FOTOS: MARK MACKENZIE „Die Händler verwirren ihre Kunden“ Marketing-Experte Marcel Corstjens über erfolgreiche Markengeschichten, einkaufsgetriebene Sortimente bei Metro oder Carrefour, die Schwächen der sozialen Medien und fehlende Spielräume für Marktmanager. Professor Corstjens, Sie gelten vielen als enfant terrible. In Ihrem neuen Buch kritisieren Sie Manager, die sich götzenhaft Marketing-Mythen unterwerfen. Wieso? Marketingleute sehen sich oft als Künstler. Sie betonen vor allem die Intuition. Das halte ich für gefährlich. Denn die Intuition kann – ohne Berücksichtigung objektiver wissenschaftlicher Analysen – zur Entstehung von Mythen und damit in Handel wie Industrie zu katastrophalen Managemententscheidungen führen. Was für Mythen meinen Sie? „Selbst HarleyDavidson-Fans sind ihrer Marke nicht immer treu“ Nehmen wir zum Beispiel die allgemein akzeptierte Marketinglehre, wonach ein Markenartikler die Zielkundschaft nie stark genug segmentieren kann. Für die Produkte des Massenkonsums halte ich das für einen Kardinalfehler, denn das Resultat ist das heutige Überangebot an Marken und Untermarken. Zu was raten Sie stattdessen? Man muss eine Marke für viele Menschen und Kaufsituationen interessant und relevant machen. Wird dagegen die Zielkundschaft im Vorfeld zu sehr eingegrenzt, beschränkt dies automatisch künftiges Wachstumspotenzial. Fördert ein eng umrissenes Kundenbild die Markentreue wirklich nicht? Man findet äußerst selten eine erfolgreiche Nischenmarke, die wenige, aber sehr treue Anhänger hat. Nachweislich sind zum Beispiel nicht einmal HarleyDavidson-Fans ihrer Marke immer treu. Studien belegen, dass der Markenerfolg nicht von der Kundentreue, sondern von der Käuferreichweite abhängig ist. Das gilt erst recht für die Güter des Massenkonsums. Sie wehren sich gegen die Emotionalisierung von Markenartikeln. Müssen aber erfolgreiche Marken nicht immer auch unsere Gefühle ansprechen? Sorry, dabei handelt es sich nur um einen weiteren Mythos. Es ist schlichtweg nicht wahr, dass man in ein Produkt des Massenkonsums verliebt sein kann. Hier geht es doch nicht um eine Ehe! Es gibt Lieblingsmarken! Eine Schokolade, ein Kaffee oder ein Bier sind letzten Endes doch relativ nebensächliche Dinge im Leben eines Menschen, egal wie bedeutend sie für Brand-Manager und Werbeleute sein mögen. Nicht einmal mit Coca-Cola verbindet Otto Normalverbraucher eine tiefe emotionale Verbindung. Was bieten Sie als Alternative an? Es ist viel wichtiger, dass sich Konsumenten an eine Marke erinnern. Um das zu erreichen, muss eine gute Geschichte erzählt werden. Eine Markenstory muss nicht unbedingt glaubwürdig, auf jeden Fall aber interessant sein. Damit kann der Markenartikler immer wieder an die Tür des Konsu- menten klopfen und das Produkt in dessen Gedächtnis verankern. Was für ein Beispiel fällt Ihnen dazu ein? Schauen Sie sich den Erfolg von Dove an. Unilever hat hierfür keine großen Investitionen in Forschung und Entwicklung machen müssen. Silvia Lagnado, eine damalige Mitarbeiterin aus Brasilien, hatte die geniale Idee, bei der Werbeansprache auf innere statt auf äußere Schönheit zu setzen. Diese Story kam an, weil viele Frauen mit ihrem Gewicht hadern und sich von Werbung manipuliert fühlen. Unilever macht auch Macho-Werbung für Axe. Wie hat derselbe Konzern den gedanklichen Quantensprung zum Dove-Auftritt geschafft? Das ging nicht ohne Widerstand aus der Chefetage. Aber Frau Lagnado und Marketingvorstand Simon Clift haben sich schließlich durchgesetzt. Das Geniale daran ist, dass Unilever an die Story der inneren Schönheit immer wieder anknüpfen kann. Das nenne ich eine „lange“ Story, also