18 HILDESHEIMER LAND | HILDESHEIMER ALLGEMEINE ZEITUNG SONNABEND, 15. AUGUST 2015 Honno, Hoirich, Kallus: Solche Typen gibt es heut nicht mehr Früher gab es auf Dörfern im Hildesheimer Land manches Original – skurril und mit Macken, aber beliebt und bekannt / Je drei Beispiel aus Algermissen und Harsum „Herrmännche“: Immer unterwegs von gerhard Schütte Kreis HildesHeim. Mit dem Schwund der Wirtshäuser und Geschäfte und starken anderen Veränderungen in den Orten sind auch die Dorforiginale verloren gegangen. Das klassische Landleben früherer Zeiten war ihre Welt. Sie gehörten zum Ortsbild und waren gleichzeitig eng verknüpft mit der Heimatgeschichte. Über diese Originale wird heute noch vielerorts gern gesprochen. In Harsum gehörte zum Beispiel der letzte amtierende Nachtwächter „Hoirich“ Meyer aus dem „Schlösschen“ dazu, außerdem „Honno“ Schenkemeyer, in den 1960ern zum ältesten Kegeljungen Deutschlands gekürt, und der „Kloster-Wilhelm“, der die Grüße der Damen aus der Landfrauenschule an die jungen Landwirte weitergab. Diese Mitbürger waren in der Bevölkerung bekannt und beliebt. In Algermissen lebten noch mehr solcher Originale: „Herrmännche“ gehörte dazu, ein exzellenter Dichter und ein Musikus vom Feinsten, oder „Jerusalems Wilhelm“, eine Persönlichkeit vom Roten Kreuz. Der sorgte in jungen Jahren in Palästina und Konstantinopel für Schlagzeilen. Das älteste Junggesellschaft-Mitglied „Kallus“ war ein Fachmann, wenn es um die Ferkelaufzucht ging. Sie stehen in diesem Bericht im Mittelpunkt – drei Originale aus Harsum und drei aus Algermissen. Gemeinde-Backhäuser und Schmieden, Kolonialwarengeschäfte und die zehn Gasthäuser mit sieben Tanzsälen gibt es heute in Algermissen nicht mehr. Während bei den Frauen die Backhäuser als Treffpunkte für Klatsch und Tratsch hoch im Kurs standen, trafen sich die Männer vornehmlich in den Wirtshäusern und Schmieden und machten hier Dorfpolitik. Diese Einrichtungen zogen die Menschen an – doch wo die Gasthäuser sterben, stirbt schleichend auch ein Stück des Ortes mit seinen Dorforiginalen. Die Tradition der urigen Originale lebt heute nur noch in Erinnerungen vieler Einwohner weiter – und in Anekdoten, die immer noch erzählt werden. Heute gibt es die Typen im dörflichen Alltag nicht mehr. Die moderne Gesellschaft hat den Spielraum für die Individualisten eng abgesteckt. Oft waren sie Menschen, die sich von anderen abhoben, mit ihren Tieren lebten, auch mit der Natur. „Honno“: Deutschlands ältester Junge „Honno“ Heinrich Schenkemeyer (78) starb 1977 an den Folgen eines Verkehrsunfalls auf der B6 in Groß Förste. Er wollte mal wieder per Anhalter nach Hannover. Über 60 Jahre lang stellte Honno in den Harsumer Gasthäusern Ingelmann und Baule die Kegel auf. Strahlend reagierte er dann, wenn man ihn als „Kegeljunge“ betitelte. Wie oft er beim seltenen Wurf „Acht ums Vordereck“ geschickt nachhalf, bemerkte keiner. Dafür kassierte er aber ein Taschengeld, zusätzlich ein Essen. Seine Bekanntheit führte soweit, dass er bei den Bild-Lesern als „Dienstältester Kegeljunge Deutschlands“ klar an der Spitze lag und als Lohn eine Bodenseereise bekam. Das war in den 1960ern. Jahrzehnte lang saß Honno, GespannFührer vom Hof Algermissen an der Breiten Straße, auf dem Kutscherbock des Totenwagens. Die Transporte der Verstorbenen von den Hildesheimer Krankenhäusern übernahm er ebenfalls mit seinen Kaltblut-Pferden Lux und Lisa. Sein Chef gab ihm für diese letzten Fahrten der Verstorbenen zum Waldfriedhof stets dienstfrei. Drei Generationen lang diente Honno aktiv in diesem Betrieb. Fernsehen und Rundfunk beschäftigten sich mit diesem Harsumer Original. Am Martinstag saß er als Bischof gekleidet im Sattel seines treuen Pferdes