Mündlicher Sprachgebrauch Zwischen Normorientierung und pragmatischen Spielräumen – Abstracts – 1 Arendt, Birte / Jana Kiesendahl (Greifswald) Das Potential einer linguistisch fundierten Sprachkritik zur Erfassung und Bewertung von sprachlichen Standards Die Fähigkeit, mittels Sprache auf Sprache zu referieren, stellt eine grundlegende Eigenschaft der menschlichen Sprache dar. Diese metasprachliche Funktion (Jakobson 1972) erlaubt es, Sprachgebräuche kritisch zu würdigen (Kilian/Schiewe/Niehr 2010) und Sprachkritik als grundlegendes Element der Sprachverwendung zu bestimmen (Cameron 1995). Die linguistische Sprachkritik geht – wie jegliche pragmalinguistische Sprachbetrachtungen – von der Prämisse aus, dass jeder Sprachgebrauch unausweichlich mit seinem Kontext verbunden ist und insofern stets in Relation zu diesem Kontext bewertet werden muss. Das linguistisch fundierte sprachkritische Bewertungskriterium „Angemessenheit“ rekurriert auf diese Kontextgebundenheit jeglicher Äußerungen und bewertet sie stets kontextrelational. Schiewe (1998 u.a.) betrachtet Angemessenheit neben Prägnanz und Variation als sprachkritisches Ideal, und zwar als ein Ideal, das – anders als das Kriterium der Richtigkeit – nicht kontradiktorisch mit richtig und falsch operiert, sondern 1. funktional ausgerichtet ist und 2. Abstufungen zwischen den Polen angemessen und unangemessen zulässt und vorsieht. Immer anhand konkreten Sprachgebrauchs und seiner Funktionalität (Arendt/Kiesendahl 2013) in konkreten kommunikativen Situationen angewandt, ist Angemessenheit somit ein genuin pragmatisches Kriterium. Die Sprachkritik kann zur Erörterung des Standardbegriffs mindestens in zweifacher Weise beitragen: Erstens geht Angemessenheit von – je nach Situationstypik – parallel existierenden Standards aus. D.h. es gibt potentiell zwar eine unendliche Vielzahl an Situationen, diese lassen sich aber auf der Grundlage ähnlicher Interaktionsaufgaben und medialer Realisierungen (mündlich/schriftlich) musterhaft zu sog. Situationstypen (Hagemann/Klein/ Staffeldt 2013) bündeln und können somit standardorientierte Erwartungen etablieren. Die Angemessenheit rekurriert auf eine Situationstypik und damit auf eine Musterhaftigkeit von Sprachgebräuchen, die sich in unterschiedlichen Angemessenheitsstandards widerspiegelt. Zweitens bietet die kritiklinguistische Analyse (Arendt/Kiesendahl 2014) von metasprachlichen Äußerungen eine Rekonstruktion von Standards ex negativo. Anhand des Thematisierens und Explizierens von nicht erfüllten Erwartungen, z.B. in Form sprachkritischer Kommentare, kann auf einen zugrundeliegenden Standard- und Normbegriff geschlossen werden, der im Moment der Artikulation für gültig erklärt wird. Interaktionale Aushandlungen von Angemessenheit (Arendt/Schäfer 2015) und die Zurückweisung von Handlungen, die als unangemessen angesehen werden, erlauben uns Einsichten in Normen und zeigen zugleich das funktionale Potential von Normthematisierungen als rhetorische Strategie auf. In dem Vortrag werden wir erstens das Kriterium der Angemessenheit als Bewertungsmaßstab einer linguistisch fundierten Sprachkritik konturieren und reflektieren. Zweitens zeigen wir das Potential einer kritiklinguistischen Analyse zur Rekonstruktion von laienlinguistischen Standardbegriffen auf. Drittens wird diskutiert, wie linguistische Sprachkritik – insbesondere für den Bereich der gesprochenen Sprache – in den Deutschunterricht bzw. in Lehrwerke integriert werden kann. 2 Literatur Arendt, Birte/Kiesendahl, Jana (2013): Funktionale Angemessenheit. Gesprächs- und lehrwerksanalytische Perspektiven. In: Kilian, Jörg/Niehr, Thomas/Schiewe, Jürgen (Hgg.): Sprachkritik. Göttingen, S. 336-355. (= Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, H.4) Arendt, Birte/Kiesendahl, Jana (2014): Sprachkritische Äußerungen in Kommentarforen – Entwurf des Forschungsfeldes „Kritiklinguistik“. In: Niehr, Thomas (Hg.): Sprachwissenschaft und Sprachkritik. Perspektiven ihrer Vermittlung. Bremen, S. 101-130. Arendt, Birte/Schäfer, Pavla (Hgg.) (2015): Angemessenheit. Pragmatische Perspektiven auf ein linguistisches Bewertungskriterium. Bremen (= aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur/ Themenheft, H. 02) Cameron, Deborah (1995): Verbal Hygiene. London. Hagemann, Jörg/Klein, Wolf Peter/Staffeldt, Sven (Hgg.): Pragmatischer Standard. Tübingen. Jakobson, Roman (1972): Linguistik und Poetik. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Bd. 1, Frankfurt/M., S. 99-135. Kilian, Jörg/Niehr, Thomas/Schiewe, Jürgen (2010): Sprachkritik. Anätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung. Berlin, New York. Schiewe, Jürgen (1998): Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München. 3 Butterworth, Judith / Nadine Hahn / Jan Georg Schneider (Landau) Gesprochener Standard, da gibt es viel zu zu sagen. Ein Blick in das DFGProjekt „Gesprochener Standard“ In der Standardsprache sprechen zu können, stellt mit Blick auf die überregionale Verständigung ein zentrales Bildungsziel dar und ist deswegen explizit auch in den Bildungsstandards des Fachs Deutsch (2003) als Anforderung aufgeführt. Deutschlehrer sind in ihrer täglichen Unterrichtspraxis demnach konkret damit konfrontiert, mündliche Leistungen von Schülern im Einzelfall nicht nur inhaltlich, sondern auch formal, z.B. grammatisch, zu beurteilen. Hierfür fehlt ihnen jedoch oft das linguistische Handwerkszeug. Während für das Geschriebene ein kodifizierter Standard schon lang etabliert ist, fehlt für die gesprochene Sprache ein äquivalenter Orientierungspunkt. Wenn seitens der Sprachwissenschaft keine Kriterien für die Bewertung gesprochener Äußerungen vorgelegt werden, besteht die Tendenz, mündliche Äußerungen – nach dem Motto „Sprich, wie Du schreibst!“, „Sprich in ganzen Sätzen!” – ausschließlich nach den Maßstäben der geschriebenen Standardsprache zu beurteilen und den Spezifika der Mündlichkeit somit nicht gerecht zu werden. Ziel unseres DFG-Projekts ist es, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Medialität gesprochener und geschriebener Sprache den Gebrauchsstandard, an dem sich Sprecher/innen implizit orientieren, zu rekonstruieren und damit auch für die Lehre zugänglich zu machen. Unser Korpus besteht aus Audio-Dateien überregionalen Abendtalkshow sowie aus Aufnahmen von Unterrichtskommunikation aus verschiedenen Regionen und Klassenstufen. Im Vortrag wollen wir anhand einiger Beispielanalysen unser Vorgehen vorstellen und dabei besonders auf die Relevanz von Korrekturverhalten und auf die kommunikative Aushandlung von Angemessenheit eingehen. 