Eine gute Visitenkarte abgeben

TITEL
Candidate Experience
Eine gute Visitenkarte abgeben
Ungeachtet des Berater-Hypes tasten sich erst wenige Unternehmen an das Thema
Candidate Experience heran. Ob aus Überzeugung oder Leidensdruck, sei dahingestellt.
Die Beispiele in diesem Beitrag zeigen, wie und warum sich die Beschäftigung mit
Candidate Experience für Unternehmen künftig auszahlen kann.
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ie begehrten Uni-Events sprechen
sich herum. Wie intensiv die Firma
Kontakte zu ausgewählten Kandidaten
pflegt, um sie später in den Auswahlprozess einzuschleusen, gilt als beispielhaft. Für viele High Potentials ist der
amerikanische Konsumgüterhersteller,
der hier nicht genannt werden möchte,
ein idealer Arbeitgeber. Zu Hunderten
stapeln sich Initiativbewerbungen in der
Personalabteilung. „Doch so gut wir offline auch sind“, sagt die Talent Managerin hinter vorgehaltener Hand, „online
sieht es ganz anders aus.“ Die Karrierewebsite – ein einziges Desaster.
Kein Einzelfall: Was die meisten Unternehmen ihren Bewerbern zumuten, ist
Ausdruck sträflicher Ignoranz. Hier lässt
die Eingangsbestätigung wochenlang
auf sich warten, dort verzichtet man
gleich gänzlich auf Feedback. Entweder
versteckt sich der Link auf die Karrierewebsite neben dem Impressum oder Interessenten finden relevante Informationen erst drei Ebenen unterhalb der
Homepage. „Eigentlich müssten sich
Unternehmen bei sich selbst bewerben“,
empfiehlt der Heidelberger RecruitingExperte Wolfgang Brickwedde, „um die
denkwürdigen Zustände endlich zu
erkennen.“
D
Wertschätzung nicht nur per Web
Robindro Ullah hat sich mit zahlreichen
Bewerbern intensiv über ihre Erfahrungen unterhalten. Wie der langjährige
Recruiting und Employer Branding-Praktiker und frisch gebackene Berater der
Deutschen Employer Branding Akademie in seinem in wenigen Monaten veröffentlichten Buch darlegt, gehen die kritischen Anmerkungen von Kandidaten
weit über den Webkanal hinaus. Moniert
werde etwa, dass nicht genug Parkplätze
zur Verfügung stünden, wenn zum Interview oder Assessment Center eingeladen wird. Gar nicht gut käme an, die Wartezeit in Ämtern gleichen Fluren
verbringen zu müssen, statt in angenehmer Atmosphäre bei einem freundlich
gereichten Kaffee. An Selbstbewusstsein
mangelt es Kandidaten offenkundig nicht.
„Kandidaten möchten als Person wahrgenommen werden und ihre persönlichen Stärken zeigen“, erläutert Ullah.
Für die allermeisten sei der Bewerbungsprozess ein „individuelles Erlebnis“. Deshalb entwickle sich das Recruiting zusehends zum Vertriebsgeschäft. „Der
Bewerber wird zum Kunden und der Job
zum Produkt“, klärt Ullah auf.
Davon überzeugt ist auch der deutsche
Pharmakonzern Boehringer Ingelheim.
Er will sein Recruitingsystem künftig
auf die Candidate Experience (CE) ausrichten. Erste Ansätze zeigen, wie das
funktionieren könnte: So brauchen
Bewerber nicht mehr seitenlange Formulare auszufüllen. „Was wir abfragen,
ist auf das Äußerste beschränkt. Das
dreht sich zum Beispiel um konkrete
Anforderungen der Stelle oder die Schulnote“, sagt Birger Meier, Referent für
Talentwerbung. Der Firma geht es auch
um höhere Transparenz. Wie beim Tracking von Paketsendungen seien Bewerber stets auf dem Laufenden, wie weit der
Bewerbungsprozess fortgeschritten ist.
„Bleibt eine Frage offen, muss nicht lange nach Ansprechpartnern gesucht werden“, verspricht Meier.