und erfreute Jahr für Jahr beim Ritt durch das Dorf die Bevölkerung und Hunderte von Kindern. Vor Lehrerkollegium, Gemeinderat und Ehrengästen, darunter Bischof Heinrich Maria, hielt er beim Empfang immer eine Laudatio, die stets mit Worten begann: „Meine lieben Kegelbrüder“. Dann stimmte Honno sein Lieblingslied an: „In die Heimat, in die Heimat, da gibt’s ein Wiederseh’n“. Nach den Treibjagden zog Honno jahrzehntelang Tausenden von Hasen und Kaninchen das Fell über die Ohren – das war sein Hobby. Bei Festumzügen trug er die Jubiläums-Scheiben, auch die der „Harsumer Männer“. Kloster-Wilhelm: Der gute Geist „Hoirich“: Nachtwächter ohne Zähne „Kloster-Wilhelm“, fotografiert „Kloster-Wilhelm“, gezeichnet „Kloster-Wilhelm“ war ein halbes Jahrhundert der gute Geist im Harsumer Klostergebäude und im Dorf. Hinter Klostermauern fühlte er sich so richtig wohl. An seinen Füßen trug er Pantoffeln, auf dem Rücken die Kiepe. So schlürfte er mit seiner Pfeife, die anscheinend nie ausging, durch das Dorf. Er machte Botengänge, half auch in der großen Klosterküche, in Haus und Hof und im Klostergarten aus. Jedes Jahr hielten neue Damen Einzug in die Landfrauenschule, ein Internat an der Kaiserstraße. Er richtete mit seinem herzerfrischenden Lächeln die Grüße „seiner Mädchen“ an die jungen Männer im Ort aus, meistens sogar ohne Auftrag. Auf jede Frage hatte Wilhelm eine passende Antwort parat. Seine Lieblingsthemen waren das Rauchen, das Wetter und seine jungen Damen. Die Be- völkerung kannte und schätzte ihn. Morgens und nachmittags sah man ihn ins Dorf gehen, er machte dann die Besorgungen. Mit Schwester Evarista sah man Wilhelm beim Graben gegenüber im Klostergarten, heute steht dort das Alten- und Pflegeheim Sankt Elisabeth. Wenn er dabei seine lautstarken Blähungen nicht in den Griff bekam – er aß gern Thüringer Mett mit einer ordentlichen Portion Zwiebeln – beschwerte sich die Schwester Oberin gleich mehrfach bei ihm: „Hast du so was schon mal von mir gehört?“, fragte sie. Wilhelm reagierte spontan: „Nee, Schwester Oberin, gehört nicht, aber gerochen.“ Seit dem 31. Januar 1954 vermisst man den Kloster-Wilhelm in der Landfrauenschule und auf den Dorfstraßen. Mit 88 Jahren schloss dieses Original für immer seine Augen. „Hoirich“ Heinrich Meyer war der letzte praktizierende Nachtwächter in Harsum. Er wohnte im „Schlösschen“, einem kleinen Querweg. Einmal musste er beim Gemeinderat antreten, weil von seinem Horn zu den abendlichen vollen Stunden bis Mitternacht nichts mehr zu hören war. Die Bevölkerung nahm nur ein schwaches „ftt, fft“ wahr, aber keinen echten durchgeblasenen Ton. Viele machten sich Gedanken um ihn. Der Bürgermeister fasste sich ein Herz und fragte ihn: „Na Hoirich, is dat Hurn kaputt“? (Na Heinrich, ist das Horn kaputt). „Nä“, sagte Hoirich, „dat nich, oaber eck hewwe koine Täene mehr im Miul“ (Nein, sagte Heinrich, das nicht, aber ich habe keine Zähne mehr im Maul). Der Bürgermeister schickte den alten, treuen Nachtwächter zum „Tänedokter“ (Zahnarzt), um ein Gebiss auf Kosten der Gemeinde anzupassen. Bei der Hornbläser-Premiere gab es dann wieder nur „fft, fft“ zu hören, wieder brachte er keinen Ton aus dem Instrument heraus, wie in den Zeiten vorher. „Wat ist denn dat, Hoirich, niu hest diu doch´ n nöit Gebiss und iut döinen Hurn kummt koin Teon?“ (Was ist denn das, Heinrich, nun hast du doch ein neues Gebiss und aus deinem Horn kommt kein Ton). Darauf Hoirich: „Dschoa, dat stimmet Herr Bürgermester, oaber de Täenedokter hett meck extroa seggt, eck söll dat Gebiss nachts int Woaterglas leggen!