sozusagen eine Story mit Beinen. Wie konnte Unilever diese Story weiterspinnen? Unilever startete mit einer Werbekampagne namens Dove Evolution. Dort konnte man sehen, mit welchen Mitteln das Foto einer schönen Frau auf einem Werbeplakat retuschiert wird. Danach kamen die Real-Beauty-Sketches, die man sich unter anderem auf You- Tube anschauen kann. Eine Marke, die sich auf eine so interessante Art und Weise ständig in Erinnerung ruft, wird natürlich sehr präsent im Kopf der Verbraucherinnen sein. Das wirkt am Point of Sale im Supermarkt. Diese Beispiele haben sehr viel mit Emotion zu tun... Nicht viel. Die Frauen, die Dove kaufen, glauben nicht ernsthaft, dass sie hierdurch innerlich oder äußerlich schöner werden. Sie sind nur für die Markenbotschaft empfänglich und empfinden sie als originell und relevant zu ihrer Lebenssituation. Das ist doch der Trick, nicht die Emotion an sich. Auch Aldi und Lidl profitieren von starken Markenstorys. Was halten Sie von deren Strategie? Nehmen wir Lidl in England als positives Beispiel. Dort haben die Neckarsulmer ihre Käuferreichweite in letzter Zeit sehr stark erhöht, ohne ihr Filialnetz nennenswert erweitert zu haben. Sie haben dies im Wesentlichen durch den Ausbau ihres Sortimentes erreicht. Seitdem kaufen die Briten nicht mehr nur einzelne, besonders billige Artikel in großen Mengen bei Lidl ein, sondern sie tätigen dort ihren gesamten Wocheneinkauf. Ist die Ausweitung der Sortimente für Aldi und Lidl nicht gefährlich, weil es Kosten und Komplexität erhöht? Es stimmt zwar, dass die Anzahl der Artikel im Sortiment für alle Händler den größten Treiber der Betriebskosten darstellt. Vergleichen Sie aber die Sortimente der deutschen Discounter mit jenen eines Tesco-Verbrauchermarktes oder eines Tesco-Convenience-Shops. Sie werden feststellen, dass diese immer noch viel geringer sind. Soll das heißen, Tesco hat in den vergangenen Jahren kein professionelles Category Management betrieben? Lange Zeit nicht. Erst seit der Konzernkrise im Jahr 2014 wurde das Riesensortiment unter der Ägide des neuen CEO Dave Lewis um etwa 15 Prozent gestrafft. Seine Vorgänger Terry Leahy und Phil Clarke hatten es jahrzehntelang maßlos ausufern lassen. Selbst heute ist die Artikelzahl immer noch viel zu hoch. Handelt es sich hier um ein Tesco-spezifisches Problem? „Kein Mensch will den Super-Bowl auf einem Smartphone anschauen“ die Betriebsgrößenvorteile eines Aldi oder eines Lidl hat, kann daher gleich einpacken. wissen sie nicht einmal, um wie viel Prozent ein guter Marktleiter den Filialumsatz steigern kann. Die Kapitalkosten auf den Finanzmärkten sind doch für alle Unternehmensformen mehr oder minder gleich. Worauf wollen Sie hinaus? Viele Händler wollen „Retail Brands“ werden. Wie können sie ihr Profil weiter schärfen? Der Filialleiter ist also eine Art Black Box? Wenn Familienunternehmen wachsen wollen, haben sie im Prinzip nur vier Optionen, um sich das nötige Kapital zu beschaffen. Sie können es aus den Gewinnen nehmen, Darlehen von den Banken bekommen, an die Börse gehen, oder ihre Lieferanten zur Kasse bitten. Die ersten drei dieser Optionen behagen den meisten Familienunternehmen nicht. Und wie machen sie das am besten? Das eigentliche Problem bei einem Tesco, Carrefour oder Rewe ist, dass die Ladenmanager oft nur recht durchschnittlich sind. Man trennt sich auf Dauer von den schlechten, und die guten steigen schnell zu Regionalleitern und so weiter auf. Was bleibt, ist das Mittelmaß. Das ist eigentlich schade, denn gute, mit lokaler Autonomie ausgestattete Marktleiter stellen eine hervorragende Differenzierungschance für einen Händler dar. Natürlich