten Canyon.
Mythen und
Gruselgeschichten
Beim Schein des Lagerfeuers erzählt uns Jenn vom kriegerischen
Volk der Naha, das hier irgendwann auf mysteriöse Weise für
immer spurlos verschwand. Von
einer mächtigen unentdeckten
Goldader, die Abenteurern des
vergangenen Jahrhunderts unermesslichen Reichtum versprach und doch nur den Tod
brachte. Von Legenden und historisch belegten Ereignissen, die
sich im Nahanni für immer auf
untrennbare Weise miteinander
verwoben haben.
Gruslige Geschichten, wie die
der McLoad-Brüder, die eine
ganz reale ist: 1905 folgten Willie
und Frank McLoad dem Lockruf
des Goldes. Als man nie wieder
etwas von ihnen hörte, machte
sich ihr Bruder Charly 1908 auf
die Suche. Monate später fand er
schließlich ihr Zeltlager. An
einem Baum lehnte noch ihr inzwischen längst verrostetes Gewehr, dann entdeckte er die
Verlagsgruppe Rhein Main GmbH & Co. KG 2003-2013 / Erstellt von VRM am 16.09.2015
ORT MPSL © www.Thomas-Bichler.de
S
chon der Beginn unserer Tour gestaltet sich
recht abenteuerlich. Im
Provinznest Fort Simpson treffen wir unsere
Guides, die Umweltwissenschaftlerin Jenn Redvers und
den angehenden Biologen Robert Norton sowie zwei erfahrene Hobby-Paddler mit Sinn fürs
Außergewöhnliche aus Ottawa.
Die Begrüßung ist herzlich, die
Chemie stimmt.
Wir müssen unsere drei Kanus
und gefühlte 100 unmenschlich
schwere Fässer in ein kleines
Wasserflugzeug bugsieren. Zu guter Letzt krabbeln wir selbst in
die Twin Otter, diesen unverwüstlichen Allesflieger made in
Kanada. Keine Maus würde da
mehr reinpassen und wir gurten
uns irgendwie zwischen Booten,
Proviant und Isomatten fest. Minuten später haben wir die Zivilisation verlassen und bekommen
eine leise Vorahnung von dem,
was uns in den nächsten Tagen
erwartet: Wildnis pur, soweit das
Auge reicht. Und kein einziger
Ort. Nirgends.
Unser einstündiger Flugg endet
mit einer gekonnten Ehrenrunde
knapp über den höchsten
n
Wasserfällen
von
Nordamerika,
deen
ntVirginia Falls. Die en
asfesselten Wasserma
sen des Nahanni sttürzen 92 Meter senkreecht
in die Tiefe. Damit ssind
hoch
sie fast doppelt so h
wie die Niagarafälle und
werden trotzdem nur von
ahr be950 Urlaubern pro Ja
andung
sucht. Auch die La
unseren
kitzelt gehörig an u
M
Nerven. Wir setzen nur 300 Meter vor der Abbruchkante auf.
Genau dort, wo das Wasser langsam Fahrt aufnimmt in Richtung
Abgrund.
Doch all das sollte nur die Ruhe
vor dem Sturm gewesen sein. Vor
den Unterlauf des Nahanni hat
Gott ja die Virginia Falls gesetzt.
Wir müssen unsere Kanus und
sämtliches Gepäck 113 Höhenmeter hinunter schleppen. Anschließend beladen wir die Kanadier randvoll und zwängen uns in
die wasserdichten Neoprenanzüge. Schutzhelme aufgesetzt,
schnell ein Gruppenfoto geknipst
und los geht’s. Sofort werden wir
von der Strömung des Weißwassers mitgerissen, rauschen durch
die tiefe Schlucht des vierten
Canyons und haben dabei überraschend enge Kurven zu meistern.
Nach den ersten sportlichen Kilometern wird der Fluss deutlich
breiter und ruhiger. Wir nehmen
unsere Schutzhelme ab und finden Zeit für die schwergewichtigen Trompeterschwäne mit den
markanten schwarzen Schnäbeln. Ein paar Etagen weiter
oben, hoch über dem Canyon,
zieht lautlos ein Weißkopfseeadler seine Bahn. Er sucht wohl das
milchige Wasser nach Arktischen
Äschen und Amerikanischen
Seesaiblingen ab.
1960er-Jahre währte dieser Spuk.
Unser nächster Morgen im DeStoff genug für die fantastischs- adman Valley, Tal des Toten Manten Theorien bis in die Gegen- nes, beginnt mit einem Mordsschreck. Wir hatten Besuch in
wart.