“ (Ja, das stimmt Herr Bürgermeister, aber der Zahnarzt hat mir extra gesagt, ich soll das Gebiss nachts in das Wasserglas legen). Fred Eitel May, bekannt als „Herrmännche“, lebte in Algermissen von Almosen, war aber dennoch ein betuchter Mann. Spärliche Efeuranken bedeckten sein Grab. Fred Eitel May starb am 8. April 1967 mit 64 Jahren und wohnte zuletzt einsam und allein im Gemeindehaus. Er nannte sich „Bajazzo der Zweite“, blieb als Bänkelsänger über 25 Jahre einsam. In einem Marmeladeneimer fand man unter seiner Bettstelle 888,87 Mark an Markstücken, Groschen und Pfennigen, die stammten von seinem allerletzten Trip. In prall gefüllten Margarine- und Persil-Kartons tauchten dort auch seine Verse, Gedichte und Lieder auf. Das Algermissener Original sang nur von ihm selbst gedichtete und komponierte Lieder. Mit seiner Mutter kam er – ausgebombt in Köln – arm und zerlumpt mit Rucksack und Schifferklavier Anfang 1946 nach Algermissen und bewohnte eine Bodenkammer über dem Kuhstall. Hier begann das „Märchen“. Nach dem Tod seiner Mutter war er ganz allein auf sich gestellt. Fred Eitel May kam mit Geige und Schifferklavier weit herum, er liebte den Süden. Von dort verschickte er Postkarten-Grüße an alle diejenigen, die er im Dorf mochte. Vom Bodensee und Schwarzwald, sogar aus Italien, Sizilien und Spanien, vor allem aus seinem Lieblingsort Bad Dürkheim. „Das größte aller Weinfeste ist bei meiner Gegenwart am 8. September dort gefeiert worden“, schrieb er. Über Monate blieb er fort und hinterließ aber hier und da recht deutliche Spuren. Fotos tauchten von dem Künstler aus Algermissen in mehreren Zeitungen auf – er wurde gefeiert als Musikant mit Geige, Akkordeon und mit „angenehmer Stimme“. Er trug immer einen Rauschebart, wollte sogar nach Oberammergau, um dort den Christus zu spielen. Das ging aber nicht, weil er nicht entsprechend den Vorschriften mindestens 20 Jahre lang im Ort sesshaft war. Und wenn er morgens gegen sieben Uhr mit dem Schülerzug nach Hildesheim fuhr, sang Herrmännche bereits auf dem Bahnsteig und spielte dazu auf dem Schifferklavier. Zwischendurch verdiente er seinen spärlichen Lebensunterhalt mit selbstverfassten Liedern. Wo immer es eine Feier gab – Fred Eitel May war dabei und brachte den Menschen mit Spiel und Gesang viel Freude. Um Geld ist es ihm offenbar nie gegangen. Im Licht von Kerzen saß er nächtelang, schrieb Briefe, Gedichte sowie Texte für Walzer und andere Lieder. May war ein Original. Bekam er weiße Ostereier geschenkt, schickte er diese zurück – sie seien nicht bunt und mithin auch keine Ostereier. Im Ort fiel er nie durch Geldausgeben auf. Anderswo soll er sich großzügig gezeigt haben. Auf dem Münchener Hauptbahnhof will man ihn Anfang der 60er Jahre gesehen haben, als er das ErsteKlasse-Abteil eines D-Zuges verließ. Von ihm existiert nur ein Foto. Er ließ es für eine Krankenschwester anfertigen, die er mochte. Nach eigenem Bekunden war Fred Eitel May beim Kölner Rundfunk tätig. Bevor der Krieg seine Existenz zerstörte, wie er schrieb, war er freischaffender Vortragskünstler. Daher auch sein Künstlername Herrmännche. „Jerusalems Wilhelm“: Hochdekoriert Wilhelm Krone war in Algermissen bekannt als „Jerusalems Wilhelm“. Der Schlosserlehrling büxte bei seinem Hildesheimer Lehrherrn Peter Müller aus, weil er nur zweimal im Monat die Gelegenheit zur Fahrt nach Algermissen hatte. Spontan entschloss er sich 1914, freiwillig zum Militär zu gehen. Er kam zunächst an die Front nach Russland, dann nach Frankreich. Als Laboranten der tür- kischen Armee zugeteilt werden sollten, bewarben sich angehende Ärzte, Apotheker und Kandidaten aus nah verwandten Berufen. Wilhelm reihte sich ein. Der kerngesunde Algermissener brachte die vorgeschriebenen Voraussetzungen mit, allerdings mangelte es ihm an der geforderten Fremdsprache. „Plattdeutsch gab ich an“, verriet