müssen gewisse Bereiche zentral gesteuert werden, um Synergieeffekte zu erzielen, aber die Handels- In Ihrem Buch setzen Sie sich mit der oftmals schwierigen Beziehung zwi- Einzelhändler befinden sich in einer ganz anderen Lage als ihre Lieferanten. Bin ich ein Kitkat, so muss ich nur für eine nationale Distribution sorgen. Bin ich aber ein Tesco, so muss ich den Kampf an jedem Standort im ganzen Land gewinnen. Deshalb sollten Händler die Kundenerwartungen stets auf lokaler Ebene befriedigen. Warum denn nicht, sind es doch ganz übliche Wege der Kapitalbeschaffung? Die Nachsteuergewinne im Handel sind recht niedrig, also reichen sie selten aus. Die Banken wollen sich meistens in das Geschäft einmischen oder verlangen Aufsichtsratsmandate. Geht Keineswegs. Ob Metro Group oder Carrefour, fast alle großen Handelskonzerne führen einkaufs- und nicht kundengetriebene Sortimente, die viel zu breit und tief sind. Damit treiben sie ihre Betriebskosten in die Höhe und verwirren die Kunden. Sexy: Aber hat Otto Normalverbraucher wirklich eine tiefe emotionale Verbindung zu Coca Cola? Corstjens hält das für einen Marketing-Mythos. Warum ändert sich daran nichts? Die Einkäufer haben zu viel Macht und die Hersteller wollen zu viele Produkte ins System schleusen. Dabei stellen die Listungsgebühren der Industrie eine zuverlässige Einkommensquelle für Händler dar. Vor allem leben sie aber ständig in der aus meiner Sicht übertriebenen Angst, dass ein Kunde, der sein Lieblingsprodukt in den Regalen einmal vergeblich sucht, nur noch bei der Konkurrenz einkaufen wird. Weil auch die ausgeweiteten Sortimente der beiden immer noch exakt den Kundenerwartungen entsprechen. Das Riesenangebot von Tesco dagegen ist im Wesentlichen nur das Ergebnis von Deals, die mit den Lieferanten ausgehandelt wurden. Anfang Februar hat Easy Foodstore seinen ersten Markt in London eröffnet. Der Discounter will Aldi und Lidl unterbieten. Hat deren Trading-upStrategie sie für solche Attacken verwundbar gemacht? Rein theoretisch ist das zwar möglich. Hier legt sich Easyjet-Gründer Stelios Haji-Iaonnou aber gerade dort mit Aldi und Lidl an, wo sie am allerstärksten sind. Die Einkaufskosten betragen bei den meisten Händlern etwa 70 bis 80 Prozent der Umsätze. Wer nicht FOTO: COC A-COL A Wieso kritisieren Sie die hohen Artikelzahl der Vollsortimenter, finden es aber gut, wenn Aldi und Lidl ihr Angebot ausweiten? zentralen sollten den Filialleitern mehr Autonomie einräumen, sonst werden sie lokal nicht gewinnen können. Bedauerlicherweise halten sie wenig von ihren eigenen Leuten an der Front oder trauen ihnen einfach nicht genug zu. Warum betonen dennoch fast alle Händler, wie wichtig ihnen ihre Marktleiter vor Ort sind? Sie setzen diese frommen Sprüche selten in die Tat um. Im Gegenteil: Sogar die Händlergenossenschaften versuchen, die Autonomie ihrer Mitglieder einzuschränken und die zentrale Kontrolle zu stärken. Oftmals schen Handel und Industrie auseinander. Ein Reizthema sind die Zahlungsziele. Warum glauben Sie, dass Händler ihre Bedeutung überbewerten? Wenn sie wirklich das wichtigste Kriterium für die Rentabilität des Handels wären, hätte doch Walmart als umsatzstärkster Handelskonzern der Welt nicht kürzere Zahlungsziele als manch ein kleinerer Händler. Die harten Kämpfe um möglichst lange Zahlungsziele haben meines Erachtens damit zu tun, dass viele europäische Händler wie Metro, Carrefour, Casino oder Ahold lange Zeit als Familienunternehmen erfolgreich waren. man an die Börse, ist man reportpflichtig und muss sich dauernd auf Gespräche mit den Analysten einlassen. So bevorzugen es die meisten Familienfirmen, immer