TITEL Candidate Experience Eine gute Visitenkarte abgeben Ungeachtet des Berater-Hypes tasten sich erst wenige Unternehmen an das Thema Candidate Experience heran. Ob aus Überzeugung oder Leidensdruck, sei dahingestellt. Die Beispiele in diesem Beitrag zeigen, wie und warum sich die Beschäftigung mit Candidate Experience für Unternehmen künftig auszahlen kann. 18 08 | 2015 www.personalwirtschaft.de ie begehrten Uni-Events sprechen sich herum. Wie intensiv die Firma Kontakte zu ausgewählten Kandidaten pflegt, um sie später in den Auswahlprozess einzuschleusen, gilt als beispielhaft. Für viele High Potentials ist der amerikanische Konsumgüterhersteller, der hier nicht genannt werden möchte, ein idealer Arbeitgeber. Zu Hunderten stapeln sich Initiativbewerbungen in der Personalabteilung. „Doch so gut wir offline auch sind“, sagt die Talent Managerin hinter vorgehaltener Hand, „online sieht es ganz anders aus.“ Die Karrierewebsite – ein einziges Desaster. Kein Einzelfall: Was die meisten Unternehmen ihren Bewerbern zumuten, ist Ausdruck sträflicher Ignoranz. Hier lässt die Eingangsbestätigung wochenlang auf sich warten, dort verzichtet man gleich gänzlich auf Feedback. Entweder versteckt sich der Link auf die Karrierewebsite neben dem Impressum oder Interessenten finden relevante Informationen erst drei Ebenen unterhalb der Homepage. „Eigentlich müssten sich Unternehmen bei sich selbst bewerben“, empfiehlt der Heidelberger RecruitingExperte Wolfgang Brickwedde, „um die denkwürdigen Zustände endlich zu erkennen.“ D Wertschätzung nicht nur per Web Robindro Ullah hat sich mit zahlreichen Bewerbern intensiv über ihre Erfahrungen unterhalten. Wie der langjährige Recruiting und Employer Branding-Praktiker und frisch gebackene Berater der Deutschen Employer Branding Akademie in seinem in wenigen Monaten veröffentlichten Buch darlegt, gehen die kritischen Anmerkungen von Kandidaten weit über den Webkanal hinaus. Moniert werde etwa, dass nicht genug Parkplätze zur Verfügung stünden, wenn zum Interview oder Assessment Center eingeladen wird. Gar nicht gut käme an, die Wartezeit in Ämtern gleichen Fluren verbringen zu müssen, statt in angenehmer Atmosphäre bei einem freundlich gereichten Kaffee. An Selbstbewusstsein mangelt es Kandidaten offenkundig nicht. „Kandidaten möchten als Person wahrgenommen werden und ihre persönlichen Stärken zeigen“, erläutert Ullah. Für die allermeisten sei der Bewerbungsprozess ein „individuelles Erlebnis“. Deshalb entwickle sich das Recruiting zusehends zum Vertriebsgeschäft. „Der Bewerber wird zum Kunden und der Job zum Produkt“, klärt Ullah auf. Davon überzeugt ist auch der deutsche Pharmakonzern Boehringer Ingelheim. Er will sein Recruitingsystem künftig auf die Candidate Experience (CE) ausrichten. Erste Ansätze zeigen, wie das funktionieren könnte: So brauchen Bewerber nicht mehr seitenlange Formulare auszufüllen. „Was wir abfragen, ist auf das Äußerste beschränkt. Das dreht sich zum Beispiel um konkrete Anforderungen der Stelle oder die Schulnote“, sagt Birger Meier, Referent für Talentwerbung. Der Firma geht es auch um höhere Transparenz. Wie beim Tracking von Paketsendungen seien Bewerber stets auf dem Laufenden, wie weit der Bewerbungsprozess fortgeschritten ist. „Bleibt eine Frage offen, muss nicht lange nach Ansprechpartnern gesucht werden“, verspricht Meier. Austausch zwischen Bewerbern und Mitarbeitern Wie man auf Erwartungen von Kandidaten eingeht, weiß auch Florian Schrodt ziemlich gut. Bei der Deutschen Flugsicherung (DSF) hat er dafür gesorgt, dass Bewerber nicht nur gute Erfahrungen auf Online-Kanälen sammeln, sondern dieser Eindruck quasi als Brückenschlag auch im unmittelbaren Kontakt auf Messen und Events gewonnen werden kann. On- und offline, sagt Schrodt, „ stünden stets Ansprechpartner zur Verfügung. „Bei Bedarf werden auch Mitarbeiter eingebunden, die Einblick gewähren. So konnten wir die Bindung zwischen Bewerbern und Unternehmen intensivieren.