4 Dannerer, Monika (Innsbruck) / Peter Mauser (Salzburg) Normvorstellungen für gesprochene (Standard-)Sprache an der Universität Die Universität fordert als Bildungsinstitution mit dem Anspruch auf Internationalität und Mobilität von ihren Angehörigen zwar ein mehrsprachiges Repertoire, schließt aber nicht nur viele Herkunfts- bzw. Migrationssprachen, sondern auch die Varietäten jenseits des Standards der Nationalsprache aus. Für die Academia werden sie, meist aus Prestigegründen, als unangemessen angesehen. Die deutliche Orientierung an der geschriebenen Wissenschaftssprache rückt zudem die gesprochene stark aus dem Bewusstsein, sodass der „written language bias“ (Linell 2005) noch stärker als in anderen Bildungskontexten wirkt. In keinem regulativen Dokument wird „innere Mehrsprachigkeit“ thematisiert, in Interviews mit EntscheidungsträgerInnen häufig geleugnet. Neben sprachideologischen Ressentiments sind v.a. Unangemessenheit und Unwissenschaftlichkeit substandarsprachlicher Varietäten Argumente für das Primat einer vermeintlich klar verortbaren Standardsprache an der Universität: Hohe Schule, hohe Sprache! Vor dem Hintergrund dieses sprachpolitischen Vakuums stellen sich mehrere zentrale Fraugen: Welche impliziten Normvorstellungen haben sich für die gesprochene Sprache bei den verschiedenen Gruppen – Universitätsleitung, Lehrende, Studierende, Verwaltung – etabliert? Woran orientiert man sich? Wie stark ist – in welchem Kontext und für wen – die normative Kraft geschriebener Sprache? Gibt es eigene Vorstellungen von einem gesprochenen Standard (vgl. Hagemann et al. 2013)? Welche Angemessenheitsvorstellungen herrschen vor? Werden Angemessenheitsverstöße sanktioniert, und wenn ja, in welcher Form? Bei der Beantwortung der Fragen müssen Faktoren wie Gruppenzugehörigkeit, Fachrichtung, Forschungstradition und individuelle (Mehr-)Sprachigkeit berücksichtigt werden. Auf der Basis von ca. 1.200 Fragebögen und 120 Interviews, die im Rahmen des von der ÖNB geförderten Projekts VAMUS („Verknüpfte Analyse von Mehrsprachigkeiten am Beispiel der Universität Salzburg“; Projektleitung Monika Dannerer und Peter Mauser) erhoben wurden, gibt der Vortrag einen Einblick in die an einer österreichischen Universität herrschenden sprachlichen Wert- und Normvorstellungen: Hohe Sprache, wie bist du? Literatur Hagemann, Jörg et al. (Hgg.) (2013): Pragmatischer Standard. Tübingen: Stauffenburg. Linell, Per (2005): The Written Language Bias in Linguistics. Its Nature, Origins and Transformations. London/New York: Routledge. 5 Deppermann, Arnulf / Ralf Knöbl (Mannheim) Methodische Zugänge zum Gebrauchsstandard: Selbstkorrekturen als interaktive Evidenz Sprechen ist wie jedes soziale Handeln normativ reguliert. SprecherInnen orientieren sich an mehr oder weniger flexiblen und dynamischen Sprachnormen bei der Produktion und Bewertung von Äußerungen. Diese Orientierungsnormen decken sich nicht immer mit dem schriftformbezogenen Standard, der in Aussprachewörterbüchern (z.B. Krech et al. 2009) tradiert worden ist. Der Beitrag diskutiert Methoden, mit denen Konzeptionen des Sprechstands, die für SprachbenutzerInnen beim Sprechen und bei der Rezeption sprachlicher Äußerung relevant sind. Die Methoden sind darauf aus, das Konstrukt eines gesprochensprachlichen „Gebrauchsstandards“ aus der emischen Perspektive der SprachbenutzerInnen selbst zu begründen und zu erkunden, welche linguistischen Formen als standardgemäß eingeschätzt werden und welche Rolle dabei kontextuelle, funktionale und regionale Einflussfaktoren spielen. Im Rahmen unserer Forschungen haben wir drei methodische Zugänge zum Sprechstandard aus der Perspektive der SprachbenutzerInnen erkundet: a) die Analyse der faktischen Variation sprachlicher Formen in Korpusdaten (variablenund interaktionsanalytischer Zugriff; Deppermann/Kleiner/Knöbl 2013) b) die experimentelle, extrakommunikative Abfrage von Bewertungen der Standardnähe sprachlicher Formen (Deppermann/Knöbl/Koplenig 2015; Koplenig/Knöbl/Deppermann einger.) c) spontane metalinguistische Äußerungen über den Sprachgebrauch der eigenen Person oder Dritter d) die Analyse des Reparaturverhaltens in der Interaktion. Im Zentrum des Vortrags steht der letztgenannte Zugang. Es werden Ergebnisse der Untersuchung sprachformbezogener Selbstreparaturen (im Sinne eines „error repairs“ auf der Grundlage von „linguistischem Monitoring“, Levelts 1983) dargestellt. Konkret geht es um Fälle, bei denen die situative bzw. varietätenbezogene Unangemessenheit als reparaturauslösende Problemquelle erkennbar wird und zur Ersetzung eines (aus Sicht der Reparierenden weniger korrekten) sprachlichen Elements durch ein anderes führt (vgl. „Reparatur der Varietät“, Pfeiffer 2015). Datengrundlage der Untersuchung ist vornehmlich das sprachräumlich balancierte Interviewkorpus (Korpus „Deutsch heute“). Es ermöglicht, neben formalen Eigenschaften der Reparaturoperationen auch regionale Aspekte des Reparaturverhaltens und dahinterliegender Standardkonzepte zu rekonstruieren. Literatur Deppermann, Arnulf/Kleiner, Stefan/Knöbl, Ralf (2013): ‘Standard usage’: Towards a realistic concepttion of spoken standard German. In: Auer, Peter/Reina, Javier Caro/Kaufmann, Göz: Language Variation – European Perspectives VI. Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 83-116. Deppermann, Arnulf/Knöbl, Ralf/Koplenig, Alexander (2015): Metalinguistic awareness of standard usage: the case of determiners in spoken German. In: Davies, Winfried/Ziegler, Evelyn E. (eds.): Language Planning and Microlinguistics: From policy to interaction and vice versa. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 165-185. Krech, Eva-Maria / Stock, Eberhard / Hirschfeld, Ursula / Anders, Lutz-Christian (2009): Deutsches Aussprachewörterbuch. Berlin: de Gruyter. Levelt, Willem J. M. (1983): Monitoring and Self-Repair in Speech. In: Cognition 14, 41–104. 6 Koplenig, Alexander/Knöbl, Ralf/Deppermann, Arnulf (einger.): Methodological Approaches to People’s Notions of Spoken Standard German. Pfeiffer, Martin (2015): Selbstreparaturen im Deutschen. Syntaktische und interaktionale Analysen. Berlin/Boston: de Gruyter. 