Austausch zwischen Bewerbern
und Mitarbeitern
Wie man auf Erwartungen von Kandidaten eingeht, weiß auch Florian Schrodt
ziemlich gut. Bei der Deutschen Flugsicherung (DSF) hat er dafür gesorgt,
dass Bewerber nicht nur gute Erfahrungen auf Online-Kanälen sammeln, sondern dieser Eindruck quasi als Brückenschlag auch im unmittelbaren Kontakt
auf Messen und Events gewonnen werden kann. On- und offline, sagt Schrodt,
„
stünden stets Ansprechpartner zur Verfügung. „Bei Bedarf werden auch Mitarbeiter eingebunden, die Einblick gewähren. So konnten wir die Bindung
zwischen Bewerbern und Unternehmen
intensivieren.“
Schrodt, der für seine Ideen bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, ist inzwischen
als Leiter Personalmarketing und Recruiting zur Versicherung Direct Line
gewechselt. Mit dem Begriff Candidate
Experience kann er sich nicht richtig
anfreunden. Lieber würde er ihn gegen
eine „Joint Experience“ austauschen, die
Kandidaten und Mitarbeiter gemeinsam
in den Blick nehme. „Von Mitarbeitern
können Kandidaten am besten erfahren,
wie es sich anfühlt, bei einem Unternehmen zu arbeiten, was sie bewogen hat,
dort einzusteigen, und was sie bei der
Arbeit wirklich antreibt“, lautet seine
Begründung.
Dieser Gedanke ist auch Leitmotiv für
die Targobank. Sie versucht, die Kommunikation mit Ausbildungsplatzbewerbern zu verbessern und damit auch auf
die Erfahrungen von jungen Interessenten Einfluss zu nehmen. Dabei spielen
die Azubis der Bank eine wichtige Rolle. Im dritten Ausbildungsjahr leiten sie,
begleitet von erfahrenen Kollegen, für
zwei Wochen selbstständig eine Filiale.
Die von Azubis entwickelte Idee ist in
einen Test eingebaut, der einen realen
Filialalltag simuliert. „Ziel ist es, die
Kompetenz von Bewerbern im Rechnen,
der Rechtschreibung und im sprachlichen Ausdrucksvermögen zu ermitteln.
Gleichzeitig können sie das Filialgeschäft
kennenlernen“, beschreibt Personalleiter Lars Goebel das Konzept. Und verspricht: „Nach drei Tagen erhalten die
Teilnehmer ihr Testergebnis.“
Deshalb schulen wir Mitarbeiter, in erster Linie
wertschätzend mit Bewerbern umzugehen,
nicht zuletzt bei Absagen. Das soll ab dem ersten
Kontakt mit Bewerbern Leitlinie sein.
Lars Goebel, Personalleiter, Targo Bank
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Candidate Experience
Bei Bedarf werden auch Mitarbeiter
eingebunden, die Einblick gewähren.
So konnten wir die Bindung zwischen
Bewerbern und Unternehmen intensivieren.
Florian Schrodt, Leiter Personalmarketing & Recruiting, Direct Line Versicherungen
Schnelligkeit, sagt Goebel, sei im Internetzeitalter das A und O und wirke sich
ganz besonders auf die Candidate Experience aus. Freilich lauere hier das Risiko zu schludern. Die Aufgabe bestehe
darin, hochgradig automatisierte Prozesse mit vorbildlicher Kommunikation
zu kombinieren. „Deshalb schulen wir
Mitarbeiter, in erster Linie wertschätzend mit Bewerbern umzugehen, nicht
zuletzt bei Absagen. Das soll ab dem ersten Kontakt mit Bewerbern Leitlinie
sein.“
Bedeutung von CE noch nicht
erkannt
Trotz solch löblicher Ansätze besteht im
Personalbereich der Wirtschaft in punkto Candidate Experience großer Handlungsbedarf, meint Christoph Athanas,
Geschäftsführer der Berliner Unternehmensberatung Meta HR. Seiner Bilanz
zufolge könne eine kleinere Gruppe
bereits Projekte vorweisen. Sie hätte
verstanden, dass die Arbeitgeberkommunikation nicht durch gegenteilige
Erfahrungen von Kandidaten im Bewerbungsprozess konterkariert werden darf.
Eine weitere Gruppe entdecke laut Athanas das Thema aus der Defizitperspektive. „Die Unternehmen berichten über
Baustellen, wissen aber oft noch nicht,
wie sie konkret vorgehen können.“ Die
dritte Gruppe schließlich zeige sich eher
desinteressiert. Den Verantwortlichen
liegt das Thema noch zu fern. Athanas:
„Ich vermute, diese Unternehmen sind
noch in der Mehrzahl.“
Skeptisch ist auch Peter Wald, Professor
für Personalmanagement an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft
und Kultur (HTWK). Zusammen mit Meta
HR hat er die erste Candidate Experi20
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ence-Studie durchgeführt. Sie gilt vielen Praktikern als Benchmark. „Seit Jahren höre ich von meinen Studenten, dass
sie eher negative als positive Erfahrungen bei Bewerbungen sammeln.“ Bereits
vor vier Jahren, als der Begriff Candidate Experience noch nicht en vogue war,
teilten Studenten und Absolventen in
einer Umfrage mit, sie würden binnen
zwölf Stunden mit dem ersten Feedback
nach einer Bewerbung rechnen. „Rein
technisch beurteilt, dürfte dies auch realisierbar sein“, bekräftigt Wald.