“ Schrodt, der für seine Ideen bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ist inzwischen als Leiter Personalmarketing und Recruiting zur Versicherung Direct Line gewechselt. Mit dem Begriff Candidate Experience kann er sich nicht richtig anfreunden. Lieber würde er ihn gegen eine „Joint Experience“ austauschen, die Kandidaten und Mitarbeiter gemeinsam in den Blick nehme. „Von Mitarbeitern können Kandidaten am besten erfahren, wie es sich anfühlt, bei einem Unternehmen zu arbeiten, was sie bewogen hat, dort einzusteigen, und was sie bei der Arbeit wirklich antreibt“, lautet seine Begründung. Dieser Gedanke ist auch Leitmotiv für die Targobank. Sie versucht, die Kommunikation mit Ausbildungsplatzbewerbern zu verbessern und damit auch auf die Erfahrungen von jungen Interessenten Einfluss zu nehmen. Dabei spielen die Azubis der Bank eine wichtige Rolle. Im dritten Ausbildungsjahr leiten sie, begleitet von erfahrenen Kollegen, für zwei Wochen selbstständig eine Filiale. Die von Azubis entwickelte Idee ist in einen Test eingebaut, der einen realen Filialalltag simuliert. „Ziel ist es, die Kompetenz von Bewerbern im Rechnen, der Rechtschreibung und im sprachlichen Ausdrucksvermögen zu ermitteln. Gleichzeitig können sie das Filialgeschäft kennenlernen“, beschreibt Personalleiter Lars Goebel das Konzept. Und verspricht: „Nach drei Tagen erhalten die Teilnehmer ihr Testergebnis.“ Deshalb schulen wir Mitarbeiter, in erster Linie wertschätzend mit Bewerbern umzugehen, nicht zuletzt bei Absagen. Das soll ab dem ersten Kontakt mit Bewerbern Leitlinie sein. Lars Goebel, Personalleiter, Targo Bank 08 | 2015 www.personalwirtschaft.de 19 TITEL „ Candidate Experience Bei Bedarf werden auch Mitarbeiter eingebunden, die Einblick gewähren. So konnten wir die Bindung zwischen Bewerbern und Unternehmen intensivieren. Florian Schrodt, Leiter Personalmarketing & Recruiting, Direct Line Versicherungen Schnelligkeit, sagt Goebel, sei im Internetzeitalter das A und O und wirke sich ganz besonders auf die Candidate Experience aus. Freilich lauere hier das Risiko zu schludern. Die Aufgabe bestehe darin, hochgradig automatisierte Prozesse mit vorbildlicher Kommunikation zu kombinieren. „Deshalb schulen wir Mitarbeiter, in erster Linie wertschätzend mit Bewerbern umzugehen, nicht zuletzt bei Absagen. Das soll ab dem ersten Kontakt mit Bewerbern Leitlinie sein.“ Bedeutung von CE noch nicht erkannt Trotz solch löblicher Ansätze besteht im Personalbereich der Wirtschaft in punkto Candidate Experience großer Handlungsbedarf, meint Christoph Athanas, Geschäftsführer der Berliner Unternehmensberatung Meta HR. Seiner Bilanz zufolge könne eine kleinere Gruppe bereits Projekte vorweisen. Sie hätte verstanden, dass die Arbeitgeberkommunikation nicht durch gegenteilige Erfahrungen von Kandidaten im Bewerbungsprozess konterkariert werden darf. Eine weitere Gruppe entdecke laut Athanas das Thema aus der Defizitperspektive. „Die Unternehmen berichten über Baustellen, wissen aber oft noch nicht, wie sie konkret vorgehen können.“ Die dritte Gruppe schließlich zeige sich eher desinteressiert. Den Verantwortlichen liegt das Thema noch zu fern. Athanas: „Ich vermute, diese Unternehmen sind noch in der Mehrzahl.“ Skeptisch ist auch Peter Wald, Professor für Personalmanagement an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Zusammen mit Meta HR hat er die erste Candidate Experi20 08 | 2015 www.personalwirtschaft.de ence-Studie durchgeführt. Sie gilt vielen Praktikern als Benchmark. „Seit Jahren höre ich von meinen Studenten, dass sie eher negative als positive Erfahrungen bei Bewerbungen sammeln.