7 Diao-Klaeger, Sabine / Frédéric Nicolosi (Landau) Zum Gebrauch des Left Detachment bei deutschen Französischlernenden Eine Herausforderung der modernen Sprachdidaktik ist sicherlich die Vermittlung gesprochener Sprache im Fremdsprachenunterricht. Es fehlen bis dato jedoch immer noch ausreichende Kenntnisse darüber, wie Erwachsene die Strukturen der gesprochenen Zielsprache erwerben, zumal der Kontakt zur Fremdsprache meistens über geschriebene Texte erfolgt. Das Französische erweist sich in dieser Hinsicht als besonders interessant, weist das français parlé doch im Vergleich zum subjektprominenten français écrit syntaktische Merkmale auf, die als topicprominent im Sinne von Li/Thompson 1976 gelten (cf. Thörle 2000). Gemeint sind hier topicmarkierende Konstruktionen wie das Left Detachment (Terminus nach Barnes 1985), die bekanntlich eines der markantesten Spezifika der gesprochenen Syntax des Französischen darstellen. Für unseren Beitrag haben wir anhand eines Korpus aus Interaktionen zwischen Französischlernenden und L1-Sprechern untersucht, ob und unter welchen Bedingungen deutsche Französischlernende das LD in spontanen Gesprächen verwenden. Darauf aufbauend erörtern wir abschließend die Frage, welche Implikationen die Ergebnisse für den Fremdsprachenunterricht haben könnten. Literatur Barnes, Betsy K. (1985): The Pragmatics of Left Detachment in Spoken Standard French. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins. Li, Charles N./Thompson, Sandra A. (1976): „Subject and Topic: a New Typology of Language.“ In: Li, Charles N. (Hg.): Subject and Topic. New York/San Francisco/London: Academic Press, 457– 489. Sornicola, Rosanna (2003): „Crosslinguistic Comparison and Second Language Acquisition: An Approach to Topic and Left-Detachment Constructions from the Perspective of Spoken Language.“ In: Giacalone Ramat, Anna (Hg.): Typology and Second Language Acquisition. Berlin: De Gruyter Mouton, 327–363. Thörle, Britta (2000): „Typologische Untersuchungen zum français parlé.“ In: Wehr, Barbara/Thomaßen, Helga (Hg.): Diskursanalyse. Untersuchungen zum gesprochenen Französisch. Akten der gleichnamigen Sektion des 1. Kongresses des Franko-Romanisten-Verbands (Mainz, 23.-26. September 1998). Frankfurt M. [u.a.]: Peter Lang, 207–237. 8 Hauser, Stefan (Zug) / Judith Kreuz (Zug) / Vera Mundwiler (Basel) Gesprächsanalytische Beobachtungen zur interaktiven Aushandlung von Angemessenheit in argumentativen Gruppengesprächen von Schulkindern Didaktische Empfehlungen zum mündlichen Argumentieren orientieren sich tendenziell an Normen, die auf idealisierten Vorstellungen des schriftlich konzipierten Argumentierens basieren. Jedoch zeigen Studien, dass im mündlichen Sprachgebrauch eigene Regeln und Normen gelten, welche interaktiv ausgehandelt werden. In unserem gesprächsanalytisch ausgerichteten Beitrag interessieren wir uns dafür, welche Dimensionen von Angemessenheit sich in Einigungsdiskussionen von Primarschulkindern rekonstruieren lassen. Dabei richtet sich der Fokus insbesondere auf die Frage, welche normativen Orientierungen für die Interagierenden selbst relevant sind und wie sie Aspekte von Angemessenheit interaktiv aushandeln. In einem ersten Teil werden wir die Modellierungen von „Angemessenheit“ von Grundler (2011) und von Hannken-Illjes (2004) diskutieren, wobei uns insbesondere das Konzept der „Normaufrufe“ interessiert. In einem zweiten, empirisch angelegten Teil stellen wir unsere Analyse von argumentativen Gruppengesprächen vor, und zwar im Hinblick darauf, welche Angemessenheitskonzepte innerhalb der Gespräche von den Schulkindern selbst etabliert werden. So kommt es in den Gesprächen zu Aushandlungen von Angemessenheit in Bezug auf die Art der Begründungen, den Prozess des Gesprächs, die sprachliche Varietät (Dialekt vs. Standarddeutsch, formelle vs. informelle Sprache) sowie das Argumentieren selbst. Mit Blick auf die interaktive Aushandlung von Angemessenheit interessiert uns dabei einerseits, wie (bzw. ob) sich bei Schulkindern mit zunehmendem Alter Veränderungen von Angemessenheitskonzeptionen beobachten lassen. Andererseits soll es auch um die methodische Frage gehen, wie sich Angemessenheitskonzepte rekonstruieren lassen. So stellt sich etwa die Frage, ob sich Normen gesprächsanalytisch nur ex negativo (also im Zusammenhang mit direkten oder indirekten Unangemessenheitsmarkierungen) rekonstruieren lassen, oder ob sie auch per default dann rekonstruiert werden können, wenn Verhaltensmuster beobachtet werden, denen die Sprecher in der Regel einfach folgen (vgl. Hauser / Luginbühl 2015). Datengrundlage bilden 180 Einigungsdiskussionen, die in Schweizer Schulklassen auf drei Schulstufen erhoben wurden und die gegenwärtig im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts zum Erwerb argumentativer Kompetenzen analysiert werden. Literatur Grundler, Elke (2011): Kompetent argumentieren. Ein gesprächsanalytisch fundiertes Modell. Tübingen: Stauffenburg (Stauffenburg Linguistik 56). Hannken-Illjes, Kati (2004): Gute Gründe geben. Ein sprechwissenschaftliches Modell argumentativer Kompetenz und seine didaktischen und methodischen Implikationen. Frankfurt am Main. Hauser, Stefan / Luginbühl, Martin (2015): Aushandlung von Angemessenheit in Entscheidungsdiskussionen von Schulkindern. In: Aptum – Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 11(2), S. 180189. 9 Hee, Katrin (Köln) Schülerkommunikation zwischen Normorientierung und pragmatischen Spielräumen – eine aktualgenetische und ontogenetische Perspektive Betrachtet man den ‚Lebensraum Schule‘ (Cathomas 2007) näher, so lässt sich feststellen, dass dort eine ganz spezifische Sprachnorm vorherrscht – nämlich eine an der konzeptionellen Schriftlichkeit orientierte Sprachpraxis (u. a. Vollmer/Thürmann 2010). Diese bleibt allerdings häufig ein „geheimes Curriculum“ (Vollmer/Thürmann 2010), d. h. schulische Erwartungen und Praktiken bleiben für die Schülerinnen und Schüler (SuS) implizit und werden „meist weder im Fach- noch im Sprachunterricht explizit thematisiert bzw. vermittelt“ (Morek/Heller 2012: 8). Paradoxerweise sind aber diese an konzeptioneller Schriftlichkeit orientierten sprachlichen Kompetenzen eine wichtige Voraussetzung zur Teilhabe am Unterricht und damit auch entscheidend für schulischen Erfolg oder Misserfolg (u. a. Cathomas 2007; Lange 2012) – und das sowohl bei Lernern mit Migrationshintergrund (vgl. z. B. Ahrenholz 2010; Cummins 