Der Hochschullehrer beobachtet, dass
Unternehmen versuchen, sich als Arbeitgeber in „möglichst positivem Licht“ darzustellen. Wie viel davon lediglich vorgetäuscht sei, erweise sich am „Tag der
Wahrheit“, wenn der Bewerber zum ersten Mal als Mitarbeiter in Erscheinung
trete. „Teilweise sind die neuen Kollegen nur unzulänglich vorbereitet und
fühlen sich gar nicht willkommen.“
Verpflichtung zum respektvollen
Umgang
Um das zu verhindern, haben die Personaler von Ista frühzeitig Weichen gestellt.
Die aufstrebende Essener Firma ist auf
die Erfassung von Daten für den Stromund Wasserverbrauch spezialisiert und
beschäftigt weltweit 4600 Mitarbeiter.
Laut Ista-Personalleiterin Anette Kreitel-Suciu hat HR eine wichtige Rolle im
Briefing und Coaching der Fachberei-
„
che, wie sich der Recruitingprozess
gestalten sollte. „Es reicht nicht aus,
wenn der Personalbereich oder prozessunterstützende HR Tools für das Versprechen des attraktiven Arbeitsgebers
stehen.“ Vielmehr seien alle am Recruitingprozess beteiligten Mitarbeiter und
Führungskräfte gefragt: als „Botschafter des Unternehmens“ nach innen und
außen.
Candidate Experience ist für KreitelSuciu weniger ein Personalmarketingund Recruiting-Instrument. Vielmehr
versteht sie darunter die Verpflichtung
und Umsetzung eines wertschätzenden
und respektvollen Umgangs mit Kandidaten in allen Phasen des Recruitingprozesses: von der schnellen Sichtung
von eingehenden Bewerbungen oder Kandidatenprofilen von Personaldienstleistern, über die zügige Rückmeldung bis
hin zu einem freundlichen persönlichen
Empfang. „Wir betrachten Bewerber als
Gäste, die wir willkommen heißen und
die sich bei uns wohl fühlen sollen.“ Wer
würde dem widersprechen: So in etwa
könnte eine vorbildliche „Candidate Journey“ tatsächlich aussehen.
Überall dort, wo Unternehmen und
Kandidaten in Kontakt treten, können
sich Unternehmen verbessern. Viele
schauen dabei lediglich auf digitale
„Touchpoints“, doch das greift zu kurz.
Entscheidend seien vor allem nicht-digitale Kontaktpunkte wie erreichbare und
persönliche Ansprechpartner in HR,
gut organisierte Interviews mit gut vorbereiteten Teilnehmern oder Unterstützungsangebote für Bewerber mit Mobilitätseinschränkungen, nennt BoehringerTalentwerber Meier einige Beispiele. Ganz
wesentliche Kontaktpunkte seien „aus
Fleisch und Blut“.
Viele Unternehmen wissen nicht, wofür sie
eigentlich stehen, und können deshalb ihre
Werte nicht überzeugend nach innen und
außen vermitteln.
Tobias Ortner, Leiter Personalmarketing und Recruiting, BFFT
Boehringer ist es wichtig, die Arbeit an
einer besseren Candidate Experience
auch in Zahlen zu fassen. Neben der
Beobachtung, wie das Unternehmen in
sozialen Medien wie etwa Kununu wahrgenommen wird, lege man Meier zufolge auch Wert darauf, systematisch die
Zufriedenheit unter Kandidaten und Führungskräften zu messen. Zusätzlich würden Service Level Agreements definiert.
„Beispielsweise garantieren wir jedem
Bewerber, in einem definierten Zeitraum
Feedback zu erhalten.“
CE als Markenerlebnis
Für Meier ist Candidate Experience nicht
zuletzt auch ein Markenerlebnis. Markenwerte, die – wie etwa das Caring („Wir
kümmern uns um Dich“) – für Boehringer als Pharmaunternehmen stehen, würden auf das Bewerbererlebnis übertragen. „Alle Personen, die mit Bewerbern
in Kontakt treten, lernen das glaubwürdig umzusetzen.“
Ein wichtiger Aspekt auch für Tobias
Ortner, er verantwortet Personalmarketing und Recruiting beim Fahrzeugelektronikentwickler BFFT in Gaimersheim.