bessere Zahlungsziele mit ihren Lieferanten auszuhandeln. Wir haben derzeit historisch niedrige Zinssätze. Müsste nicht das Thema Zahlungsziele deshalb an Bedeutung verlieren? Theoretisch ja, aber so denkt kein Händler. Wenn die Zinssätze wieder steigen, wird kein Händler die bereits vereinbarten Zahlungsziele wieder kürzen. Die allgemeine Strategie des Real Beauty: Der Erfolg von Dove ist nicht das Ergebnis von Forschung & Entwicklung. Entscheidend ist die Markenstory, sagt Corstjens. FOTO: UNILEVER tto er e ndung rsteinen s. Handels, möglichst lange Zahlungsziele auszuhandeln, hat aber ihre Grenzen. Denn sie sind bereits recht lange. Viele nationale Wettbewerbsbehörden in der EU sind inzwischen hellhörig geworden und wollen dem Handel Grenzen setzen. Wie könnten sich Händler andere Kapitalquellen erschließen? Sie sollten ihre Nettogewinnmarge steigern, denn hier erzeugt die kleinste Optimierung unheimlich viel Hebelwirkung. Das erreicht man am besten über eine Steigerung der Kundenumsätze. Der Handel hat ja hohe Fixkosten. Steigert man die Kundenfrequenz, erhöht dies nicht nennenswert die Kosten und man macht zwangsläufig mehr Gewinn. Da erzählen Sie nichts Überraschendes. Preiskämpfe sind uns in Deutschland bestens bekannt. Das ist der leichteste Weg. Damit wächst aber die Gefahr, die Wertschöpfung zu vernichten. Die Konkurrenz macht außerdem bei den meisten Preiskämpfen mit. Und? Ein viel besserer Weg wäre es, sich zu differenzieren. Das gelingt meines Erachtens am besten mit möglichst autonom agierenden Marktleitern. Halten Sie Online-Heimlieferservices für ein taugliches Instrument zur Differenzierung? Damit habe ich ein fast philosophisches Problem. Heute müssen die Kunden zum Markt fahren, die Ware selbst finden, sie aufs Checkout-Band hieven und dann nach Hause schleppen. Der Händler, der jetzt einen Online-Heimlieferservice anbietet, nimmt den Kunden alle Mühen und die Transportkosten bis auf eine oftmals nicht kostendeckende Liefergebühr ab. Würden Sie dem Handel empfehlen, auf E-Commerce zu verzichten? Nein, heute hat der Händler keine Wahl, auch wenn kein LEH-Filialist oder Pure Player wie Ocado mit E-Commerce eigentlich Geld macht. Stationäre Händler sollten daher eher defensiv vorgehen und ein Minimum an Know-how und Infrastruktur für den Fall aufbauen, dass der OnlineFoodhandel irgendwann als Selbstverständlichkeit vom Kunden erwartet wird. Momentan können sie aber nur froh sein, dass Online-Heimliefer-Services bis dato nur eine Nische für eher vermögende Kunden in der Großstadt geblieben sind. Wer Ihr Buch liest, könnte auf die Idee kommen, Sie stehen mit dem Cyberspace ein wenig auf Kriegsfuß. Sie loben zum Beispiel das Fernsehen als Werbemedium. Das Smartphone kommt eher schlecht weg. Warum? Würden Sie ernsthaft den Super-Bowl mit Ihren Kindern auf einem Smartphone anschauen? Das Einheitsdenken unter Marketingleuten will uns glauben machen, dass die neuen Medien unser Konsumverhalten bald maßgeblich bestimmen werden. Auch das ist ein Mythos, gegen den ich mich entschieden wehre. Sehen Sie nicht, wie viele junge Menschen heute ständig mit ihren Smartphones beschäftigt sind? Dann gehen Sie bitte zu Facebook und suchen Sie nach den beliebtesten Treffern in Deutschland. Dort findet man an erster Stelle Bayern München mit 35 Millionen Fans. Danach folgen Mesut Özil, Borussia Dortmund, Marco Reus, Mario Götze, Mario Maurer, Toni Kroos, Thomas Müller, Rammstein und Bastian Schweinsteiger. Sind das etwa Markenartikler oder Händler? Aber gerade die Markenartikler investieren zur Zeit immer mehr in die sozialen Medien? Auf Facebook ist die beliebteste Marke in Deutschland