“ Bereits vor vier Jahren, als der Begriff Candidate Experience noch nicht en vogue war, teilten Studenten und Absolventen in einer Umfrage mit, sie würden binnen zwölf Stunden mit dem ersten Feedback nach einer Bewerbung rechnen. „Rein technisch beurteilt, dürfte dies auch realisierbar sein“, bekräftigt Wald. Der Hochschullehrer beobachtet, dass Unternehmen versuchen, sich als Arbeitgeber in „möglichst positivem Licht“ darzustellen. Wie viel davon lediglich vorgetäuscht sei, erweise sich am „Tag der Wahrheit“, wenn der Bewerber zum ersten Mal als Mitarbeiter in Erscheinung trete. „Teilweise sind die neuen Kollegen nur unzulänglich vorbereitet und fühlen sich gar nicht willkommen.“ Verpflichtung zum respektvollen Umgang Um das zu verhindern, haben die Personaler von Ista frühzeitig Weichen gestellt. Die aufstrebende Essener Firma ist auf die Erfassung von Daten für den Stromund Wasserverbrauch spezialisiert und beschäftigt weltweit 4600 Mitarbeiter. Laut Ista-Personalleiterin Anette Kreitel-Suciu hat HR eine wichtige Rolle im Briefing und Coaching der Fachberei- „ che, wie sich der Recruitingprozess gestalten sollte. „Es reicht nicht aus, wenn der Personalbereich oder prozessunterstützende HR Tools für das Versprechen des attraktiven Arbeitsgebers stehen.“ Vielmehr seien alle am Recruitingprozess beteiligten Mitarbeiter und Führungskräfte gefragt: als „Botschafter des Unternehmens“ nach innen und außen. Candidate Experience ist für KreitelSuciu weniger ein Personalmarketingund Recruiting-Instrument. Vielmehr versteht sie darunter die Verpflichtung und Umsetzung eines wertschätzenden und respektvollen Umgangs mit Kandidaten in allen Phasen des Recruitingprozesses: von der schnellen Sichtung von eingehenden Bewerbungen oder Kandidatenprofilen von Personaldienstleistern, über die zügige Rückmeldung bis hin zu einem freundlichen persönlichen Empfang. „Wir betrachten Bewerber als Gäste, die wir willkommen heißen und die sich bei uns wohl fühlen sollen.“ Wer würde dem widersprechen: So in etwa könnte eine vorbildliche „Candidate Journey“ tatsächlich aussehen. Überall dort, wo Unternehmen und Kandidaten in Kontakt treten, können sich Unternehmen verbessern. Viele schauen dabei lediglich auf digitale „Touchpoints“, doch das greift zu kurz. Entscheidend seien vor allem nicht-digitale Kontaktpunkte wie erreichbare und persönliche Ansprechpartner in HR, gut organisierte Interviews mit gut vorbereiteten Teilnehmern oder Unterstützungsangebote für Bewerber mit Mobilitätseinschränkungen, nennt BoehringerTalentwerber Meier einige Beispiele. Ganz wesentliche Kontaktpunkte seien „aus Fleisch und Blut“. Viele Unternehmen wissen nicht, wofür sie eigentlich stehen, und können deshalb ihre Werte nicht überzeugend nach innen und außen vermitteln. Tobias Ortner, Leiter Personalmarketing und Recruiting, BFFT Boehringer ist es wichtig, die Arbeit an einer besseren Candidate Experience auch in Zahlen zu fassen. Neben der Beobachtung, wie das Unternehmen in sozialen Medien wie etwa Kununu wahrgenommen wird, lege man Meier zufolge auch Wert darauf, systematisch die Zufriedenheit unter Kandidaten und Führungskräften zu messen. Zusätzlich würden Service Level Agreements definiert. „Beispielsweise garantieren wir jedem Bewerber, in einem definierten Zeitraum Feedback zu erhalten.“ CE als Markenerlebnis Für Meier ist Candidate Experience nicht zuletzt auch ein Markenerlebnis. Markenwerte, die – wie etwa das Caring („Wir kümmern uns um Dich“) – für Boehringer als Pharmaunternehmen stehen, würden auf das Bewerbererlebnis übertragen. „Alle Personen, die mit Bewerbern in Kontakt treten, lernen das glaubwürdig umzusetzen.“ Ein wichtiger Aspekt auch für Tobias Ortner, er verantwortet Personalmarketing und Recruiting beim Fahrzeugelektronikentwickler BFFT in Gaimersheim. „Viele Unternehmen wissen nicht, wofür sie eigentlich stehen, und können deshalb ihre Werte nicht überzeugend nach innen und außen vermitteln.