Andere überlebten den Nahan- der Nacht. Direkt vor unserem
ni. In den 1920er-Jahren machte kleinen Zelt grub ein Schwarzbär
sich der britische Oxford-Absol- seine Tatzen tief in den Sand. Wir
vent, Kurzzeit-Banker und Lang- nehmen uns fest vor, künftig
zeit-Abenteurer Raymond M. auch nachts, falls die Natur ihren
Patterson mit einem Kanu auf die Tribut fordern sollte, mit BärenSuche nach der sagenhaften spray bewaffnet hinterm Busch
McLoad-Mine und fand nichts zu verschwinden. Unsere Küals pure Wildnis. Drei Jahrzehnte chenkanus hat der ungebetene
später verhalf er dem bis dahin Gast besonders intensiv bevöllig unbekannten Fluss zu schnuppert. 300 Meter müssen
einem Platz in der
die von den Zelten
Weltliteratur: 1954
entfernt liegen und
sämtliche Lebensmitveröffentlichte er seiDie Virginia tel hermetisch verriene Erinnerungen in
gelt werden. Das ist
dem Buch „The DanFalls sind
gerous River“, der geVorschrift in Kanada
fährliche Fluss.
macht Sinn.
doppelt so hoch und
Und das ist er auch
Der erste Canyon,
unser letzer, sollte
heute auf gewisse
wie die
noch einmal alles an
Weise noch. Vor jeder größeren StromNiagarafalls. Größe und Erhabenschnelle
beraten
heit in den Schatten
Kanada
Jenn und Rob gewisstellen, was wir bis
senhaft, wie diese am sichers- dahin erlebten. Bis zu 900 Meter
ten zu passieren sei. Mit tief hat sich der Nahanni hier in
USA
oder ohne Helm? Auf den Kalk- und Sandstein gefräst
kürzestem Weg mit Ka- und sich dafür 200 Millionen Jahracho durchs Weiß- re Zeit gelassen. Mit Ehrfurcht
Kanada
wasser oder doch lie- paddeln wir durch dieses überBehchoko
ber ganz ruhig in gro- wältigende Massiv und erfreuen
Virginia Falls
Yellowknife
ßem Bogen umfah- uns des Privilegs, zu den wenigen
Fort Simpson
Abenteuerlustigen auf dieser
ren?
Great
Im zweiten Canyon Welt zu gehören, die das mit eigeSlave
Nahanni Butte
wartet die vielleicht nen Augen gesehen haben.
Lake
W MARC VORSATZ
beeindruckendste Passage auf uns: Hell’s
Gate, das Höllentor,
StepMap, 123map – Daten OpenINFORMATION
streetmap, Lizenz Odbl 1.0
politisch korrekt The
W Anreise: Zum Beispiel mit
Gate. Aber das sagt niemand.
Der Nahanni muss sich hier
durch zwei fast senkrecht emporstehende, 460 Meter hohe Steilwände zwängen und gewinnt dabei ordentlich an Geschwindigkeit. Spätestens an dieser Stelle
glauben wir den Slogan der
internationalen
Kanu-Szene:
„Was für Bergsteiger der Everest,
ist für Wasserwanderer der Nahanni“. Eines der letzten großen
Abenteuer unserer Zeit im
gleichnamigen Nahanni National Park Reserve, der 1978 von
der Unesco zum ersten Weltnaturerbe überhaupt gekürt wurde.
Die Durchfahrt ist wahrhaft
atemberaubend. Wir sausen
durch die enge Schlucht, deren
Wände höher in den Himmel ragen als die meisten Fernsehtürme dieser Welt. Hat der Nahanni River das Höllentor erst passiert, verleiht ihm der offene
Canyon sogleich Weite und Ruhe.
Air Canada von Frankfurt via
Calgary nach Yellowknife für
circa 1 350 Euro. Weiterflug
nach Fort Simpson mit First Air,
ab circa 500 Euro.
W Pauschal: 12-tägige Kanu-
tour von / bis Fort Simpson. Inkl.
Flug mit Wasserflugzeug zu den
Virginia Falls, Kanu und Zubehör (2er-Nutzung), 2-PersonenZelt, Vollverpflegung, geführten
Wanderungen, zwei englischsprachigen Guides, Transfers
beim Kanada-Spezialisten Pioneer Tours aus Tübingen. Preis
ab 5 208 Euro. www.pioneertours.de.
W Unterkunft: Wer komforta-
bel in der Wildnis ausspannen,
wandern oder angeln will, dem
sei die sehr persönlich geführte
Yellow Dog Logde von Gordon
Gin am Duncan Lake empfohlen. 1 Wo. inkl. Anreise mit Wasserflugzeug ab Yellowknife, VP,
Hot Tub, Sauna, Booten, guter
Angelausrüstung ab 2 100
Euro, www.yellowdoglodge.ca.
w www.keepexploring.de