„Viele Unternehmen wissen nicht, wofür
sie eigentlich stehen, und können deshalb ihre Werte nicht überzeugend nach
innen und außen vermitteln.“
Zusammen mit seinem Team investiert
Ortner „viel Herzblut“ in das Thema Werte. Ziel sei es, die Arbeitgebermarke noch
stärker herauszuarbeiten, nicht zuletzt
im Sinne einer optimalen Candidate
Experience, die erst ein Matching zwischen den Erwartungen und Werten des
Unternehmens und jenen der Kandidaten herstellen könne. „Nur dann verstehen Kandidaten auch, worauf sie sich
„
„
Wir betrachten Bewerber als Gäste, die
wir willkommen heißen und die sich bei uns
wohl fühlen sollen.
Anette Kreitel-Suciu, Personalleiterin, Ista
einlassen“, ist sich Ortner ziemlich
sicher. Diesen Ansatz verfolgt auch
Schrodt bei Direct Line: Im Interesse
eines besseren Matchings wurde die
Ansprache von Kandidaten, der Beziehungsaufbau und die fortlaufende Kontaktpflege bis zum Onboarding bereits
deutlich verbessert.
Warum der Fokus auf Candidate Experience so wichtig ist, beschreibt Michael Witt, Teamleiter Recruiting von Voith
Industrial Services in Stuttgart. Wenn
er die wichtigen Touchpoints im Recruitingprozess lokalisiert, um anschließend
deren User Experience auf den Prüfstand
zu stellen, richtet sich sein Augenmerk
vor allem auf eine stark umworbene
Kandidatengruppe: dual ausgebildete
technische Fachkräfte. Sobald sie sich
auf die Suche nach Informationen über
die Firma begeben, dürften ihnen weder
Medienbrüche noch umständliche Prozesse im Wege stehen. „Neben dieser
technischen Komponente gehören zum
Kern einer funktionierenden Candidate
Experience auch persönliche Kontakte
mit Unternehmensvertretern, eine schnelle qualitative Rückmeldung zu Bewerbungsverfahren oder auch ganz einfach
erreichbare Recruiter“, fasst Witt zusammen.
Bewerber wie Kunden behandeln
Aus bisher bekannten praktischen Beispielen lässt sich ermessen, welcher
Zündstoff in der Thematik steckt. Bera-
Dank Social Media und der hinzugewonnenen
Transparenz sind Fehler in diesem Bereich
einfach zu teuer geworden und könnten die
Reputation eines Unternehmens nachhaltig
schädigen.
Robindro Ullah, Leiter Employer Branding Operations und Recruiting, DEBA
ter Athanas empfiehlt Unternehmen,
denen an einer besseren Candidate Experience gelegen ist, vieles aus dem
Umgang mit Kunden etwa im Verkaufsprozess auf den Umgang mit Kandidaten
zu übertragen. Grundsätzlich sollten Personaler „Hürden abbauen, Transparenz
schaffen und überlegen, an welchen Kontaktpunkten sie hohen Komfort auch aus
Sicht von Bewerbern realisieren können“.
Berater Ullah schließt sich an: Wichtig
sei zu verstehen, dass sich Candidate
Experience nicht zuletzt um Kundenzufriedenheit dreht und der Kauf eines Produktes – die Entscheidung für einen
Arbeitgeber – ein positives Erlebnis sein
sollte. „Dank Social Media und der so
hinzugewonnenen Transparenz sind Fehler in diesem Bereich einfach zu teuer
geworden und könnten die Reputation
eines Unternehmens nachhaltig schädigen.“ Wie man mit Bewerbern und Mitarbeitern umgehe, fügt Hochschullehrer
Wald hinzu, strahle nicht nur auf die
Arbeitgeber- und Unternehmensmarke
aus. „Es beeinflusst womöglich auch
Kaufentscheidungen.“ Vor allem Mittelständlern mangele es Wald zufolge noch
an Sensibilität in Personalfragen.
Wie Insider beobachten, hat die Nachfrage nach Experten für Candidate Experience spürbar angezogen. Sie sollen nun
die in ersten Projekten gewonnenen
Erkenntnisse operativ umsetzen und in
den Regelbetrieb übernehmen. Targobank-Personalchef Goebel warnt seine
Berufskollegen: Candidate Experience
zu optimieren bedeute auch, sich mit
internen Widerständen zu befassen. „Als
Personaler muss man Standing zeigen
und sich durchsetzen. Das kostet nichts,
nur Nerven.“
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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