2006; Gogolin/Lange 2011; Ufer et al. 2013) als durchaus auch bei Muttersprachlern (vgl. Quehl 2010; Feilke 2012; Vollmer/Thürmann 2010). Trotz dieser Implizitheit schulsprachlicher Normen lernen SuS offensichtlich im Laufe ihrer schulischen Sozialisation, in welchen schulischen Kontexten sie welches sprachliche Register zu bemühen haben. Auf der Basis eines videobasierten, transkribierten Korpus‘ von Gruppenunterrichtsphasen (GrU) mit voraus gehenden und daran anschließenden Interaktionen im Plenum (PlU) einer 5., 8. und 11. Gymnasialklasse in den Fächern Deutsch, Mathematik und Geschichte soll anhand des Vergleichs von GrU.und PlU aufgezeigt werden, inwieweit SuS sich in dem jeweiligen situativen Rahmen sprachlich (ggf. unterschiedlich) verhalten, sich also hier entsprechend der Norm kontextadäquat verhalten oder durch ihre sprachliche Interaktion den Rahmen sprachlich verändern resp. neu kontextualisieren. Schließlich soll der Blick auf Entwicklungsphänomene gerichtet werden: „Standardvarietäten zu beherrschen [sic!] kann Zeichen einer hohen Sprachkompetenz sein, auch wenn von einer wirklich souveränen Sprachkompetenz erst dann die Rede sein [sic!], wenn man im geeigneten Moment auch gezielt von Normen abweichen kann“ (Ausschreibungstext der Tagung). Dies soll anhand der Daten empirisch (in aktualgenetischer und ontogenetischer Perspektive) aufgezeigt werden. Literatur Ahrenholz, Bernt (2010): Bildungssprache im Sachunterricht der Grundschule. In: Ahrenholz, Bernt (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Tübingen: Narr Verlag. S. 15-35. Cathomas, Rico (2007): Neue Tendenzen in der Fremdsprachendidaktik – das Ende der kommunikativen Wende? In: Beiträge zur Lehrerbildung. Jg. 25. H. 2. S. 180-191. Cummins, Jim (2006): Sprachliche Interaktion im Klassenzimmer: Von zwangsweise auferlegten zu kooperativen Formen von Machtbeziehungen. In: Mecheril, Paul / Quehl, Thomas (Hg.): Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann. S. 36-62. Feilke, Helmuth (2012): Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In: Praxis Deutsch. Jg. 39. H. 233. S. 4-13. Gogolin, Ingrid/Lange, Imke (2011): Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, Sara / Gomolla, Mechthild (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 107-127. 10 Lange, Imke (2012): Von Schülerisch‘ zu Bildungssprache. Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Konzept der Durchgängigen Sprachbildung. In: Fürstenau, Sara (Hrsg.): Interkulturelle Pädagogik und Sprachliche Bildung. Wiesbaden: Springer VS. S. 123-142. Morek, Miriam / Heller, Vivien (2012): Bildungssprache – Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik. Bd. 57 H. 1. S. 67101. Quehl, Thomas (2010a): Die Möglichkeiten des Scaffolding. Zur Gestaltung des Übergangs von der Alltagssprache der Kinder zur Fach- und Bildungssprache. In: Grundschulunterricht Deutsch. 4/2010. S. 28-32. Ufer, Stefan / Reiss, Kristina / Mehringer, Volker (2013): Sprachstand, soziale Herkunft und Bilingualität: Effekte auf Facetten des mathematischen Lernens. In: Becker-Mrotzek, Michael / Schramm, Karin / Thürmann, Eike / Vollmer, Helmut Johannes (Hg.): Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster et al: Waxmann. S. 185-202. (Fachdidaktische Forschungen. Bd. 3). Vollmer, Helmut Johannes / Thürmann, Eike (2010): Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache. In: Ahrenholz, Bernt (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Tübingen: Narr Francke Attempto. S. 107-132. 11 Klein, Elisabeth (Mannheim) Vom „sich Anstrengen“ für die Schule zum „sich Anpassen“ in dialektalen Situationen – diskursives Vermitteln sprachlicher Normen bei Jugendlichen Sprachnormen sind in der Laienwahrnehmung mit kategorialen Zuordnungen wie „richtiges“ und „falsches Sprechen“ oder auch mit ästhetischen Urteilen wie „gepflegt“ oder „schön“ oder mit moralischen wie „nachlässig“, „unkultiviert“ etc. verbunden, die sich praxeologisch als Verhaltenserwartungen zwischen Sprechern beschreiben lassen. Als solche sind sie sowohl antizipierbar wie frustrierbar und entscheiden damit einerseits über die objektiven sozialen Erfolgschancen der Sprecher in alltagsrelevanten Situationen, andererseits über die Dynamik und den Abbau von Varietäten (Bourdieu 1990, Bourdieu 2001, Henn-Memmesheimer 1990). In Gesprächen werden solche Verhaltenserwartungen implizit oder explizit durch Spracheinstellungen vermittelt. Mit Blick auf die Interviewdaten junger Sprecher aus dem moselfränkischen Dialektgebiet finden sich konkret formulierte Einstellungsäußerungen, die explizit als Urteile wie „dat un wat dat sagt ja eigentlisch jeder also fast. außer in der schule da muss ma sisch dann n bisschen anstrengen“ oder implizit als Positionierungen zu situationsspezifischem Sprachgebrauch der Form „ja wahrscheinlisch würd isch misch denen anpassen weil es käm ja dann seltsam wenn isch da anfangen würde mit äh also hochdeutsch zu reden wenn die da in ihrem dialekt reden“ auftreten. In beiden Fällen werden Ansprüche an das eigene Sprechen und das anderer gestellt und damit Verhaltenserwartungen für situativen Sprachgebrauch etabliert. Eine laienlinguistische Umschreibung, die vor allem im Zusammenhang mit implizit geäußerten Einstellungen in Gesprächen immer wieder zum Tragen kommt und als Vehikel zur Konstruktion von Verhaltenserwartungen dient, ist die der Angemessenheit (Henn-Memmesheimer 1989). Im Zentrum des Vortrags soll daher die Frage stehen, wie Sprecher solche Angemessenheitserwartungen äußern, welche Zuordnungen von Sprechweisen und Situationen sie dabei konstruieren und welche kommunikativen Strategien sie davon ausgehend einsetzen. Literatur Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien: Braumüller. Bourdieu, Pierre (2001): Soziologische Fragen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Henn-Memmesheimer, Beate (1989): Alltägliche Dialektverwendung und das Spiel mit dialektalen Formen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXI (1), S. 38–58. Henn-Memmesheimer, Beate (1990): Normtheorie oder Praxeologie zur Erklärung sprachlicher Varianz. In: Wolfgang Settekorn (Hg.): Sprachnorm und Sprachnormierung: Deskription – Praxis – Theorie. Wilhelmsfeld: Egert, S. 153–164. 