er später – und, er kam damit durch. Mit den Tropenkrankheiten ist er vertraut geworden. Sein Labor stellte Impfstoff für Cholera und Typhus selbst her. Der Sultan zeichnete ihn in Konstantinopel mit dem „Türkischen Eisernen Halbmond“ aus. Den Wehrsold bekam er in der Landeswährung „Türkische Goldpfund“ ausgezahlt. Dann bekam der fleißige Laborant Wilhelm eine Berufung nach Jerusalem, damals Sitz des Internationalen Roten Kreuzes. Er begleitete unter anderem ein komplettes Feldlabor von Sinai nach Jerusalem. Dort erhielt er dann 1917 das „Jerusalem-Kreuz“ verliehen. Nach Kriegsende holte Wilhelm Krone seine Lehre beim früheren Chef Peter Müller im Brühl in Hildesheim nach, voller Euphorie. Und siehe da: Vier Jahre später, 1923, legte er vor der Handwerkskammer auch seine Meisterprüfung im Schlosserhandwerk ab. Das klappte. Seine Vorträge über die Kriegserlebnisse waren in den 1920er und 30er Jahren prall gefüllt von Neugierigen. Kurz: Er hieß von da an in der Bevölkerung nur noch „Jerusalems Wilhelm“. Er zog die Massen an. Äußerst konservativ war er eingestellt. Er pflegte Brauchtum und Traditionen in seinem Stiftsdorf. Außerdem war er viele Jahre erster Vorsitzender im DRK-Ortsverein und setzte sich für die humanitären Ziele des DRK ein. Drei Tage nach der Kapitulation im Mai 1945 tauchten ranghohe englische und amerikanische Offiziere im Hause Krone in der Neuen Straße auf, um mit seinem Bruder Heinrich, dem langjährigen Reichstagsabgeordneten und späteren Bundesminister im Kabinett Adenauer über die Zukunft Deutschlands zu beraten. „Jerusalems Wilhelm“ setzte sich dazwischen und scheute nicht, lautstark und scharf die Zerstörung von Hildesheim zu verurteilen. Er gehörte zu den Gründern der CDU. Kallus: Ferkelexperte mit zwei Zähnen „Kallus“ Fleischmann war ein Meister in der Ferkel-Aufzucht, lebenslang. Als „Dienstältester“ gehörte er zur Junggesellschaft. Dort betätigte er sich als Scheibenträger bei den Festumzügen. Beim Holzsägen verlor er gleich zwei Finger an seiner rechten Hand. Sein Markenzeichen: Nur zwei Zähne, der eine oben, der andere unten. Nach seinem Tode 1976 stellte sich heraus, dass „Fleischmanns Karl“ Zeit seines Lebens unter dem falschen Vornamen lebte. Er hieß richtig Friedrich-Wilhelm. Auch seinen Grabstein auf dem Dorffriedhof zierte der falsche Namenszug „Karl“ Fleischmann. Nachforschungen im Standesamt bestätigten seinen richtigen Namen: Friedrich-Wilhelm Fleischmann, geboren 15. September 1896 in Wohlenhausen, landwirtschaftlicher Arbeiter, gestorben am 28.10. 1976 in Algermissen. Wenn jemand das Original mit „Karl“ ansprach, konterte der Junggeselle meist: „Eck hoite Kallus“. Darauf legte er stets Wert, egal, ob das der Pfarrer, der Bürgermeister oder seine Junggesellschafts-Freunde waren. Kurios: Der treue und angesehene Kallus besuchte immer die erste Schulklasse, hieß es von seinen früheren Mitschülern. Geschlafen hat Kallus in einem Raum im Pferdestall, „hinten rechts“, das war früher so üblich. Mit den Schweinen auf Voges Hof, Kurzer Weg 4, kannte er sich bestens aus, noch besser mit der Ferkelzucht, seiner Paradedisziplin. Zum Stallbestand gehörte dort ein Esel, deshalb der ortsübliche Beiname „Esel-Voges“. Bei kirchlichen Hochfesten, am Patrozinium St. Matthäus und seinem Geburtstag, beide im September, sowie den zwei Schützenfesten im Jahr kreuzte Kallus im feinsten Zwirn auf, stets mit Schlips und Kragen. „Moin besten Anzuge härre eck danne annetreogen“, erzählte er. Bei seinem allerletzten Festumzug präsentierten die Junggesellen ihren „Chef“ in einem offenen Cabrio. Mit zahlreichen Orden, Ehrenzeichen und Auszeichnungen ist Kallus dekoriert worden.
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