Amazon.de mit 3,8 Millionen Fans, was ja nur ein Zehntel von Bayern München ist. Es folgen Zalando mit 3,6 Millionen, Stylefruits.de mit 3 Millionen, CocaCola mit 1,2 Millionen, Tchibo mit 1,1 Millionen, Jacobs mit 0,4 Millionen und Nescafé mit 0,2 Millionen. Und in meiner belgischen Heimat steht Jean-Claude Van Damme auf Platz Eins! Dort reden die jungen Menschen kaum von Stella Artois, Grolsch oder Coke. Die Moral der Geschichte heißt also, weiterhin in die Fernsehwerbung zu investieren? Vorerst ja, weil sie nachweislich weiterhin die höchste Käuferreichweite ermöglicht. Noch sind die sozialen Medien zu fragmentiert, aber viele Markenartikler wollen an dieses Phänomen glauben, statt ihre Investitionsentscheidungen einer objektiven Analyse zu unterziehen. „Die meisten Händler trauen ihren Filialleitern nicht“ Ernsthaft? Doch. Neulich zum Beispiel hat Heineken einen Großteil seines Kommunikationsetats in die sozialen Medien verlagert. Als ich sie fragte, ob sie eine Kosten-Nutzen-Analyse gemacht hätten, hieß es sinngemäß, das wäre nicht vonnöten, denn wesentlich wichtiger sei, dem Trend voraus zu sein! lz 08-16 Das Gespräch führten Mike Dawson, Bernd Biehl und Maike Backhaus. MARCEL CORSTJENS Mythen auf dem Prüfstand Das neueste Buch von Professor Marcel Corstjens heißt „Penetration. The New Battle for Mind Space and Shelf Space“ (siehe Seite 64 ). Darin setzt sich der Wissenschaftler und Topberater mit einer Reihe gängiger Marketing-Mythen in der Konsumgüterwirtschaft auseinander. Seiner Meinung nach werden diese Mythen viel zu leichtfertig für bare Münze genommen, was zu katastrophalen ManagementEntscheidungen führe. Corstjens gilt als einer der angesehensten Denker auf dem Feld der Konsumgüterwirtschaft. Er ist emeritierter Unilever-Lehrstuhlinhaber für Marketing an der Managementschule Insead in Fontainebleau. Während seiner akademischen Karriere hatte Corstjens eine Reihe von branchenrelevanten Aufsichtsratsmandaten inne. Hier- zu gehören unter anderem der portugiesische und polnische LEHMarktführer Jerónimo Martins sowie True Start, ein Innovationsinkubator zur Förderung junger InternetUnternehmern in London. Zu seinen eigenen Geschäftsgründungen zählen die Marktforschungsfirma „Prism“, die BuchVermarktungsgesellschaft Cubiculum und Mania, ein Business-Computer-Simulationsmodell, das zum Beispiel Konditionsgesprächssituationen für Handels- und Industrieteilnehmer entwickelt. Als international anerkannter Marketingfachmann schreibt Corstjens regelmäßig für Fachblätter wie die Harvard Business Review. Zu seinen bekannten Büchern zählt der zusammen mit seiner Ehefrau Judy im Jahr 1995 veröffentlichte Branchenbestseller „Storewars: The Battle For Mindspace and Shelf Space“ über die Marketingstrategien und Machtkämpfe der Markenartikler und Händler. Last but not least ist Marcel Corstjens ein gefragter Redner. Sein nächster öffentlicher Auftritt wird am 2. Juni 2016 auf einer Veranstaltung der Lebensmittel Zeitung und dfv Conference Group (siehe Seite 32 ) in den Räumen der dfv Mediengruppe in Frankfurt am Main stattfinden. Unter dem Motto „Mythos Marketing – Marketing-Weisheiten auf dem Prüfstand!“ wird der Experte sein neuestes Buch präsentieren. Anmeldungen sind unter www.dfvcg.de/mythosmarketing16 möglich. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an Svenja Wieck: E-Mail: [email protected]; Telefon: 0697595-3027. md/lz 08-16 Ein Nehmen und Geben Oft fühlt sich die Industrie vom Handel ausgenommen. Dessen Macht jedoch ist relativ. Die in Robin-Hood-Manier erbeuteten Gelder und Konditionsgewinne verpulvert er regelmäßig beim Kampf um Marktanteile gegen seine unmittelbaren Widersacher. Das ist nicht geschickt, weil es alle tun, resümiert Marketing-Experte Marcel Corstjens. Ein Auszug aus seinem aktuellen Buch „Penetration“. vernichtung. Sind die Händler Opfer ihres eigenen Geschäftsmodells? Händler begeben sich aus reiner Not in den Preiswettbewerb und weil es schneller und einfacher ist als andere Formen der Differenzierung. Außerdem erfordern Preisreduzierungen keine direkten Ausgaben. Händler müssen die größtmögliche Kundenreichweite in der Umgebung ihrer Läden erzielen und so schnell wie möglich auf Initiativen ihrer Wettbewerber reagieren, weil ihr Geschäftsmodell durch hohe Fixkosten und niedrige Margen gekennzeichnet ist. Wenn man großflächige Märkte betreibt, ist es sehr schwer, sich auf bestimmte Kundengruppen zu fokussieren. Man braucht so viele Shopper wie möglich in seinen Läden, weil die Betriebskosten einen hohen Fixanteil haben. Denn egal, ob viele oder wenige Kunden in den Laden kommen, die Betriebskosten variieren nicht sehr stark. Harddiscounter können es sich leisten, Kunden zu segmentieren, weil sie kleinere Läden managen, niedrigere Fixkosten haben und sich in Vierteln niederlassen, wo Kunden preissensibler sind. Hochklassige Händler wie Waitrose schaffen es, sich in etwas wohlhabenderen Gegenden anzusiedeln, wo sie für ihre Serviceleistungen auch höhere Preise verlangen können. Solche Konzepte sind in der Ausdehnung geografisch begrenzt und werden deshalb oft von kleineren Unternehmen geführt. Natürlich arbeiten auch die „Mainstream“-Händler an Themen wie Convenience und Service. Aber was sie machen, ist oft auch einfach zu kopieren. Zum Beispiel die Einführung von Einpackhilfen an den Kassen. Wenn dieser Service die Kunden nicht interessiert, bedeutet das Zeit- und Geldverlust für den Händler. Und wenn es funktioniert, hat der Wettbewerb das blitzschnell kopiert. Opfer des Geschäftsmodells Darüber hinaus: Kunden scheinen sehr wenig Wert auf manche Services zu legen. Nur eine Minderheit ist bereit, einen Aufschlag für angenehmere Einkaufserlebnisse zu zahlen. Das kann daran liegen, dass Einkaufen eine nur beiläufige notwendige Tätigkeit ist. Es kann auch sein, dass der Wert des Einkaufens im Wert der erstandenen Produkte liegt und dass das vernünftige Haupterlebnis darin besteht, ein tolles Produkt zum billigsten Preis zu finden. Auch in vielen anderen Märkten (Makler, Headhunter, Gebrauchtwagenverkäufer) werden die Kosten der Vermittler als lästig und zu minimierend angesehen und nicht als eigenständiges Honorar für eine Serviceleistung. Ein letzter Grund, warum Kunden die Handelsdienstleistungen nicht hoch bewerten liegt darin, dass genau diese Händler ihnen seit Jahrzehnten einreden, dass es immer nur um den Preis geht. Und jetzt? Die Kunden glauben ihnen! Um das Robin-Hood-Syndrom anzugehen, müssten Händler ihr Geschäftsmodell und ihre Betriebsführung grundlegend ändern, so viel ist klar. Sie müssen Wege finden, die Kunden und Shopper dazu zu bringen, für zusätzliche Services zu bezahlen, oder sie müssen diese komplett streichen und sich auf Effizienz und Kostenvorteile konzentrieren. Eine große Herausforderung. Mut zum Schlechtersein Händler wollen in der Regel jeden glücklich machen, was angesichts der heterogenen Kundenbasis offensichtlich unmöglich ist. Um herauszuragen, müssen die Unternehmen eine Wahl treffen. Denn es ist unrealistisch, in jeder Dimension exzellent zu sein: bei Preis, Sortiment, Service, Promotions, Ambiente, Freundlichkeit der Mitarbeiter und so weiter. Das führt unausweichlich zur Mittelmäßigkeit. Also wählen Sie Ihre Arena! Auch die größten Händler der Welt, Walmart und Tesco, stehen diesem