12 König, Clelia (Neuchâtel) / Anne-Claude Berthoud (Lausanne) Französischlernen mit Kindern und Erwachsenen: Reparatursequenzen im Alltagsleben von Au-Pair Mädchen Eine sehr bewährte Methode, um eine Fremdsprache zu lernen, ist es, einen Sprachaufenthalt im Ausland zu machen (vgl. Kinginger 2013). Häufig entscheiden sich deswegen viele Mädchen (und teilweise auch einige Jungen) für einen Aufenthalt als Au-Pair. Obgleich diese Erfahrung eine lange Tradition hat, kennt man relativ wenig über den Alltag solcher Zweitsprachsprecher. Was passiert in ihren täglichen Konversationen mit den Familienmitgliedern? Wie lernen sie die zweite Sprache durch die Interaktion? Mittels eines vereinten Ansatzes aus Diskurs- und Konversationsanalyse präsentieren wir die Untersuchungen von Audiodateien von Au-Pair Mädchen, die einen Aufenthalt in der französischsprachigen Schweiz gemacht haben. Wir fokussieren uns auf besondere Gesprächsmomente, in denen die Au-Pairs mit unterschiedlichen Sprachproblemen konfrontiert sind (Aussprache, Wortschatz, Grammatik, usw.). Dadurch entsteht für sie eine Möglichkeit des Sprachenlernens (vgl. De Pietro et al. 1989 „Séquences Potentiellement Acquisitionnelles“). Diese lässt sich allerdings unterschiedlich gestalten, je nachdem, ob die Mitsprecher Erwachsene oder Kinder sind. Folgende Fragen also entstehen: 1) Wie wird der didaktische Vertrag (De Pietro et al. 1989) kontext-spezifisch verhandelt, wenn sich das Au-Pair Mädchen mit Kindern bzw. mit Erwachsenen unterhält? 2) Wie kommt eine Fokussierung auf die sprachliche Probleme zustande (s. Konzept von doppelter Fokussierung, „bifocalisation“, Bange 1992)? Eine detaillierte Analyse der Reparatursequenzen trägt zu einem tieferen Verständnis der Interaktionskompetenz in einer zweiten Sprache bei (vgl. Pekarek Doehler 2006). Somit ist unser Beitrag im Rahmen von einer aktuellen Diskussion über Sprachkompetenzen, über ihre Beschreibung, Begrenzung und Bewertung zu sehen. Dadurch bieten wir erste Antworten und Überlegungen über die Verbindung von Normativität und interaktionalen Linguistik im Bereich des Zweitspracherwerbs an. 13 Lanwer, Jens Philipp (Duisburg-Essen) Grammatikalität und Rekurrenz: Zur Rolle statistischer Verfahren im Rahmen einer ‚rekonstruktiven‘ Linguistik Die Frage nach der Grammatikalität sprachlicher Ausdrücke bestimmt den linguistischen Diskurs im Bereich der Grammatik spätestens seit den Arbeiten CHOMSKYs, der in der auf introspektiv gewonnen Urteilen beruhenden Differenzierung zwischen grammatischen und ungrammatischen Strukturen (einer Sprache) die notwendige Grundlage einer jeden grammatischen Beschreibung sieht (vgl. bspw. SAMPSON 2007:2). Während sich seither zahlreiche Studien mit der Auslese grammatischer und der Aussonderung ungrammatischer Beispielsätze befasst haben (vgl. MEYER 2006), ist die Frage nach der Basis der zugrundeliegenden Fähigkeit eines (kompetenten) Sprecher-Hörers, Urteile über die Grammatikalität sprachlicher Ausdrücke fällen zu können, im Grunde nie ernsthaft behandelt worden. Ein Gedanke, der in diesem Zusammenhang m.E. als diskussionswürdig erscheint, ist der, dass Urteile über die Grammatikalität sprachlicher Ausdrücke ggf. primär auf (subjektiven) Erfahrungswerten bezüglich der sozialen Bewertung sowie der Gebräuchlichkeit bzw. der Rekurrenz sprachlicher Strukturen beruhen. Diese Idee stellt im Forschungsdiskurs sicherlich kein Novum dar. So charakterisiert bspw. TOMASELLO Grammatikalität als einen Fall von „normativity of group behavior“ (TOMASELLO 2010:292) und geht davon aus, dass im Hinblick auf diese Normativität der Wirkkraft von „frequent habitual behavior“ (ebd.) eine besondere Rolle zukomme. Eine Linguistik, die grammatische Beschreibungen nicht auf (subjektive) Urteile bzgl. der Grammatikalität sprachlicher Ausdrücke stützen will, sondern den Anspruch erhebt, Strukturanalysen auf der Basis intersubjektiv verfügbarer Sprachgebrauchsdaten durchzuführen (vgl. auch SAMPSON 2007: 20), muss sich entsprechend mit methodologischen Fragen befassen, die vor allem auch quantitative Verfahrensweisen der „[e]mpirische[n] (Re-)Konstruktion von Sprachsystemen“ (SCHNEIDER 2008:250) betreffen. Dies gilt besonders dann, wenn der Aspekt der sozialen Bewertung (zunächst) zugunsten einer ‚rein‘ strukturellen Beschreibung ausgeschaltet werden soll. Im Rahmen des Vortrags sollen daher Verfahren diskutiert werden, die einen entsprechenden Zugriff ermöglichen. Einen ersten methodologische Anknüpfungspunkte bieten dabei konstruktionsgrammatische Arbeiten, in denen unter Rückgriff auf das Argument der Rekurrenz hinreichend ähnlicher Gebrauchseinheiten (Token) ‚Konstruktionshypothesen‘ im Sinne sprachlicher Typen aufgestellt werden (für eine kritische Diskussion vgl. IMO 2007:38–41). Literatur Imo, Wolfgang (2007): Der Zwang zur Kategorienbildung: Probleme der Anwendung der Construction Grammar bei der Analyse gesprochener Sprache. In: Gesprächsforschung 8, S. 22–45. Meyer, Markus (2006): Grammatische Praxis. Probleme der grammatischen Theoriebildung und der Grammatikschreibung. Tübingen. Sampson, Geoffrey (2007): Grammar without grammaticality. In: Corpus Linguistics and Linguistic Theory 3.1, S. 1–32. Schneider, Jan Georg (2008): Spielräume der Medialität. Linguistische Gegenstandskonstitution aus medientheoretischer und pragmatischer Perspektive. Berlin/New York. Tomasello, Michael (2010): Origins of Human Communication. Massachusetts. 14 Meier, Simon (Berlin) Gesprächsreflexion zwischen Deskriptivität und Normativität – ein Annäherungsversuch Wenn sich die linguistische Gesprächsforschung als deskriptive Tatsachenwissenschaft versteht, die sich normativer Aussagen über ihren Gegenstand zu enthalten habe, dann ist das nur eine mögliche Zugriffsweise auf das Thema Gespräch. Ein Blick in die (Fach-) Geschichte zeigt, dass normative Gesprächsreflexion immer ihren festen Ort in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gespräch hatte (hierzu Meier 2013). Die in den 1950er Jahren entstehende linguistische Gesprächsforschung war durchaus normativ motiviert, und Aussagen darüber, wie Gespräche sein sollten, sind z. B. in der Didaktik oder der Psychologie bis heute präsent. Die Gesprächslinguistik tut sich erfahrungsgemäß schwer mit solchen normativen Ansätzen, die sich bei näherer Prüfung zumeist als empirisch unzulänglich gestützt erweisen und den situativen Variationsreichtum des Gesprächshandelns kaum adäquat berücksichtigen. Umgekehrt werden von den genannten normativen Ansätzen die Ergebnisse etwa der Interaktionalen Linguistik kaum zur Kenntnis