“ Zusammen mit seinem Team investiert Ortner „viel Herzblut“ in das Thema Werte. Ziel sei es, die Arbeitgebermarke noch stärker herauszuarbeiten, nicht zuletzt im Sinne einer optimalen Candidate Experience, die erst ein Matching zwischen den Erwartungen und Werten des Unternehmens und jenen der Kandidaten herstellen könne. „Nur dann verstehen Kandidaten auch, worauf sie sich „ „ Wir betrachten Bewerber als Gäste, die wir willkommen heißen und die sich bei uns wohl fühlen sollen. Anette Kreitel-Suciu, Personalleiterin, Ista einlassen“, ist sich Ortner ziemlich sicher. Diesen Ansatz verfolgt auch Schrodt bei Direct Line: Im Interesse eines besseren Matchings wurde die Ansprache von Kandidaten, der Beziehungsaufbau und die fortlaufende Kontaktpflege bis zum Onboarding bereits deutlich verbessert. Warum der Fokus auf Candidate Experience so wichtig ist, beschreibt Michael Witt, Teamleiter Recruiting von Voith Industrial Services in Stuttgart. Wenn er die wichtigen Touchpoints im Recruitingprozess lokalisiert, um anschließend deren User Experience auf den Prüfstand zu stellen, richtet sich sein Augenmerk vor allem auf eine stark umworbene Kandidatengruppe: dual ausgebildete technische Fachkräfte. Sobald sie sich auf die Suche nach Informationen über die Firma begeben, dürften ihnen weder Medienbrüche noch umständliche Prozesse im Wege stehen. „Neben dieser technischen Komponente gehören zum Kern einer funktionierenden Candidate Experience auch persönliche Kontakte mit Unternehmensvertretern, eine schnelle qualitative Rückmeldung zu Bewerbungsverfahren oder auch ganz einfach erreichbare Recruiter“, fasst Witt zusammen. Bewerber wie Kunden behandeln Aus bisher bekannten praktischen Beispielen lässt sich ermessen, welcher Zündstoff in der Thematik steckt. Bera- Dank Social Media und der hinzugewonnenen Transparenz sind Fehler in diesem Bereich einfach zu teuer geworden und könnten die Reputation eines Unternehmens nachhaltig schädigen. Robindro Ullah, Leiter Employer Branding Operations und Recruiting, DEBA ter Athanas empfiehlt Unternehmen, denen an einer besseren Candidate Experience gelegen ist, vieles aus dem Umgang mit Kunden etwa im Verkaufsprozess auf den Umgang mit Kandidaten zu übertragen. Grundsätzlich sollten Personaler „Hürden abbauen, Transparenz schaffen und überlegen, an welchen Kontaktpunkten sie hohen Komfort auch aus Sicht von Bewerbern realisieren können“. Berater Ullah schließt sich an: Wichtig sei zu verstehen, dass sich Candidate Experience nicht zuletzt um Kundenzufriedenheit dreht und der Kauf eines Produktes – die Entscheidung für einen Arbeitgeber – ein positives Erlebnis sein sollte. „Dank Social Media und der so hinzugewonnenen Transparenz sind Fehler in diesem Bereich einfach zu teuer geworden und könnten die Reputation eines Unternehmens nachhaltig schädigen.“ Wie man mit Bewerbern und Mitarbeitern umgehe, fügt Hochschullehrer Wald hinzu, strahle nicht nur auf die Arbeitgeber- und Unternehmensmarke aus. „Es beeinflusst womöglich auch Kaufentscheidungen.“ Vor allem Mittelständlern mangele es Wald zufolge noch an Sensibilität in Personalfragen. Wie Insider beobachten, hat die Nachfrage nach Experten für Candidate Experience spürbar angezogen. Sie sollen nun die in ersten Projekten gewonnenen Erkenntnisse operativ umsetzen und in den Regelbetrieb übernehmen. Targobank-Personalchef Goebel warnt seine Berufskollegen: Candidate Experience zu optimieren bedeute auch, sich mit internen Widerständen zu befassen. „Als Personaler muss man Standing zeigen und sich durchsetzen. Das kostet nichts, nur Nerven.“ Winfried Gertz, freier Journalist, München 08 | 2015 www.personalwirtschaft.de 21
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