Seite 1/2 Unterm Kastanienbaum Drei Tische hatte man

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Unterm Kastanienbaum
Drei Tische hatte man zusammengeschoben, sodass eine lange Tafel entstanden war. Dort war
es eben noch hoch hergegangen. Man hatte gegessen, geredet, der Pfarrer hatte sogar ein
wenig gelacht über einen Scherz, den sein Gegenüber gemacht hatte. Bis sich dann einer nach
dem anderen verabschiedet hatte, dringende Geschäfte standen an, ein Meeting, der
Zahnarzttermin, auf den man lange gewartet hatte, der Elternsprechabend, den man auf keinen
Fall versäumen durfte. Und der Pfarrer war ohnehin schon länger geblieben, als er vorgehabt
hatte. Hände wurden geschüttelt. Bis bald. Und rührt euch, wenn ihr Hilfe braucht.
Noch standen die Teller mit Resten der Mahlzeit auf dem Tisch. Zu zweit saßen sie nun da,
dunkel gekleidet trotz der Sommerhitze. Sie – ältlich und hager – tunkte die verbliebene
Sauerkrautsoße sorgfältig mit Brot auf, der Dicke neben ihr rückte seinen Teller in die Mitte
des Tisches, noch bevor er die letzten Fleischreste vom Knochen gelöst hatte. »So, das wäre
nun auch erledigt; endlich ist er unter der Erde«, er lehnte sich zurück, schob das Becken nach
vorn, öffnete den Hosenknopf überm prallen Bauch. Seine Rechte fingerte aus der
Hosentasche ein Stofftaschentuch, noch weiß, jedoch verknittert, mit dem er sich über die
schweißnasse Stirn wischte, während er gleichzeitig mit der linken Hand seine Krawatte
lockerte.
Sie saß kerzengerade, brockte ein weiteres Brotstück in die Brühe, spießte es mit der Gabel
auf und schob es in den Mund. Kauend blickte sie ins Geäst der Kastanie, deren Blätter sich
bereits braun kräuselten. Dürftigen Schatten nur bot der Baum an diesem Tag. Heiß war es.
Kein Grund aber, sich derart theatralisch über die Stirn zu wischen, wie er das soeben getan
hatte.
Unterm Kastanienbaum spielt ein Kind. Es kniet am Boden und malt Muster in den feinen
Kies.
Dass er den Vater nicht gemocht hatte, wusste sie seit Langem. Den Alten nannte er ihn
immer. Deshalb hatte sie ihm auch nie erzählt von den Ausflügen, die sie gemacht hatten, der
Vater und sie, während die Mutter mit dem kleinen Bruder zu Hause geblieben war. Die
Mutter, die nur wenig sprach und dem Buben stets Kekse in den Mund steckte.
Das Kind ist ganz in sein Tun vertieft, gleichmäßige Wellen malt es mit dem Zeigefinger in
den Kies und dann ein Schiff mit einem großen Segel.
Nur sie hatte der Vater mitgenommen, immer wieder, wenn er sich mit seinen Freunden traf,
manchmal auch war eine junge, blonde Frau mit dem Vater am Tisch gesessen. Die junge
Frau hatte ihr zugelächelt und der Vater hatte stolz zu ihr herübergeblickt.
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Wenn der Wind mit den Blättern spielt, lassen die Sonnenflecken das Schiff auf den Wellen
schaukeln.
Wie das Rauschen der Kastanienblätter im Wind, so stellte sie sich das Rauschen des Meeres
vor, das sie noch nie gesehen hatte.
Einmal wenn es groß ist, wird das Kind auf dem Schiff davonfahren, weit weg von hier und
weg von den Erwachsenen, die nichts wissen vom Meer.
»Warum starrst du denn dauernd auf diesen Baum?«, der Dicke wurde ungeduldig. »Kannst
du nicht einmal mit mir reden, wenigstens heute! Wir müssen schließlich einiges regeln, nun,
wo er nicht mehr da ist.«
Wir müssen gehen, Luise, sagt der Vater, nach Hause. Er steht vor dem Kind, sein Schatten
fällt auf das Meer, die Sonnenflecken sind verschwunden und das Schiff tanzt nicht mehr auf
den Wellen.
Die Frau griff zum Glas, trank den letzten Schluck Wasser, abgestanden war es und nicht
mehr kühl. Im Kies unter der Kastanie lagen die ersten braunen Blätter. Sie dachte an einen
Sommer vor langer Zeit, als die Kastanie grün war und der Traum vom Meer das Leben leicht
machte.
»Da hat er uns noch mal richtig zum Schwitzen gebracht, der Alte«, sagte der Dicke. »Und
kosten wird der Spaß hier auch eine ganze Menge. Fünfzehn Personen, das ist doch
übertrieben. Die hätte man nicht alle mitnehmen müssen. Noch dazu der Pfarrer – bestellt sich
Fisch und trinkt Wein dazu am hellichten Tag! Bier und Bratwürste wären billiger gewesen.
Warum musstest du ihn auch einladen? Der Alte ist schließlich nie in die Kirche gegangen,
hat sich immer nur in Kneipen rumgetrieben. Ja, dieser Biergarten, der hätte ihm vielleicht
gefallen. Schade eigentlich, dass er nie hier war. Komm, Luise, lass uns gehen!«
Der Dicke bot seiner Schwester den Arm und gemeinsam gingen sie zum Ausgang. Unter
ihren Füßen knirschte der Kies. Der Kies, auf dem der Vater einst stand, in dem Sommer vor
langer Zeit, als die Kastanie grün war und der Traum vom Meer noch möglich schien.
Obwohl sie vorsichtig auftrat, geriet ihr ein Steinchen in den Schuh und bohrte sich spitz in
ihre Ferse.