genommen. Im Vortrag soll ein Brückenschlag dennoch versucht werden, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens sollen die wertenden bis offen präskriptiven Aussagen ausgewählter normativer Ansätze (z. B. Beier 2011) aus gesprächslinguistischer Sicht rekonstruiert und kommentiert werden. Zweitens soll durch den disziplinären wie auch diachronen Vergleich nach möglichen Normorientierungen der empirisch-deskriptiven Gesprächslinguistik gefragt werden, die sich etwa in terminologischen Metaphern wie der „interaktiven Ressource“ zeigen. Damit soll drittens ein Klärungsversuch unternommen werden, wie Normativität in der (nicht nur linguistischen) Gesprächsforschung überhaupt zu fassen wäre: als empirische (Deppermann/Helmer 2013) ebenso wie als methodologische Größe, die sich auf verschiedenen Granularitätsstufen weiter ausdifferenzieren lässt in konkrete Handlungsnormen, Handlungsmaximen und globale Wertorientierungen. Literatur Beier, Irene M. (2011): Gespräche auf Augenhöhe. Ein Leitfaden für den Dialog zwischen Lehren, Eltern und Schülern. Stuttgart: Kallmeyer. Deppermann, Arnulf / Helmer, Henrike (2013): „Standard des gesprochenen Deutsch. Begriff, methodische Zugänge und Phänomene aus interaktionslinguistischer Sicht“, in: Jörg Hagemann et al. (Hg.): Pragmatischer Standard. Tübingen: Stauffenburg, 111–141. Meier, Simon (2013): Gesprächsideale. Normative Gesprächsreflexion im 20. Jahrhundert, Berlin, Boston: de Gruyter. 15 Osterroth, Andreas (Landau) Gesprochene-Sprache-Forschung: Nur Luxus im linguistischen Elfenbeinturm oder auch Bereicherung des Deutschunterrichts? „Sprich im ganzen Satz!“ und „Sprich richtiges Deutsch mit mir!“ sind Sätze, die derart fest im deutschen Schulsystem verankert sind, dass man glauben könnte, der Deutschunterricht könne ohne sie nicht existieren. Die gesprochene Sprache wird im Vergleich zur geschriebenen traditionell als minderwertig gesehen, ein Missstand, den die moderne Linguistik gerade zu beheben versucht. Mussten sich Linguisten vor 50 Jahren noch rechtfertigen, warum Sie sich mit gesprochener Sprache befassen, so müssen es heute Wissenschaftler tun, die sie ignorieren (vgl. Hennig 2006, S.7). Doch haben die Ergebnisse dieser Forschung überhaupt etwas mit der Schule zu tun? Können Deutschlehrkräfte von dem sog. „Gesprochenen Standard“ profitieren? Die Bildungsstandards sprechen im Kompetenzbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ von „Sprachen in der Sprache“ (S. 16) und setzen als Kompetenz fest, die Funktion von gesprochener und geschriebener Sprache unterscheiden zu können. Und im Kompetenzbereich „Sprechen und Zuhören“ sollen die Schülerinnen und Schüler „situationsangemessen und adressatengerecht“ (S. 8) kommunizieren. Angemessenheit scheint hier ein wichtiges Stichwort zu sein, wenn es um die Gesprochene Sprache geht. Bisher wurde es Lehrkräften überlassen, nach Gefühl zu entscheiden, was in der gesprochenen Sprache ,angemessen‘ ist. Die Forschung kann jedoch einen Gesprochenen Standard definieren, der als Richtlinie dient. Wenn deskriptiv ein Zugang zu gesprochener Standardsprachlichkeit geschaffen wird, dann können Deutschlehrkräfte die erwarteten Kompetenzen darauf auslegen und ihren Unterricht entsprechend gestalten. Moderne Erkenntnisse aus diesem Bereich verhindern Topoi wie die sog. „Schriftbrille“ (Röber 2010, S.7) oder den „written-language-bias“ (Fiehler et al. 2004, S.43). Anstelle von „Sprich im ganzen Satz!“ sollte dann die Forderung stehen: „Sprich so, dass es der Situation angemessen ist“, was durchaus zu Äußerungen führen kann wie: „Ich spreche so, weil…ich schreib ja jetzt hier keinen Aufsatz“. Vortragsgliederung 1. Gesprochene Sprache Forschung – Relevanz im Unterricht 2. Bildungsstandards und Lehrpläne in Bezug auf die gesprochene Sprache 3. Konkrete Unterrichtsvorschläge zur Umsetzung von Forschungsergebnissen 4. Ausblick Literatur (Auswahl) Fiehler, R., Barden, B. & Elstermann, M. (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen: Narr. Hennig, M. (2006): Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: university press. Röber, Christa (2010): Warum Erwachsene die Schriftbrille ablegen müssen. In: Grundschule Deutsch (27), S. 7–10. 16 Plum, Sabine / Markus Grzella (Duisburg-Essen) „Auch für Muttersprachler fremdes Terrain?“1. Zur Frage der Standards bezogen auf die gesprochene Wissenschaftssprache Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Frage nach Standards der gesprochenen Wissenschaftssprache aus der Perspektive eines Projekts, das darauf abzielt, Studierende im Übergang zwischen Schule und Universität bei der Weiterentwicklung ihrer mündlichen Fähigkeiten zu unterstützen. Er stellt zunächst Ansatzpunkt und Rahmenbedingungen des an der Universität DuisburgEssen angesiedelten Projekts „Forum Mündliche Kommunikation“ vor, das dort schwerpunktmäßig im Bereich der geisteswissenschaftlichen Fächer tätig ist. Es wird exemplarisch beschrieben, wie hier auf der Grundlage von Korpusdaten (genutzt wird insbesondere das Korpus GeWiss der Universität Leipzig zur gesprochenen Wissenschaftssprache) und von selbst erhobenem Datenmaterial Kursangebote für Studierende ausgearbeitet werden. Sowohl beim Bemühen um klar umrissene Lernzielbestimmungen, als auch in Erwartungshaltung und Resonanz von Studierenden rücken dabei Fragen nach dem Verhältnis von Norm und Varianz, nach der Fundierung und Reichweite von wissenschaftssprachlichen Standards ins Blickfeld. Der Beitrag wird deutlich machen, wie bei der Vermittlung von wissenschaftsgemäßem Sprachgebrauch mit dem studentischen Wunsch nach verlässlichem Orientierungswissen umgegangen wird. 1 Die Titelformulierung knüpft an einen Aufsatztitel von Gabriele Graefen an, vgl. Dies. (2009): Muttersprachler auf fremdem Terrain? Absehbare Probleme mit der Sprache der Wissenschaft. In: Lévy-Tödter, Magdalène/ Meer, Dorothee (Hg.): Hochschulkommunikation in der Diskussion. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 263-279. 