Problem gegenüber. Während sie versuchen, überall gut zu sein, werden sie überholt von anderen Händlern, die sich explizit positioniert und spezialisiert haben. Bei all ihrer Macht und Größe haben sie in jüngster Zeit Profitprobleme. Um sich nachhaltig zu differenzieren, müssen Händler ihr Angebot glaubwürdig profilieren mit einigen herausragenden Attributen und einigen, die eben unter dem Durchschnitt liegen. Sie müssen den Mut aufbringen, in einigen Dimensionen schlechter zu sein als andere. Weil sie nicht in allem der Beste sein können. Manager anderer Branchen kennen das, aber Handelsmanager rollen die Augen und entgegnen, man verstehe das Wesen ihres Geschäftes nicht. In ihren Augen könne man nicht öffentlich zugeben, in einigen Feldern schlechter zu sein, weil das die Kunden davon abhalten würde, die Märkte zu besuchen. Das Wettrennen um Differenzierung ist die Achillesferse der Händler. Sie müssen den Mumm haben, auf einigen Feldern zurückzustecken, um all ihre Ressourcen darauf zu konzentrieren, in ausgewählten spezifischen Feldern, die für die Kunden wichtig sind, herausragend zu sein. lz 08-16 Aus: Marcel Corstjens, Penetration. The New Battle for Mind Space and Shelf Space, Amazon.de. 2015, 179 Seiten, 33,57 Euro. FOTO: MAURITIUS IMAGES/UNITED ARCHIVES W enn die Händler so mächtig sind, wie ist es dann möglich, dass ihre ökonomische Performance das nicht widerspiegelt? Die Antwort ist: Die Händler leiden unter dem Robin-Hood-Syndrom. Der englische Volksheld stahl das Geld von den Reichen und verteilte es an die Armen. Er selbst wurde als Freibeuter nicht reich, abgesehen davon, dass er die Lady Vorbild Robin Hood: bekam. Händler Der Handel nimmt es machen genau von der Industrie und dasselbe, nur gibt es den Konbekommen sie sumenten in Form von noch nicht mal niedrigen Preisen. eine Lady. Händler erbeuten beeindruckende Rabatte von ihren Lieferanten, späte Zahlungsziele und große Promotion-Budgets. Aber sie schaffen es nicht, diese Mittel zu behalten. Was sie stattdessen tun, ist das Geld, das sie fortlaufend von den Markeninhabern herausziehen, einfach an die Kunden weiterzugeben in Form von niedrigeren Verkaufspreisen, größeren Abschlägen und häufigeren Promotions. Wenn man die Vorteile, die man von seinen Lieferanten bekommt so vollständig nutzt, um Kunden in seine eigenen Läden zu locken, was bleibt dann unterm Strich übrig? Macht ist kein eindimensionales Konzept. Wir müssen zwei Arten von Macht unterscheiden: horizontale und vertikale. Die vertikale Macht haben Händler gegenüber ihren Lieferanten und sie erlaubt ihnen, substanzielle Vorteile zu verlangen und auch zu bekommen. Die horizontale Macht indessen ist die relative Macht gegenüber ihren Handelswettbewerbern. Aber diese Macht haben sie nicht wirklich. Für Kunden sind der Aufwand und die Kosten, zwischen Läden zu wechseln, sehr gering, sie sind nicht loyal. Das macht die von den Händlern durch ihre vertikale Macht hart erkämpften Vorteile zunichte. Den größten Teil müssen sie abgeben. Es sieht so aus, als ob sie im Auftrag der Konsumenten so hart verhandeln. Wie Robin Hood verhalten sie sich als Philanthropen. Oder wie Gewerkschaften, die für ihre Mitglieder (Konsumenten) Benefits von ihren Arbeitgebern (Markenhersteller) erstreiten. Sie tun genau das, was Regierungen vorgeben zu tun: Sie schützen die Konsumenten vor der Monopolmacht der Markenhersteller. Warum ist der Wettbewerb zwischen den Händlern so intensiv? Warum fehlt ihnen die horizontale Macht? Auch Hersteller konkurrieren sehr hart untereinander, aber dieser Wettbewerb führt weniger zu Werte-
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