17 Pöll, Bernhard (Salzburg) A la recherche d’une espèce polymorphe oder: Was ist und wo findet sich der Standard des (gesprochenen) Französischen? Obwohl in der Geschichte des Französischen die erste Festlegung des Exemplarischen – im modernen Sinne einer autoritativ gestützten Kodifizierung – dem Gesprochenen einen klaren Primat zuwies, sind auch im 21. Jahrhundert die Umrisse der präskriptiven Norm des „français parlé“ nicht völlig klar. Die im 19. Jahrhundert vollzogene, definitive Ablösung des Pariser Hochadels („la plus saine partie de la cour“, Claude Favre de Vaugelas, 1647) als Trägerschicht für den „bon usage“ durch die bürgerlichen (Bildungs-)Eliten der französischen Metropole hat die Bestimmung des gesprochenen Standards weder für Usus- noch für Kodex-orientierte Herangehensweisen leichter gemacht. Neue Begrifflichkeiten, wie das seit den späten 1990er Jahren propagierte „français de référence“, das im wissenschaftlichen Diskurs an die Stelle von Konzepten wie „français de Paris“ oder „français standard“ tritt, haben sich dabei eher als Scheinlösungen erwiesen. Vor dem Hintergrund eines kurzen Abrisses der historischen Entwicklung der Standardnorm des Französischen (mit vergleichenden Ausblicken auf das Deutsche) wird im Vortrag zunächst versucht, die Konturen der sprechsprachlichen Norm in jenen medialen Kontexten zu bestimmen, die sich rezipientenseitig durch die Erwartung ausgeprägter Standard-Nähe kennzeichnen, sprecherseitig aber im Konzeptuell-Mündlichen verankert sind. Neben der Problematik unterschiedlicher „diachroner Schichten“ in der Orthoepie des Französischen wird auch die Frage zu betrachten sein, inwiefern es gerechtfertigt ist, eine Standardaussprache des Französischen anzusetzen, oder ob von mehreren nationalen Aussprachenormen, etwa für das Französische Belgiens, der Schweiz oder Québecs, gesprochen werden kann oder vielleicht sogar muss. Literatur Detey, Sylvain et al. (eds.) (2010), Les variétés du français parlé dans l’espace francophone. Ressources pour l’enseignement, Paris: Ophrys. Pöll, Bernhard (2005), Le français langue pluricentrique ? Etudes sur la variation diatopique d’une langue standard, Frankfurt et al. : Lang. Pooley, Tim (2012), Vers une norme endogène pluricentrique ou une pluralité de normes en francophonie du nord ?, Langage et société 2, 117–134. Reinke, Kristin (2004), Sprachnorm und Sprachqualität im frankophonen Fernsehen von Québec, Tübingen: Niemeyer. Vaugelas, Claude-Favre de (1970 [1647]), Remarques sur la langue françoise. Genève: Slatkine Reprints. Wolf, Lothar (1983), La normalisation du langage en France. De Malherbe à Grevisse, In: Bédard, Édith/ Maurais, Jacques (eds.), La norme linguistique, Québec/Paris: Conseil de la langue française/Le Robert, 105–137. 18 Rödel, Michael (Haßfurt) Zwischen rigiden Fremdvorstellungen und didaktischem Liberalismus: Zum Problem der „sprachlichen Norm“ in der Schule Jahrzehntelang galt die Deutsch-Lehrkraft als konservative Hochburg eines normorientierten Sprachgebrauchs. In der Öffentlichkeit beeindruckt dieses Bild durch seine scheinbar uneingeschränkte Präsenz: Kaum eine Deutschlehrerin, kaum ein Deutschlehrer, der nicht schon die Aussage vernommen hat, man müsse im Gespräch mit ihm besonders „richtig“ und „gut“ formulieren. Viele Deutschlehrer – das wird der Vortrag verdeutlichen – fühlen sich aber alleingelassen im Umgang mit der sprachlichen Norm. Auf der einen Seite trägt die Linguistik mit überzeugenden Argumenten vor, dass Sprache einem ständigen Wandel unterzogen ist, auf der anderen Seite attestieren Personalchefs, wenn sie diese Wandelphänomene bei Bewerbern registrieren, ein nachlassendes Niveau der Ausdrucksfähigkeit. Auf der einen Seite hat sich im didaktischen Tagesgeschäft ein sehr liberaler Umgang mit der Rechtschreibung zu Gunsten der Inhalte durchgesetzt, auf der anderen Seite beklagen fachfremde Kollegen, dass der Deutschunterricht versagt hätte, wenn die Rechtschreibung fehlerhaft ist. Auf der einen Seite soll die Schule den dialektalen Sprachgebrauch fördern, auf der anderen Seite wird ein sächselnder Erstsemester im bayerischen Vorlesungssaal von Kommilitonen gerne mal mit einem abschätzigem Lachen bedacht. Der Vortrag skizziert die geschilderten Probleme, indem er aktuelle Beobachtungen und Erhebungen vorstellt. Er versucht auf dieser Basis einen Vorschlag zu entwickeln, wie das Wissen um eine gesprochensprachliche Norm und damit auch die Ergebnisse des Landauer DFGProjekts für die Institution Schule relevant werden können. Dabei wird auch deutlich werden, dass dies naturgemäß zuerst, aber längst nicht nur den Deutschunterricht betrifft. 19 Schwenke, Anna (Halle-Wittenberg) Sprechstil von Radionachrichten – Zwischen Standards zur Hörverständlichkeit und Formatspezifik Radionachrichten als sekundär-gesprochene Texte stehen in einem charakteristischen Wechselverhältnis zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, zwischen Tradition, Hörererwartung und Erneuerungswille. Dabei gelten Radionachrichten als stark normiert, mit relativ eng umgrenztem Gestaltungsspielraum, spezifischen sprachlich-sprecherischen Merkmalen und z.B. verglichen mit Moderation als unverkennbar typisch. Es existieren Standards zum hörverständlichen Schreiben und Sprechen von Radionachrichten, die auf Erfahrungswissen sowie plausiblen Grundannahmen zu verständlicher und medial vermittelter Sprache basieren. Eine empirische Prüfung dieser Standards steht bislang noch aus. Aktuelle sprechwissenschaftliche Untersuchungen zur Hörverständlichkeit von Radionachrichten greifen die medienlinguistisch motivierte Kritik Straßners (1975) an der unverständlichen Sprache von Radionachrichten auf und fokussieren die Wechselwirkung von sprachlich-textlichen und sprecherisch-phonetischen Merkmalen sowie den Einfluss dieser Merkmale auf das Verstehen durch HörerInnen. Radionachrichten lassen sich längst nicht mehr nur auf ihre primäre Informationsfunktion reduzieren. Durch heutiges Informationsüberangebot, radiomarktwirtschaftliche Entscheidungen über Angebot und Produktionsbedingungen sowie zielgruppenspezifische Formatierung von Radioprogrammen werden angemessene sprachlich-sprecherische Gestaltungsformen senderindividuell verhandelt. Radionachrichten werden stärker in Programme eingebettet. Die geschieht neben Ab- und Anmoderationen sowie klanglich-musikalischen Mitteln (Jingles, Musikbett etc.) auch durch sprechstilistische Mittel. Um prüfen zu können, wie stark der begrenzte Gestaltungsspielraum formatspezifisch oder sprecherindividuell genutzt wird und um vorhandene Standards empirisch zu validieren, wurde ein deutschlandweites Korpus von 100 NachrichtensprecherInnen privater und öffentlich-rechtlicher Sender erhoben. SprecherInnen haben entweder eine leicht oder eine schwer verständlich geschriebene Textvariante einer inhaltlich identischen Nachrichtensendung gesprochen. Diese Testsendungen werden auditiv-akustisch analysiert (u.a. Sprechtempo, Akzentuierung, Stimmlage). Zu sprecherabhängigen Faktoren (Ausbildung, Erfahrung, Arbeitsalltag) wurden SprecherInnen schriftlich befragt. In einem Hörexperiment wurde geprüft, wie bzw. ob HörerInnen einen Formatbezug lediglich anhand des Sprechstils erkennen und benennen können. Im Vortrag werden Untersuchungsergebnisse präsentiert und bezogen auf Fragen nach gesprochenem Standard, Normorientierung und pragmatischen Spielräumen bei Radionachrichten als Prototyp für sachlich-informierende Gebrauchstexte diskutiert: Radionachrichten als ein Ideal gesprochener Standardsprache? Gibt es bewusste oder kalkulierte Normbrüche bei Privatsendern und Jugendsendern? Wie konzeptuell mündlich können Radionachrichten sein? Literatur Schwenke, Anna / Barthel, Helen / Rose, Maximilian (2015): Was macht Radionachrichten verständlich(er)? – Phonetische Analyse von langsam gesprochenen Nachrichten der Deutschen Welle. In: Bose, Ines (Hg.): Radio, Sprache, Klang. Frankfurt/M. (Siegener Periodikum der internationalen empirischen Literaturwissenschaft). 20 Apel, Heiner / Schwenke, Anna (2014): „16.00 Uhr – die Themen“: Aktuelle sprechwissenschaftliche Untersuchungen zu Radionachrichten. In: Ebel, Alexandra (Hg.): Aussprache und Sprechen im interkulturellen, medienvermittelten und pädagogischen Kontext. Beiträge zum 1. Doktorandentag der Halleschen Sprechwissenschaft, 11-34. (Online-Publikation: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:2-24373). Schwenke, Anna (2012). Wie klingen Radionachrichten? Sprechstil von Radionachrichten – Konstanz und Varianz. In: Rundfunk und Geschichte. 1-2/2012. S. 88-90. Schwenke, Anna (2011): Einfluss einer Textvorlage auf die sprecherische Realisierung – Auditiv-phonetische Analyse quasiauthentischer Sprechfassungen des Testmaterials. In: Bose, Ines / Schwiesau, Dietz (Hg.): Nachrichten schreiben, sprechen, hören. Forschungen zur Hörverständlichkeit von Radionachrichten. Berlin, 125-145). Apel, Heiner / Schwenke, Anna (2011): „Grundlagen von Sprach- und Sprechtrainings für Nachrichtensprecher im Hörfunk – empirische Validierung vorhandener Standards“. In: Krafft, Andreas / Spiegel, Carmen (Hg.): Sprachliche Förderung und Weiterbildung – transdisziplinär. Forum Angewandte Linguistik Bd. 51. Frankfurt/Main, 177-196). 21 Staffeldt, Sven (Würzburg) Sehr sehr unklar. Auf der Suche nach einer Norm für syntaktische Reduplikationsformen Der Vortrag beschäftigt sich mit dem Phänomen der direkten Aufeinanderfolge zweier identischer Wortformen im geschriebenen und gesprochenen Deutsch. Die folgenden Fragen stehen dabei im Vordergrund des Erkenntnisinteresses: Handelt es sich um ein Phänomen beider medialer Erscheinungsformen des Sprachstandards? Welche Regelmäßigkeiten zeigen sich in den Sprachgebräuchen? Sind die Beschreibungen der sich zeigenden Regelmäßigkeiten als Gebrauchsnormformulierungen in eine Kodex-Norm überführbar? Ist es überhaupt sinnvoll, dieses Phänomen in einem Kodex mit einer Norm zu verankern? Und wenn ja: in welchem? Oder gibt es Gründe, dieses Phänomen normativ unbehelligt zu lassen? Hierzu werden Ergebnisse kleinerer Studien und Metastudien zum Vorkommen dieses Phänomens im Sprachgebrauch, in der Forschung, in Kodizes und – sofern ergiebig – in Lehrerantworten vorgestellt. Eine wichtige zu diskutierende Frage wird darüber hinaus sein, anhand welcher Kriterien (oder ob überhaupt) entschieden werden kann (oder sollte), ob es sich bei diesen Geminationen oder syntaktischen Reduplikationen um sprachliche Einheiten des Deutschen jenseits sprachproduktionsbedingter Auffälligkeiten handelt. 22 Sonja Zeman (München) „Es ist einfach nur wieder schlechtes Deutsch.“ Unkonventionelle TempusVerwendungen im mündlichen Sprachgebrauch zwischen Sprachwandel und Stigmatisierung Die Frage, welche Faktoren dazu führen, ob eine sprachliche Form von Sprechern als angemessen bewertet wird, kann Schneider & Albert 2013 zufolge nicht losgelöst von deren Situierung im jeweiligen medialitäts- und domänenspezifischen Kontext beantwortet werden. Unter dieser Prämisse argumentiert der Vortrag, dass sich die Situationsadäquatheit einer grammatischen Form insbesondere aus dem Zusammenspiel der Kommunikationsbedingungen der aktuellen Gesprächssituation und der sprachlichen Indizierung des deiktischen Referenzrahmens ergibt – und eine linguistische Beschreibung von Normorientierung daher beide Aspekte in ihrer Interaktion zu berücksichtigen hat. Exemplarisch wird das an Tempus-Verwendungen im mündlichen Sprachgebrauch demonstriert, die häufig im Fokus der Sprachkritik stehen: die Doppelten Perfektformen (Er war im Park gesessen gewesen.) und das Plusquamperfekt zur Bezeichnung der einfachen Vergangenheit (War letzte Woche auf Mallorca gewesen.). Funktionale Analysen dieser Tempusverwendungen im gesprochenen Gegenwartsdeutschen und ein Blick auf deren diachrone Entwicklung werden zeigen, dass der Gebrauch der Formen insbesondere dann als normabweichend empfunden wird, wenn die Kommunikationsbedingungen der aktuellen Sprechsituation mit dem sprachlich indizierten deiktischen Referenzrahmen kollidieren und damit einen PerspektivenClash auslösen. Dieses Prinzip bildet die Basis für den Vorschlag einer systematischen Beschreibung des Tempusgebrauchs, der sowohl unkonventionelle Tempusverwendungen im gesprochenen Deutschen als auch „ungrammatischen“ Tempusgebrauch in narrativen Texten erklären kann. Das Ergebnis ist aus sprachdidaktischer wie sprachtheoretischer Sicht von Relevanz: Einerseits wird erklärbar, warum bestimmte Formen stärker ins Visier der Sprachkritik geraten als andere, so dass daraus Konsequenzen in Bezug auf die Vermittlung eines gesprochenen Standards abgeleitet werden können. Andererseits geben die Betrachtungen Aufschluss in Bezug auf allgemeine Mechanismen, die zu stigmatisierten Verwendungen führen, so dass Prinzipien von „Normativität“ aus linguistischer Sicht systematisch greifbar werden. Literatur Schneider, Jan Georg & Georg Albert. 2013. Medialität und Standardsprache – oder: Warum die Rede von einem gesprochenen Gebrauchsstandard sinnvoll ist. In Jörg Hagemann, Wolf Peter Klein & Sven Staffeldt (Hrsg.): Pragmatischer Standard. Tübingen: Stauffenburg, 49–60. 23
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